Der NSU-Prozess hat gezeigt, dass Frauen ebenso aktiv an menschenverachtenden, gewaltvollen und demokratiegefährdenden Handlungen beteiligt sind wie Männer. Vor Gericht und Öffentlichkeit inszenieren sie sich als unpolitisch, „Freundin von“ oder „emotional abhängig“. Geschlechtsspezifische Ermittlungsfehler führten beispielsweise dazu, dass Unterstützungsleistungen von Frauen wie Mandy S. lange unentdeckt blieben. Weitere Frauen wie Antje P., Corryna G. oder Susan Eminger – die Ehefrau des Angeklagten André Eminger- haben den NSU und ihre Taten unterstützt. „Die unterstützenden Taten von Frauen im Umfeld des NSU müssen weiter ermittelt und aufgeklärt werden“, fordert Judith Rahner von der Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung. „Wenn politische Überzeugungen und die Rolle von rechtsextremen Frauen in der polizeilichen und juristischen Aufklärungsarbeit unter den Tisch fallen, werden rechtsextreme Gewalt und rechter Terror als gesellschaftliches Problem nicht ernstgenommen.“
Unterstützungsnetzwerke des NSU weiterhin offen legen und aufklären
Den zahlreichen Nebenklageanwältinnen und –anwälten sowie engagierten Journalist*innen und Einzelpersonen ist es zu verdanken, dass Informationen zu rassistischen und antisemitischen Strukturen immer wieder Gegenstand des Prozesses waren. „Die engen Verbindungen zu Neonazi-Netzwerken wie Blood&Honour belegen, dass die Trio-These der Bundesanwaltschaft und des Gerichts nicht haltbar ist“, erklärt Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. „Fehlende Ermittlungen und das Festhalten an der Trio-These führen dazu, dass rechtsextreme und rechtsterroristische Netzwerke gestärkt aus dem NSU-Prozess hervorgehen können. Es muss weiter aufgeklärt werden, wie und warum die Mordopfer ausgewählt wurden, wer Hinweise und Details für die Tatorte lieferte und wie groß der NSU war.“ Es gibt weitere Anschläge und Morde, die in das Tatprofil des NSU passen und bis heute unaufgeklärt sind, wie beispielsweise Recherchen um die so genannte 10.000er Liste des NSU nahelegen. Diesen Spuren muss nachgegangen werden.
Strukturelle und politische Konsequenzen in Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden endlich umsetzen
Institutioneller und struktureller Rassismus hat dazu geführt, dass Angehörige und Betroffene jahrelang falschen Verdächtigungen ausgesetzt waren und selbst unter Tatverdacht gerieten. Zusätzlich zeigen die Ermittlungshypothesen im Mordfall der getöteten Polizistin Michéle Kiesewetter das Ausmaß von rassistischen Ermittlungen gegenüber Sinti und Roma. Die Bundesanwaltschaft und das Gericht haben weder die rassistischen Ermittlungen, noch die staatliche Verwicklung im Prozess thematisiert und aufgeklärt. Die Nebenklage stellte eindrucksvoll heraus, dass um die 40 V-Personen im Umfeld des NSU zu finden waren. Das Schreddern von Akten, fehlende Informationsweitergabe und das Nichterinnern bei Aussagen vor Gericht und Untersuchungsausschüssen über die Jahre machen deutlich: Bisher haben die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden kaum zur Aufklärung im NSU-Prozess beigetragen. Darüber hinaus wurden die Empfehlungen aus der kritischen Zivilgesellschaft und den NSU-Untersuchungsausschüssen nicht umgesetzt. Stattdessen gehen die Sicherheitsbehörden durch Aufstockung ihrer Mittel und Ausweitung ihrer Kompetenzen gestärkt aus dem NSU-Komplex hervor. Es bedarf endlich umfassender Reflexionsprozesse über rassistische Stereotypen in der Polizeiarbeit sowie Schulungen und Sensibilisierung zu rassistischen und geschlechtlichen Stereotypen, die Verankerung dieser Themen in der Ausbildung sowie die Abschaffung der Praxis von racial profiling bei der Ermittlungsarbeit. Die Dimension politischer Tatmotive wie Rassismus und Antisemitismus bei Gewalttaten wird durch Polizei und Justiz nicht genügend berücksichtigt: „Bei Taten gegen gesellschaftlich stigmatisierte Gruppen sollte grundsätzlich von einer vorurteilsgeleiteten Tat ausgegangenen werden, bis die Ermittlungen das Gegenteil aktiv bewiesen haben“, fordert Anetta Kahane am Mittwoch.
5 Jahre am Oberlandesgericht München – eine Chronik des NSU-Prozesses
Unterstützung der Forderungen von Opferangehörigen des NSU und Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Die Forderungen der Betroffenen nach vollständiger Aufklärung des NSU-Komplexes sowie die Würdigung ihrer Trauer- und Aufklärungsarbeit bleiben von Politik und Öffentlichkeit nach fünf Jahren Prozess weitgehend unbeachtet. Auch die Zivilgesellschaft hat sich erst nach der Selbstenttarnung des NSU mit Betroffenen und Hinterbliebenen solidarisiert. Ihren Forderungen nach weiterer Aufklärung und politischen Konsequenzen aus der staatlichen Verwicklung im NSU-Komplex muss endlich Gehör verschafft werden. Zusätzlich braucht es eine Gedenkpolitik und Erinnerungskultur, die sich an den Bedürfnissen der Hinterbliebenen und Betroffenen orientiert. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie „NSU Watch“, die Initiative „Keupstraße ist überall“, das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ oder die „Initiative für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Ta?köprü“ haben über die Jahre eine intensive Dokumentation, Auseinandersetzung und Aufklärung zum NSU-Komplex vorangetrieben. Diese aktive Zivilgesellschaft sowie Betroffenenverbände und Opferberatungen sind weiterhin ernst zu nehmen, anzuhören und zu fördern.
Einen Überblick über den Verlauf des NSU-Prozesses finden Sie in der aktuellen Handreichung „Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht –Rassismus – Antisemitismus“ der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus.