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NSU Ein Jahr nach dem Urteil – „Sie wissen, dass der Staat sie nicht schützt“

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Am 11.07.2018, demonstrierten Angehörige, Anwält*innen und Unterstützer*innen für eine Aufklärung des NSU-Komplexes. (Quelle: Michael Trammer)

Ein Jahr nach dem Urteilsspruch ist die Gefahr rechten Terrors wieder alltäglich und weist deutliche Parallelen zum NSU-Komplex auf, wie die Beispiele um das Netzwerk Hannibal und Uniter e.V. in der Bundeswehr, rechtsextreme Netzwerke in der hessischen Polizei, die anhaltenden Bedrohungen gegen die Anwältin Başay-Yıldız, der Anschlag am Hamburger Veddel, Recherchen um die Gruppe Nordkreuz, die Anklage gegen die Gruppe Revolution Chemnitz und der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigen.

Rachel Spicker sprach mit Justyna Staszczak von der Beratungsstelle response für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Hessen, Patrycja Kowalska, Sprecherin des bayerischen Bündnisses Gegen Naziterror und Rassismus und Robin Steinbrügge von der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü über die Arbeit nach dem Urteil im ersten NSU-Prozess, die Kontinuität rechter und rechtsterroristischer Gewalt und was das für Betroffene bedeutet.

Belltower.News: Wie waren eure ersten Reaktionen auf das Urteil und welche Auswirkungen hat das Urteil im ersten NSU-Prozess für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt?
Justyna Staszczak: Für die Betroffenen, Angehörigen und Hinterbliebenen war das Ende des Prozesses sehr schmerzhaft. Unser Eindruck war, dass es dabei nicht primär um das Urteil ging, sondern vielmehr um die Enttäuschung über den Verlauf und das Ergebnis des Prozesses. Mir ist besonders der Satz von Ayşe Yozgat, Mutter des ermordeten Halit Yozgat, im Gedächtnis geblieben. Im Plädoyer wandte sie sich an das Gericht mit den Worten: „Sie waren meine letzte Hoffnung, mein Vertrauen. Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert. Es gibt kein Ergebnis.“ Das Wissen und die Perspektive, die die Familie Yozgat bereits 2006 gemeinsam mit den Familien Simşek und Kubaşik unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ auf die Straße getragen haben, wurde weder anerkannt noch gehört. Schon damals sprachen sie von einer Mordserie und wiesen auf ein mögliches rassistisches Motiv hin. Für den Tatort Kassel ist klar, dass die Frage nach der Verwicklung des Verfassungsschutzes, die Rolle Andreas Temmes, immer noch nicht aufgeklärt ist. Daran hat auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss in Hessen nichts geändert.

Patrycja Kowalska: Natürlich waren wir wütend über das Urteil. Das Urteil im NSU-Prozess war der politische Freispruch des Unterstützungsnetzwerks. Elif Kubaşık, die Witwe des ermordeten Mehmet Kubaşık, brachte es kurz nach Urteilsverkündung auf den Punkt: Vielen Dank an das Gericht. Vielen Dank, dass Sie mir einen weiteren schweren Schlag versetzt haben. Und zwar einen Schlag mit den niedrigen Strafen insbesondere für Eminger und Wohlleben. Einen Schlag für mich und eine weitere Ermutigung der Dortmunder Naziszene, mit der ich alltäglich zu tun habe. (…) Ich, Elif Kubaşık, reagiere hier im vollkommenen Unverständnis auf diese Art des Urteils.

