Die Abrechnung ist ein dicker Klopper aus Papier: 1.357 Seiten umfasst der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Seit seiner Einsetzung im Januar 2012 hat der Ausschuss untersucht, wie es zu den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds kommen konnte. Im Kern habe die entscheidende Frage, so der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD), gelautet: „Funktioniert der demokratische Rechtsstaat?“ Laut Edathy funktioniere dieser Rechtsstaat aufgrund zweier Versprechen: Zum einen dem Versprechen, dass die Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen geschützt würden, zum anderen dem Versprechen auf lückenlose und objektive Aufklärung, falls es doch zu einem Übergriff gekommen sei. „Beide Versprechen wurden gebrochen“, so der Ausschussvorsitzende.
Flächendeckendes Versagen
Das Ergebnis des Berichts ist angesichts der Medienberichterstattung, die es bereits in den vergangenen Monaten gab, keine Überraschung: Flächendeckendes Versagen lautet die Bilanz. Die Polizei hat an allen NSU-Tatorten einseitig ermittelt und dabei gar noch die Opfer diskreditiert, Verfassungsschützer haben die Gefahren des Rechtsextremismus systematisch heruntergespielt, Politikerinnen und Politiker sich in Desinteresse geübt. Doch obwohl man dies alles bereits weiß, entfaltet der Bericht beim Lesen Schlagkraft: weil er all diese Fehler, die Versäumnisse – eben das flächendeckende Versagen Seite um Seite um Seite aufführt. Hierzu passt die Einschätzung von Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung: „Der Abschlussbericht macht Angst. Er dokumentiert ein multiples Behördenversagen und durch Rassismus vorurteilsbeladene Sicherheitsstrukturen. Allzu deutlich wird, dass die Sicherheitsbehörden noch immer nicht in der Einwanderungsgesellschaft angekommen sind.“
Über alle Fraktionsgrenzen hinweg fiel das Urteil der Ausschussmitglieder einhellig aus. So erklärte Stephan Stracke (CSU), die Arbeit des Ausschusses habe eine „beschämende Niederlage der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden“ ergeben. Allerdings habe es keinen zentralen kausalen Fehler gegeben, sondern viele kleine Fehler, die dafür sorgten, dass der NSU so lange unerkannt morden konnte. Hier setzt die Kritik von NSU-Nebenklage-Vertreterinnen und -Vertretern an: Sie bemängelten in einer gemeinsamen Erklärung, der Ausschuss habe das zentrale Problem, nämlich „institutionellen Rassismus“ nicht erkannt.
Es ging nicht nur um Aufarbeitung
Bei aller Kritik am Abschlussbericht: Es bleibt ein bis dato einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Noch nie wurde ein Untersuchungsausschuss nicht als Kampfinstrument der Opposition gegen die Regierung benutzt, ganz im Gegenteil: Über alle Fraktionsgrenzen hinweg wurde der Ausschuss einhellig eingesetzt, in gleicher Einstimmigkeit wurden alle Anträge und Beweisbeschlüsse gefasst – und das über anderthalb Jahre. In dieser Zeit haben sie Fakten erfahren und Zeugenauftritte erlebt, die fassungslos machen: Da verkleideten sich Polizisten als Dönerverkäufer oder gaben sich als Journalisten aus, um die Morde aufzuklären; an anderer Stelle sollte ein Hellseher die Ermittlungen unterstützen. Da gab es Klaus-Dieter Fritsche, damals Vizepräsident des Verfassungsschutzes, der im Untersuchungsausschuss ein Sicherheitsrisiko sah und keine Zwischenfragen beantworten wollte. Und da waren die immer neuen Skandale um Akten: Mal musste der Untersuchungsausschuss wochenlang auf eben diese warten, dann wieder lohnte sich alles Warten nicht, weil die Dokumente bereits dem Schredder zum Opfer gefallen waren.
Trotz aller Widrigkeiten ist der Ausschuss dran geblieben – ein „Nie Wieder“ begleitete die Arbeit seiner Mitglieder: Nie wieder soll so etwas in Deutschland passieren. Verfassungsschutzämter dürfen nie wieder die Gefahr, die von militanten Neonazis ausgeht, verharmlosen. Polizistinnen und Polizisten dürfen nie wieder so einseitig und von Vorurteilen gelenkt ermitteln. So sagte auch Sebastian Edathy: „Bei unserer Arbeit ging es nicht nur um Aufarbeitung, sondern auch darum, dass wir nicht ausschließen können, dass sich wieder rechtsterroristische Strukturen in Deutschland bilden.“ Für diesen Fall müssten alle Stellen vorbereitet sein.
