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„NSU 2.0“ Erneut führt die Spur von Drohmails zu einem Polizeicomputer

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In Sachsen-Anhalt ist eine Polizistin beurlaubt worden, die eine Brieffreundschaft mit dem Attentäter von Halle geführt haben soll. (Quelle: Flickr / kris krüg / CC BY-SA 2.0)

Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der Linken im Hessischen Landtag und aktiv gegen Rechtsextremismus, erhielt im Februar 2020 zwei Drohmails an ihre private Email-Adresse. Gespickt mit nationalsozialistischen Bezügen und unterschrieben mit „NSU 2.0“ enthielten diese neben üblen Beleidigungen und Morddrohungen auch private Informationen, die nicht öffentlich einsehbar sind. Zudem erweckt das Schreiben bewusst den Eindruck, dass der*die Absender*in der Polizei zugehörig sei. So wird von „innerdienstlichen Erkenntnissen“ geschrieben und eines „Tag X“ an dem die Polizei sie nicht mehr schütze. Auch die polizeiliche Aufklärungsgruppe zu rechtsextremen Verstrickungen wird beschimpft.

Drohungen nicht nur in Politsphäre alltäglich

„Es war eine klare Bedrohung gegen mein Leben“ sagt Wissler gegenüber der „dpa“. Im „RTL-Sommerinterview“ betont sie, dass solche Drohungen aber keinesfalls nur in der Politsphäre geschähen. Alltäglich würden vor allem Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und vermuteter Herkunft bedroht. Auch gegen rechts engagierte Menschen stünden stets im Zielfeld Rechtsextremer. Alle demokratischen Kräfte müssten daher zusammen den Kampf gegen die rechte Bedrohung verstärken, so Wissler weiter. Zumindest eine gemeinsame Solidaritätserklärung mit Wissler verfassten die demokratischen Parteien des hessischen Landtages.

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Wissler hatte die Drohungen im Februar der Polizei gemeldet aber nicht öffentlich gemacht. Nachdem die „Frankfurter Rundschau“ am 4. Juli erstmals darüber berichtete, wurden ihr zwei weitere solcher Schreiben geschickt. Diesmal streute der*die Verfasser*in sie weit, zum Beispiel auch an den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Ebenfalls die „Frankfurter Rundschau“ fand heraus, dass die privaten Informationen über Wissler ohne dienstlichen Grund von einem Polizeirechner abgefragt worden sein sollen. Nach „Spiegel“-Informationen soll ein Wiesbadener Beamter ermittelt worden sein, unter dessen persönlicher Kennung im Februar unter anderem Wisslers Privatadresse und Handynummer aus einem amtlichen Verzeichnis abgerufen wurden. Der Polizist sei vernommen worden, habe die Abfrage aber bestritten. Da man dem Beamten das Gegenteil nicht nachweisen konnte, werde er jetzt in den Akten offiziell als „Zeuge“ geführt, heiße es in Ermittlungskreisen. Eine Durchsuchung der privaten Datenträger des Beamten fand aber nicht statt.

Nicht das erste Mal, dass die Spur zur hessischen Polizei führt

All das klingt altbekannt, gab es doch einen äußerst ähnlichen Fall schon einmal vor zwei Jahren: Im August 2018 erhielt die Anwältin Seda Başay-Yıldız ebenfalls Drohschreiben, die neben Morddrohungen – auch gegen ihre Familie – und rassistischen Beschimpfungen persönliche nicht öffentlich zugängliche Daten enthielten und mit „NSU 2.0“ unterschrieben waren. Başay-Yıldız hatte im NSU-Prozess die Angehörigen des ersten Mordopfers, Enver Şimşek, vertreten. Bekannt wurde der Vorgang im Dezember 2018, seitdem erhielt sie über ein Dutzend solcher Schreiben, wie bei Wissler insbesondere auch in Folge vermehrter Thematisierung der Drohungen in Politik und Medien. Und ebenfalls führte die Spur zu einem Dienstrechner der Polizei in Hessen – in diesem Fall zum ersten Polizeirevier in Frankfurt am Main. Im weiteren Verlauf stießen die Fahnder*innen auch auf eine Gruppe von Polizist*innen des Reviers, die sich in einem internen Chat rechtsextreme Botschaften geschickt hatten. Im Rahmen der darauffolgenden Untersuchungen wurden mehr als 70 Bedienstete der hessischen Polizei zeitweise verdächtigt, sich in den vergangenen fünf Jahren rechtsextrem betätigt oder geäußert zu haben, wie kürzlich bekannt wurde. In der Mehrzahl der Fälle habe der Verdacht sich aber nicht erhärtet, in 30 Fällen wird die Anklagemöglichkeit noch geprüft. Bezüglich der Drohschreiben ermittelt die Staatsanwaltschaft allerdings seit Beginn vergeblich.

