Derzeit vergeht kaum ein Tag ohne einen neuen, erschütternden Skandal. Erst verschweigt der Militärische Abschirmdienst (MAD) die Existenz von Akten zum NSU-Terroristen Uwe Mundlos. Jetzt wird auch noch bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt (LKA) Thomas S., Ex-Freund von Beate Zschäpe und zum Umfeld der Terrorzelle gehörig, als V-Mann geführt haben soll. Schlimmer noch: Thomas S. soll sogar Hinweise geliefert haben, die mitunter zur Ergreifung des Terrortrios führen und damit womöglich sechs Morde hätten verhindern können. Damals wie heute wurden die Informationen aber nicht weitergegeben und Maßnahmen gleich ganz ausgelassen, der NSU konnte also weiter ungestört morden.
Ermittlungsfehler, die schockierend, erschütternd, unbegreiflich sind
Das, was im Moment bei den Ermittlungen zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ tagein, tagaus bekannt wird, ist schockierend, erschütternd, unbegreiflich – und macht einfach nur fassungslos. Niemals zuvor hätte man etwas Derartiges auch nur ansatzweise für möglich gehalten. Zwar war es bei weitem kein Geheimnis, dass Neonazis prinzipiell in den Untergrund gehen und Anschläge verüben können. Doch dass sich die Sicherheitsbehörden dabei zumindest als unfreiwillige, reichlich naive Komplizen erweisen, erschien in dieser Dimension undenkbar.
Wie aus dem Drehbuch eines schlechten Films
Aber der Skandal rund um den NSU begann eigentlich viel früher, noch lange bevor die Rechtsextremist*innen untergetaucht sind und die ersten Morde begangen haben. 1998 durchsuchten in Jena Beamt*innen der Polizei eine Garage, die den drei Neonazis der NSU wohl als Bombenwerkstatt gedient hatte. Während die Polizist*innen gerade dabei sind, die entdeckten, funktionstüchtigen Bomben sicherzustellen, kann sich das NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt mit seinem Auto ungehindert vom Tatort entfernen. Wenig überraschend, dass der später erlassene Haftbefehl nicht mehr vollstreckt werden konnte – die Rechtsterrorist*innen waren zu diesem Zeitpunkt nämlich schon verschwunden und führten seither ein Leben im Untergrund. Was klingt wie aus dem Drehbuch einer schlechten Komödie über unfähige Polizist*innen – aber es ist bittere Realität. Danach sollte niemand mehr auf die Spur der drei Rechtsterrorist*innen kommen, obwohl das Trio einen Sprengstoffanschlag beging, mehrere Banken überfallen hat und insgesamt zehn Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet auf brutal Art und Weise ermordet hat.
Die Ermittlungen: Ein Spiegelbild des Alltagsrassismus
Deutlich gesteigert hat sich dieser Skandal nochmals, als der NSU damit begonnen hatte, Bürger*innen mit Migrationshintergrund zu töten. Denn anscheinend ist die Polizei trotz dieser Auffälligkeit vielerorts nicht einmal auf die Idee gekommen, Zusammenhänge herzustellen. Stattdessen begannen die Behörden damit, den Ruf der Opfer und auch deren Hinterbliebenen – getreu rassistischer Stereotype – in den Dreck zu ziehen. Kurzerhand wurden deshalb aus unbescholtenen Bürgern potenzielle Kriminelle gemacht, denen gar eine eigene Schuld an ihrem Tod zugeschrieben wurde. Ein möglicher rechtsextremer Tathintergrund wurden kaum in Erwägung gezogen und nicht verfolgt. Kurz gesagt: Der Umgang der Behörden mit den Opfern und deren Hinterbliebenen war menschenundwürdig. Als hätte es nicht schon gereicht, dass die Polizei eine ergebnisoffene und sachliche Ermittlungsarbeit vermissen ließ, kamen auch noch die Medien dazu, die den Opfern das Menschsein aberkannten und sie in ihrer Berichterstattung zu „Dönern“ machten.
Doch ein derartiger Umgang mit Opfern rechter Gewalt ist in Deutschland leider kein Novum. Landauf, landab finden sich identische Berichte. Entweder werden die Opfer – wie bei den Ermittlungen zu den Taten des NSU – selbst zu Täter*innen stilisiert, oder ein rechtsextremer Tathintergrund bewusst verschleiert. Beispielsweise wird aus einem Angriff einer Gruppe Neonazis auf alternative Jugendliche im Polizeibericht einfach eine „Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Jugendgruppen“ gemacht. Die Statistik und der Ruf einer Stadt werden dadurch geschönt, eine Auseinandersetzung mit der Problematik „Rechtsextremismus“ unterbunden. Das behindert auch zivilgesellschaftliche Initiativen in ihrer bedeutenden Arbeit massiv. Immer wieder gibt es zudem Berichte, wonach die Polizei das Interesse an einer Ahndung rechtsextremer Straftaten gänzlich vermissen lässt.
In Thüringen geht die mangelnde Aufklärungsbereitschaft weiter
Gerade in Thüringen wird das im Moment wieder deutlich. Insbesondere Erfurt steht in der letzten Zeit wegen rechtsextremen Übergriffen sowohl regional als auch überregional in den Schlagzeilen. Während Anwohner*innen von einem „Bedrohungspotenzial“ berichten und zivilgesellschaftliche Initiativen Alarm schlagen, verneint die Polizei ein Problem mit Neonazis in der Thüringer Landeshauptstadt bislang aber vehement. Stattdessen ist die Rede von Delikten, die dem Bereich „Straßenkriminalität“ zuzuordnen seien. Ein rechtsmotivierter Tathintergrund käme womöglich in Betracht und müsse geprüft werden, ist häufig zu hören. Was klingt wie ein Grenzfall, sind zumeist ganz eindeutige Angelegenheiten. Alleine ein Blick in die Chronik der Opferberatungsstelle „ezra“ reicht aus, um dies festzustellen. Neben dem Überfall auf eine Kunstausstellung in Erfurt mit mehreren Verletzten finden sich dort auch Einträge, die von einem Angriff eines Neonazis auf eine Gruppe Jugendlicher berichten, in dessen Verlauf später ein Rechtsextrer sogar versucht hatte, einen Jungen mit einem Messer anzugreifen. Nur durch die eintreffenden Beamt*innen konnte schlimmeres verhindert werden. Ein anderer, nicht minder schockierend Fall: Neonazis greifen zwei Personen an, die dadurch Verletzungen erleiden, die in einem Krankenhaus behandelt werden müssen. Wenn man die Liste, die sich an dieser Stelle noch beliebig fortführen lassen würde, in Zusammenhang mit der Aussage der Polizei betrachtet, so offenbart sich sehr deutlich ein bekanntes Phänomen. Auch wenn die Anhaltspunkte noch so deutlich sind, die Behörden liefern sich immer wieder epochale Fehleinschätzungen. Ob das nun ein politisches Kalkül der betroffenen Orte oder Städte ist, um die Zahl rechtsextremer Straftaten kleinzuhalten, sei dahingestellt. Aber es ist auf jeden Fall ein negatives Signal gegenüber den Opfern rechter Gewalt, die sich durch derartige Einschätzungen zweifelsohne im Stich gelassen fühlen werden.
Und Erfurt ist in Thüringen beileibe nicht das einzige Beispiel. Nordhausen geriet zuletzt durch aufmerksame Journalist*innen in den Fokus der Medien. Wie der Blog „Störungsmelder“ berichtet hatte, setzen sich die Neonazis in dem Ort nach und nach fest. Es gab einen Angriff auf den mittlerweile ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, immer wieder taucht rechtsextreme Propaganda auf und die Autonomen Nationalist*innen sind dort sehr aktiv – und schaffen es, sich zusehends zu verwurzeln. Laut einem Störungsmelder-Artikel geht dies sogar soweit, dass ein junger Neonazi bei der Stadtverwaltung von Nordhausen als Mitarbeiter beschäftigt ist. Widerstand vor Ort bleibt dagegen zumeist aus, ein Problem wird – wie in vielen Fällen – nicht wirklich erkannt, der öffentliche Aufschrei fehlt.
Täter-Opfer-Umkehr bei Behörden – und in der Gesellschaft
Allerdings betreiben nicht nur Behörden eine Täter-Opfer-Umkehr, sondern oftmals auch gewöhnliche Bürger*innen. So bekommen Betroffene schon mal zu hören: „Was musst du die Nazis auch immer provozieren?“ oder, wenn das Opfer ein Punk ist: „Wieso musst du dich auch so auffällig kleiden, kannst du nicht normal rumlaufen?“ Aber genau das ist ein folgenschwerer Fehler und für die Demokratie ein trauriges Zeichen. Denn dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass eigentlich die Opfer schuld sind und die Neonazis im Prinzip gar nichts Falsches gemacht haben. Solche Aussagen bewirken am Ende nämlich nur eines: Man lässt Menschen, die von den Attacken in vielen Fällen traumatisiert sind, einfach im Stich und verteidigt die Rechtsextremen. Ähnlich funktioniert die Argumentation, das Problem „Rechtsextremismus“ werde ohnehin überbewertet oder würde sich erledigen, wenn es verschwiegen würde. Eine Einschätzung mit fatalen Folgen: Denn wenn eine Gemeinde die Neonazis unbehelligt agieren lässt, lassen sie sich gern nieder, verüben Anschläge auf Gebäude, Fahrzeuge und Personen – und in vielen Orten trauen sich nicht-rechten Bürger*innen, die nicht in das Weltbild der Neonazis passen, bald nicht mehr ohne Angst auf die Straße.
Verharmlosung statt Aufklärung
All das passt zu dem sogenannten „Kartell der Verhamloser“, das die Journalistin Marion Kraske in einem Report für die Amadeu Antonio Stiftung sehr eindringlich beschrieben hatte. Und eben dieses Kartell besteht auch lange nach dem Auffliegen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ nahezu unverändert fort. Wenig hat sich geändert, mancherorts auch gar nichts. Die Gefahr wird weiterhin unterschätzt, vorhandene Probleme heruntergespielt. Nachdem der NSU aufgeflogen ist, war der Schock groß: Doch schnell kehrte man zum Alltag zurück. Teilweise scheint sogar das (beruhigende) Denken vorhanden zu sein, es habe sich beim NSU lediglich um isolierte Einzeltäter*innen gehandelt und etwas Ähnliches könne sich nicht wiederholen. Genau das aber ist falsch. Der NSU konnte sich auf ein breites Unterstützer*innen-Netz verlassen, während der Verfassungsschutz offenbar von nichts wusste. Prinzipiell könnte sich so etwas jederzeit wiederholen, genügend gewaltbereite Neonazis, die auch vor Morden nicht zurückschrecken würden, gibt es leider.
Beim Staatsakt für die NSU-Opfer Anfang des Jahres entschuldigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei allen Hinterbliebenen und den Opfern für die falschen Verdächtigungen und kündigte an, „alles zu tun, um die Morde restlos aufzuklären“. Es waren große und wichtige Worte, darüber waren sich alle Medien einig. Und auch jetzt – nach einer deutlichen Zunahme der Skandale – übte die Bundeskanzlerin wieder Kritik. Ansonsten schweigt sie aber. Weder zu den Skandalen rund um den NSU, noch über den alltäglichen rechtsextremen Terror äußert sich die Bundeskanzlerin sonst. Dabei wären klare und deutliche Worte, auf die dann auch eine Umsetzung (effektiverer Kampf gegen rechts, Anerkennung aller Todesopfer rechter Gewalt) folgt, gerade jetzt nötiger denn je. Das Schweigen – und auch das Wegsehen -, dass in der Bundesregierung herrscht, müsste endlich gebrochen werden.