Die Empfehlungen im Überblick
Damit dieses „Nie wieder“ nicht zur Floskel verkommt, haben die Ausschuss-Mitglieder 47 gemeinsame Empfehlungen erarbeitet. Die zentralen Punkte darin lauten:
Polizei
Interkulturelle Kompetenz soll fester Bestandteil der Polizeiausbildung werden. Die Beamtinnen und Beamten sollen verpflichtet werden, auf rechtsextreme oder rassistische Motive zu ermitteln und diese Ermittlungen auch nachweisen müssen. Speziell geschulte Beamtinnen und Beamte sollen die Kommunikation mit Opfern und Angehörigen übernehmen. Zudem soll eine „Cold Case Unit“ Angehörigen der Opfer signalisieren, dass Verbrechen nicht einfach zu den Akten gelegt werden.
Die NSU-Mordserie soll Teil der polizeilichen Aus- und Fortbildung werden (ebenso bei der staatsanwaltlichen), um aus den Fehlern zu lernen.
Justiz
Der Generalbundesanwalt soll größere Spielräume bekommen. Zudem soll gesetzlich klarer geregelt werden, bei welchen Kapitalverbrechen der Generalbundesanwalt zuständig ist.
Verfassungsschutz
Vor allem das Bundesamt für Verfassungsschutz soll sich öffnen und die Erkenntnisse der Zivilgesellschaft berücksichtigen. Außerdem soll der Verfassungsschutz besser parlamentarisch kontrolliert werden. Auch hier soll die interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiter verbessert werden.
V-Leute
Das V-Leute-System soll nicht werden, aber reformiert werden: Aufwand und Risiko hätten im NSU-Fall in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn gestanden, so Clemens Binninger (CDU). Hier fordert der Untersuchungsausschuss klare Vorgaben hinsichtlich der „Auswahl und Eignung von Vertrauensleuten (u. a. bezüglich Vorstrafen), für deren Anwerbung und die Beendigung der Zusammenarbeit“.
Insbesondere bei den letzten beiden Punkten zeigen sich die Grenzen der Einigkeit innerhalb des Untersuchungsausschusses: Während die Linken das V-Mann-System sofort abschaffen und den Verfassungsschutz auflösen wollen, plädieren die anderen Parteien nur für eine Reform. Uneins sind sich die Fraktionen auch bei der Zukunft des Ausschusses: Während die FDP ihn in der neuen Legislaturperiode wieder einsetzen will, erklärte etwa Eva Högl, SPD-Obfrau, die Ausschussarbeit sei beendet. Kein Wunder also, dass Petra Pau (Die Linke) sagte, man habe bei den 47 gemeinsamen Empfehlungen lange gefeilt, „bis alle damit leben konnten“.
Ein Kraftakt, der uns bevorsteht
Doch was bleibt nun nach der Vorstellung des Berichts? Die Sorge von Eva Högl scheint nicht unbegründet, wenn sie im Interview mit netz-gegen-nazis.de sagt, sie habe Angst, dass die 1.357 Seiten in der Schublade verschwinden könnten. Denn nun befinden wir uns in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs – die Gefahr ist groß, dass eine tatsächliche Aufarbeitung der NSU-Verbrechen in den Hintergrund rückt. Denn klar ist auch, dass diese Aufarbeitung nicht mit der Arbeit des Untersuchungsausschusses endet. Vielmehr beginnt nun die eigentliche Kraftanstrengung: Anzuerkennen, dass das übergeordnete Thema Rassismus lautet und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Die Umsetzung der Ausschussempfehlungen kann dabei nur ein erster Schritt sein. Es muss zu einem Umdenken aller entscheidenden Stellen kommen. Doch Sebastian Edathy hat Recht, wenn er sagt: „Denkweisen zu verändern wird uns viel länger beschäftigen, als Gesetze zu verändern.“ Ein Kraftakt, der uns bevorsteht – der aber bitter nötig ist, wenn man sieht, dass rechtsextreme Gewalt immer noch Teil unseres Alltags ist. Tag für Tag kommt es zu Neonazi-Übergriffen – deren Zahl ist im vergangenen Jahr sogar noch einmal gestiegen. Die rassistische Diskussion um Flüchtlingsheime etwa in Berlin-Hellersdorf macht deutlich, dass es dabei noch ein weiter Weg ist. Hier müssen wir alle sensibler und wehrhafter werden: Es sollte zur Selbstverständlichkeit werden, sich deutlich gegen Menschenfeindlichkeit zu positionieren, egal wo und in welcher Situation. Es wäre eine gute Lehre, die wir aus den grausamen Verbrechen des NSU zögen.
Mehr Informationen:
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