Denn was bedeutet es anderes, wenn für André Emingers 13-jährigen Tatbeitrag lediglich zweieinhalb Jahre verhängt werden? In der niedrigen Strafzumessung relativiert das Gericht die Taten und minimiert die Chancen auf weitere Verfahren. Dies zeigt sich auch im Umgang mit den noch laufenden Ermittlungen gegen mutmaßliche Unterstützer*innen des NSU durch den Generalbundesanwalt: Die Ermittlungen verlaufen im Sande. Es wird nicht versucht dem Versprechen der „lückenlosen Aufklärung“ folge zu leisten. Das Urteil und die fehlende Strafverfolgung sind das Bestreben mit aller Kraft an der Trio-These festzuhalten. Das hat Signalwirkung auf die rechte Szene, das Unterstützungsumfeld und weitere potenziell rechtsterroristische Gewalttäter*innen: Sie wissen, sie haben nichts zu befürchten. Deshalb agieren Teile des NSU-Netzwerks und andere rechtsterroristische Strukturen völlig unberührt weiter – trotz Mega-Verfahren, trotz etlicher Untersuchungsausschüsse und antifaschistischer Enttarnungen. Aber die letzten Jahre haben uns auch gezeigt, dass es eine unheimliche Kraft und Solidarität engagierter Menschen gibt, die viele Erkenntnisse im NSU-Komplex erst ans Licht gebracht haben. Das gibt Hoffnung für die weitere zivilgesellschaftliche Aufarbeitung. Denn „Kein Schlussstrich“ war keine bloße Forderung, sondern ein Versprechen.

Robin Steinbrügge: Die Enttäuschung über das Prozessende hat tiefe Spuren hinterlassen. In Hamburg gab es dieses Jahr keine öffentliche Gedenkveranstaltung. Die Familie von Süleyman Taşköprü wollte im Stillen ihrem Sohn, Bruder und Vater gedenken. Besonders schmerzhaft für die Hinterbliebenen und Angehörigen bei der Urteilsverkündung war auch, dass Neonazis auf der Tribüne in Jubel ausbrachen und die Angeklagten André Eminger und kurze Zeit später Ralf Wohlleben den Gerichtssaal freudestrahlend auf freiem Fuß verlassen durften. Dennoch hat uns die Teilnahme so vieler Menschen an den Kundgebungen in Hamburg am Tag der Urteilsverkündung ermutigt. Wir haben in unserem Redebeitrag vor einem Jahr deutlich gemacht: „Das Ende des Münchener Prozesses ist für uns kein Ende der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit rassistischen Kontinuitäten, rechtem Terror und dem NSU-Komplex. Es ist kein Ende des Erinnerns und kein Schlussstrich. Wir fangen gerade erst an.“

Wie sieht eure Arbeit ein Jahr nach der Urteilsverkündung aus?

Patrycja Kowalska: Derzeit versuchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit auf den vergessenen Anschlag des NSU zu richten: Vor 20 Jahren, am 23. Juni 1999, verübte der NSU in Nürnberg ein Rohrbombenattentat in der Pilsbar „Sonnenschein“. Der Betreiber Mehmet O. fand die als Taschenlampe getarnte Bombe. Sie explodierte in seinen Händen, er erlitt Schnitt- und Schürfwunden am ganzen Körper. Wie später bei allen anderen rassistisch motivierten Taten des NSU schlossen die Ermittler ein solches Motiv weitestgehend aus. Stattdessen beschuldigten sie ihn des Versicherungsbetrugs und stellten die Ermittlungen nur ein halbes Jahr nach dem Anschlag ein. Mehmet O. fühlte sich nicht sicher in Nürnberg, litt zunehmend unter Angstzuständen und sah sich gezwungen, die Stadt zu verlassen. Im Juni 2013 erweiterte der Angeklagte Carsten Schultze beim NSU-Prozess seine Aussage und berichtete, dass die beiden Uwes damit prahlten, dass eine Taschenlampe in einem Geschäft abgelegt wurde. Journalist*innen fanden heraus, dass es sich um einen ungeklärten Anschlag in der Nürnberger Scheurlstraße handeln muss. In den darauffolgenden Ermittlungen wurde Mehmet O. zur erneuten Befragung geladen. Er schaute sich Fotos von 115 Tatverdächtigen im NSU-Komplex an und erkannte dort eine enge Bezugsperson von Beate Zschäpe mehrfach wieder: Susann Eminger. Sie lieh Zschäpe beispielsweise ihre Identität, damit sie zum Arzt gehen konnte. Die Generalbundesanwaltschaft entschied aus „verfahrensökonomischen Gründen“, den Nürnberger Anschlag nicht in die Anklage aufzunehmen. Bis ein engagiertes Team des Bayrischen Rundfunks und der Nürnberger Nachrichten Mehmet O. 2018 ausfindig machte und ihn um ein Interview bat, wusste er nichts davon, dass er ein Überlebender des NSU-Terrors ist. Die neuen Erkenntnisse hatten ihm die Ermittlungsbehörden verschwiegen. Zum ersten Mal kann Mehmet O. heute seine Geschichte erzählen und wird gehört.

Robin Steinbrügge: Auch wir fordern immer noch die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg. Es ist das einzige Bundesland mit NSU-Tatort ohne parlamentarische Aufarbeitung. Die Fragen „Wie und von wem wurde Süleyman Taşköprü ausgewählt? Was wusste das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz? Warum wurde ein rassistischer Hintergrund als Tatmotiv nicht verfolgt?“ sind nach Ende des Prozesses nicht beantwortet. Der Bruder des Ermordeten, Osman Taşköprü, hat während der „Kein Schlussstrich“ Kampagne letztes Jahr betont, dass er sich einen Aufschrei in Hamburg wünsche – bisher fehlt der politische Wille zur Aufklärung in Hamburg. Da bleiben wir natürlich dran. Und es ist unser Ziel, Rassismus als Kontinuität in Hamburg sichtbar zu machen und langfristig in die Geschichtsschreibung der Stadt zu intervenieren. Deshalb arbeiten wir intensiv daran, antirassistische Initiativen und Initiativen von Betroffenen mehr miteinander zu vernetzen. In Hamburg gibt es eine traurige Kontinuität rassistischer Gewalt und rechten Terrors. Neben dem Mord an Süleyman Taşköprü gab es beispielsweise die Morde an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, an Adrian Maleika und Ramazan Avci aber auch den vermeintlichen Suizid von Yaya Jabbie. Erst dieses Jahr, am 21. April, ist William Tonou-Mbobda durch den Sicherheitsdienst am Universitätsklinikum Eppendorf mutmaßlich durch rassistische Motive gewaltsam zu Tode gekommen. Wir arbeiten mit anderen Gedenkinitiativen zusammen und wollen Betroffene unterstützen, sich auszutauschen und ihre Erfahrungen miteinander zu teilen. Vor kurzem hat sich eine Initiative zum Gedenken an Semra Ertan gegründet, die sich 1982 aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in der BRD selbst verbrannte. Wir versuchen zusammen zu kommen und den Kampf gegen Rassismus als gemeinsames Anliegen zu betrachten.

Justyna Staszczak: In Hessen beobachten wir, dass rechte Akteur*innen zunehmend selbstbewusster auftreten und das geht mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft einher. Unser Beratungsspektrum reicht von Bedrohungen, Anfeindungen und körperlichen Angriffen, wie z.B. mehrere mutmaßlich rechtsmotivierte Brandanschläge auf linke Wohnprojekte, eine Würgattacke auf einen Gewerkschaftler, rassistische Angriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zu Morddrohungen. Der Mord an Walter Lübcke zeigt auf traurige Art und Weise die unzureichende Aufarbeitung der mutmaßlichen Netzwerke des NSU in Hessen. Zusätzlich ist das Vertrauen in Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden erschüttert. Betroffene berichten uns, dass sie sich bei der Polizei nicht ernst genommen fühlen, wenn sie rechte Bedrohungen und Angriffe melden. Auch bleiben ihre Fragen zur Einschätzung eines Sicherheitsrisikos häufig unbeantwortet. Das erhöht die Gefahr von Retraumatisierungen und bagatellisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt gesamtgesellschaftlich.

Wo seht ihr Parallelen und Kontinuitäten zwischen den Taten des NSU und rechtem Terror heute?
Patrycja Kowalska:
Recherchen verschiedener Medien und des antifaschistischen Recherchekollektivs Exif beweisen, dass der mutmaßliche Mörder Lübckes über Jahre hinweg mit Personen aus dem NSU-Netzwerk in Kontakt war. Ein Beispiel dafür ist der bekannte Combat 18-Funktionär Stanley R. Combat 18 labelt sich selbst als „Terrormaschine“ und militanter Arm des „Blood & Honour“-Netzwerks. Es handelt sich also um die Neonazi-Strukturen, aus denen der NSU ideologisch und strukturell gewachsen ist. Dass die C18-Strukturen massiv vom Verfassungsschutz durchsetzt sind, zeigen die bisherigen Erkenntnisse aus dem NSU-Komplex. Stephan E. war zudem auch Thema im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Er wurde als besonders gefährlich und als potenzieller Rechtsterrorist eingeschätzt. Der Verfassungsschutz aber hatte E. angeblich seit 2009 nicht mehr auf dem Radar. Im Zuge der jüngsten Ermittlungen meldete der Verfassungsschutz, es werde eine dreistellige Zahl an V-Männern nach Stephan E. befragt. Die Kompetenzen des Verfassungsschutzes wurden trotz der Verwicklungen im NSU-Komplex erweitert. Rechten Terror verhindert der Inlandsgeheimdienst weiterhin nicht. Es scheint, das NSU-Umfeld hat „das Erbe“ des NSU und sein Leitmotiv „Taten statt Worte“ weitergeführt. Denn Walter Lübckes Name war auf der so genannten „10.000 Liste“ des NSU vermerkt. Die Todesliste mit 10.000 Namen wurde nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 gefunden. Bereits vor 2011 hatte also das NSU-Netzwerk Walter Lübcke als potentielles Opfer geführt.

Justyna Staszczak: Es stellt sich natürlich schon die Frage, gibt es einen Zusammenhang zwischen fehlender Aufklärung und der Fortsetzung der Gewalt? Hätte das verhindert werden können? Gab es Hinweise? Der Mord an Walter Lübcke erinnert an die Morde des NSU. Darüber hinaus gibt es seit knapp einem Jahr die anhaltenden Drohungen gegen Seda Başay-Yıldız, eine der Nebenklagevertreterinnen im NSU-Prozess, und ihre Familie, die mit der „Unterschrift NSU 2.0“ gezeichnet sind. Die Ermittlungen ergaben bisher, dass die persönlichen Daten aus dem Drohschreiben von einem Dienstcomputer in einem Frankfurter Polizeirevier abgerufen wurden. Mittlerweile wird gegen 38 Beamt*innen wegen Rechtsextremismusverdachts ermittelt. Auch hier sprechen viele wieder von einer mutmaßlichen Verwicklung staatlicher Ermittlungsbehörden in rechtsextreme Strukturen. Die Drohungen des „NSU 2.0“ gehen indes weiter.

Robin Steinbrügge: In Hamburg wurde letztes Jahr der Bombenanschlag auf dem S-Bahnhof Hamburg Veddel vor Gericht verhandelt. Der Täter deponierte einen mit Schrauben gefüllten Sprengsatz am 17. Dezember 2017 auf dem Bahnsteig, er explodierte kurz nach Einfahrt der S-Bahn. Wie durch ein Wunder wurde ein Passant von der Stichflamme verfehlt, aber ein anderer erlitt ein Knalltrauma mit vorübergehendem Hörverlust auf dem linken Ohr. In diesem Fall gibt es mehrere Parallelen zum NSU. Zunächst die Tat selbst: Die Zündung eines Sprengsatzes mit Schrauben in einem migrantisch geprägten Stadtteil, erinnert an die rassistischen Anschläge in der Keupstraße durch den NSU 2004 und an den Anschlag auf dem S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn 2000. Antifaschistische Recherchen haben auf die neonazistische Biografie des Täters hingewiesen, er hatte 1992 zusammen mit einem Neonazi-Funktionär Gustav Schneeclaus ermordet, nachdem dieser Hitler als den größten Verbrecher bezeichnet hatte. Wie beim NSU haben sowohl Polizei als auch Medien ein rechtes Tatmotiv verneint mit der Ansage, er wäre nicht mehr in der Neonaziszene organisiert und nur noch „Trinker“. Zusätzlich wurde die gesellschaftliche Dimension der Tat in der Berichterstattung verharmlost und entpolitisiert, indem über einen Alkoholiker berichtet wurde, der mit „Polenböllern“ hantiert habe. Antifaschistischen Recherchen und unabhängiger Prozessbeobachtung ist es zu verdanken, dass das rechte und rassistische Tatmotiv im Prozess thematisiert und von der Richterin in der Urteilsbegründung berücksichtigt wurde.