Der „Spiegel” berichtet, dass auch die Ermittler*innen nun davon ausgehen, dass die Drohmails gegen Seda Başay-Yıldız und Janine Wissler von derselben Person stammen, welche sich offensichtlich „extrem sicher“ fühle. Insgesamt werden ihr von der hessischen Polizei mittlerweile mehr als 50 Drohmails zugerechnet, die zum Teil an andere Politiker*innen, aber auch an Medien und Schauspieler*innen gingen. Die Spur der Absenderadresse verliere sich allerdings im Darknet, heiße es in Ermittlungskreisen.

Oft NS-Bezug: „Nationalsozialistische Offensive“, „Staatstreichorchester“ und „Wehrmacht“

Aber auch darüber hinaus sind derartige Drohschreiben alles andere als eine Seltenheit. Beispielsweise steht in Berlin momentan André M. vor Gericht. Er soll über 100 Drohmails unter dem Absender „Nationalsozialistische Offensive (NSO)“ verschickt haben, darunter auch Bombendrohungen an öffentliche Gebäude. Die Ermittler*innen gehen allerdings davon aus, dass er nicht allein handelte – auch da die Flut an Drohschreiben nach M.s Verhaftung nicht abriss. Mindestens eine weitere Person versandt unter dem Namen „Staatstreichorchester“ und „Wehrmacht“ weiterhin Nachrichten an Organisationen und Einzelpersonen (die „taz“ schrieb von insgesamt 350 Betroffenen). Der Kontakt kam wahrscheinlich über „Deutschland im Deep Web“ zustande – das Forum, in dem David  Sonboly – der rechtsextreme Attentäter vom Münchner Olympia-Einkaufszentrum – seine Waffe gekauft hatte.

Rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei?

Die Staatsanwaltschaft will sich zum aktuellen Fall der Drohmails gegen Janine Wissler aus ermittlungstaktischen Gründen nicht äußern, das hessische Innenministerium versichert aber, dass die Ermittlungen unter Hochdruck geführt würden. Zu direkten Konsequenzen in der Polizeidienststelle in Wiesbaden wurden keine Angaben gemacht. Die Regeln zur Abfrage am Polizeicomputer sollen nach hessischen Sicherheitskreisen aber weiter verschärft werden. Schon einmal versucht wurde 2019 dem Problem mit der Einführung von Stichprobenkontrollen beizukommen. Zuvor hatte ein Polizist aus Dieburg Informationen aus dem Polizeisystem abgefragt und an eine Frau aus der Neonazi-Kameradschaft „Aryans“ weitergegeben.

Der innenpolitische Sprecher der Linken-Landtagsfraktion, Hermann Schaus, erklärte am Donnerstag, offenbar sei „das rechte Netzwerk in der hessischen Polizei größer, als bisher von offizieller Seite eingeräumt“. Auch Hessens Innenminister Peter Beuth schließt ein solches nicht mehr aus. Es bleibt allerdings die Frage: Wie effektiv kann die immer wieder in rechtsextreme Skandale verwickelte hessische Polizei gegen sich selbst ermitteln? Bislang wurde diese Frage wenig überzeugend beantwortet. Das ist fatal, könnte es für Betroffene um Leben oder Tod gehen.

Update vom 14.07.20:

Nach einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ wurde nun bekannt, dass auch von der Kabarettistin İdil Baydar unbefugt persönliche Daten von einem Rechner der hessischen Polizei abgerufen wurden. Baydar wird ebenfalls seit Monaten mit rechtsextremen Schmäh- und Drohbriefen überzogen. Ebenfalls wurden weitere mit dem Kürzel „NSU 2.0“ unterzeichnete Drohschreiben gegen die Linken-Politikerinnen Martina Renner und Anne Helm bekannt.

Foto: Flickr / kris krüg / CC BY-SA 2.0

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