Was bedeutet der mutmaßlich rechtsextreme Mord an Walter Lübcke für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt?
Robin Steinbrügge:
Rechte Gewalttaten und rechtsterroristische Taten sind immer als Botschaftstaten zu verstehen. Das heißt, Betroffene werden stellvertretend für eine Gruppe wahrgenommen und deshalb angegriffen. Das führt dazu, dass Angehörige dieser Gruppe sich ebenfalls unsicher fühlen. Sie wissen, dass sie gemeint sind. Und sie wissen mittlerweile auch, dass der Staat sie nicht schützt. Diese Erkenntnis ist unglaublich schmerzhaft. Sie bedeutet aber auch, dass sich Betroffene und solidarische Menschen selbst organisieren und sich gegenseitig unterstützen. Über die Jahre haben Betroffene so unglaublich viele Kompetenzen und Ressourcen entwickelt und daran wollen wir mit unserer Arbeit anknüpfen.

Justyna Staszczak: In der Beratungsarbeit beobachten wir, dass die Frage nach der eigenen Sicherheit noch dringender wird. Menschen, die bereits Bedrohungen erlebt haben, stellen sich die Fragen: wie schätze ich jetzt diese Gefahr, die von diesen Bedrohungen ausgeht, ein? Wie viel Gewaltpotential steckt dahinter, wenn ich jetzt sehe, dass jemand bedroht und dann auch ermordet wurde? Diese Ungewissheit, dass rechte Netzwerke in Kassel und Umgebung und auch der NSU-Komplex nicht aufgeklärt wurden, erschüttert Betroffene erneut. Sie fragen: kann es sein, dass ich den Mittätern an dem Mord von Walter Lübcke oder den NSU-Unterstützern über den Weg laufe, wenn ich durch die Kasseler Innenstadt laufe? Es sind dieselben Fragen, die auch Elif Kubaşik, Witwe des ermordeten Mehmet Kubaşik, in ihrer persönlichen Ansprache während der Nebenklageplädoyers im NSU-Prozess stellte: „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund.“

Patrycja Kowalska: Nach dem Mord an Walter Lübcke wird von einer neuen Dimension rechter Gewalt gesprochen. Das ist nicht nur faktisch falsch. Es bedeutet die fehlende Anerkennung der vielen Todesopfer und Betroffenen rechter Gewalt und die Verharmlosung der Kontinuität rechten Terrors. Den Mord an Lübcke gilt es genau in diesen Kontext zu stellen: Als Stephan E. 1992 den Bombenanschlag auf die Geflüchtetenunterkunft unternahm, lautete die Parole des Mobs „Das Boot ist voll“. In Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda wurden Menschen verletzt oder getötet.  20 Jahre später schreit der Mob „Volksverräter! Merkel muss weg! Wir sind das Volk!“ und Stephan E. tötet – aller Wahrscheinlichkeit nach – den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Es geraten vermehrt auch diejenigen in den Fokus rechten Terrors, die aus verschwörungstheoretischen und rassistischen Motivationen für den „Volkstod“ und die „Umvolkung“ verantwortlich gemacht werden. Lübcke wurde bei Pegida und in den Sozialen Medien genau dafür zum Symbol gemacht. Während die tagtägliche Gewalt gegen Geflüchtete und migrantisch gelesene Menschen andauert, geht es nun auch verstärkt um die Jagd auf den politischen Feind, auf Unterstützer*innen von Geflüchteten, auf Antirassist*innen und Antifaschist*innen. Genau das wird in rechtsterroristischen Strategien propagiert: Botschaftsmorde sollen Nachahmer animieren, um vom imaginierten „Vorbürgerkiegsszenario“ zum „Tag X“ zu kommen, dem Tag des faschistischen Umsturzes.  Vorbereitungen dafür werden aktuell rund um das Hannibal-Netzwerk in der Bundeswehr, bei der Gruppe Nordkreuz und Uniter e.V. deutlich.

Welche Forderungen ergeben sich für euch aus der weiteren Auseinandersetzung mit Rechtsterrorismus und dem NSU-Komplex?
Justyna Staszczak: Aus unserer Perspektive sind jetzt drei Punkte enorm wichtig: Erstens braucht es endlich einen Paradigmenwechsel im Umgang mit rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und rechtem Terror. Die Perspektive von Betroffenen und ihre Erfahrungen und Forderungen müssen in den Fokus gerückt werden, was die Bekämpfung und Aufklärung von rechter Gewalt und Rechtsterrorismus angeht. Sie brauchen das Signal, dass ihr Wissen und ihre Expertise gehört wird und sie nicht allein sind – und vor allem vor rechter Gewalt geschützt werden. Zweitens braucht es eine Entwaffnung von Neonazis und die Offenlegung der NSU-Akten. In Hessen sind Berichte des Verfassungsschutzes zu Neonazistrukturen für 120 Jahre gesperrt. Der Innenminister will zwar die Sperrfrist auf 30 Jahre senken, das reicht nicht, wir brauchen eine sofortige Freigabe. Drittens muss jede einzelne Person und Institution von Behörden darüber informiert werden, wenn ihr Name auf so genannten „Todes- oder Feindeslisten“ der mutmaßlich rechten Terrornetzwerke steht. Betroffene müssen die Möglichkeit haben, von den Sicherheitsbehörden umfassend informiert zu werden und ihre Gefährdungslage selbst einschätzen zu können.

Patrycja Kowalska: Unsere Forderungen, die wir im Rahmen der Kampagne „Kein Schlussstrich“ vor einem Jahr stellten, sind immer noch aktuell: Fünf der zehn NSU-Morde und ein Bombenanschlag wurden in Bayern verübt. Es ist bekannt, dass das Kerntrio nach Bayern beste Kontakte hatte. Der Generalbundesanwalt hat bis heute keine weiteren Unterstützer*innen angeklagt. Und der bayerische Untersuchungsausschuss 2013 konnte die Fülle an Fragen, die sich heute stellen, schon damals nicht beantworten. Es braucht einen weiteren Untersuchungsausschuss, um neue Erkenntnisse und insbesondere den bisher ungeklärten Bombenanschlag in Nürnberg von 1999 aufzuarbeiten. Gleichzeitig möchte ich mich den Forderungen der Kolleg*innen von NSU-Watch anschließen: Neonazis müssen entwaffnet werden und alle Akten aus dem NSU-Komplex endlich offen gelegt werden. Außerdem brauchen wir eine unabhängige Aufklärung von Rechtsterrorismus durch zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir bleiben dabei: Kein Schlussstrich!

Robin Steinbrügge: Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln, hat in einem Interview zum Mord an Walter Lübcke gesagt, „Wenn man unser Wissen endlich wahrnehmen würde, könnten wir alle besser leben.“ Das Wissen, die Kompetenzen und die Ressourcen sind da, das haben wir in der zivilgesellschaftlichen Bearbeitung des NSU-Komplexes gesehen aber auch bei anderen Fällen rassistischer Gewalt. Dieses Wissen muss nicht nur bei der Aufklärung eine Rolle spielen, sondern beispielsweise im medialen Umgang Beachtung finden. Zusätzlich brauchen wir eine Verbesserung des Opferschutzes und Entschädigungen für Angehörige und Überlebende des NSU-Komplexes sowie finanzielle Unterstützung der selbstorganisierten Arbeit Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Und nicht zuletzt heißt Erinnern auch Aufklären, dazu muss sich das Gedenken an den Wünschen und Bedürfnissen der Angehörigen und Opfer orientieren.

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