Für Liz Fekete, Direktorin des Londoner „Institute of Race Relations“, ist klar: Um Erklärungen für das Versagen der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste in den Ermittlungen zum NSU zu finden, braucht es ein Verständnis von strukturellem und institutionellem Rassismus. In Deutschland wird diese Debatte jedoch bisher kaum geführt. Ähnlich war es lange Zeit in Großbritannien. Hier war es die Auseinandersetzung mit dem polizeilichen Versagen im Zuge der Ermittlungen zum Mord an Stephen Lawrence, die zu der Erkenntnis und offiziellen Anerkennung führte, dass staatliche Institutionen durch rassistische Denk- und Handlungsweisen geprägt sein können.
Der Stephen Lawrence – Fall
Lawrence, ein Schwarzer Jugendlicher aus Süd-London, war am Abend des 22. April 1993 mit einem Freund im Bezirk Plumstead auf dem Nachhauseweg, als er von einer Gruppe weißer Männer angesprochen und durch zwei Messerstiche getötet wurde. Obwohl fünf Tatverdächtige schnell ermittelt werden konnten, häuften sich Berichte über Fehler und Korruption in den Ermittlungen der Polizei, und über rassistisches Verhalten gegenüber den Angehörigen von Lawrence. Vier der Tatverdächtigen waren wegen rassistischer Gewalttaten polizeibekannt. Wegen angeblich mangelnder Beweise wurden die Ermittlungen gegen sie eingestellt. Auf Grund der Unstimmigkeiten in den Ermittlungen ordnete der damalige Innenminister Jack Straw eine öffentliche Untersuchung der Polizeiarbeit an, welche vom Richter Sir William Macpherson geleitet wurde und im Jahr 1997 begann.
Erkenntnisse des „Macpherson – Report“
Heute gilt der als „Macpherson-Report“ bekannt gewordene Abschlussbericht der Untersuchung als ein zentrales Dokument in der Rechtsgeschichte von Großbritannien. Denn das Urteil von Macpherson über die Polizeiarbeit im Fall Stephen Lawrence war vernichtend: Die Ermittlungen wurden als inkompetent bezeichnet, denn die Polizist_innen hätten fundamentale Fehler begangen. So wurde am Tatort keine erste Hilfe geleistet, offensichtlich wichtigen Hinweisen nicht nachgegangen und Verdächtige nicht rechtzeitig in Haft genommen. Noch wichtiger war aber: Die Londoner Polizeibehörde, die „Metropolitan Police“, wurde für institutionell rassistisch befunden. Macpherson erarbeitete eine Definition des Begriffs, die in britischen Behörden Widerhall fand: Institutioneller Rassismus bezeichnet „das kollektive Versagen einer Organisation, die Personen wegen ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischer Herkunft keine angemessenen und professionellen Leistungen entgegenbringt. Institutioneller Rassismus wird in Prozessen, Haltungen und Verhalten erkennbar, welche diskriminierend wirken, sei es durch unbewusste Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistisches Stereotypisieren.“
Institutioneller Rassismus? Bei uns doch nicht!
Der Macpherson-Report gab Empfehlungen, wie behördlicher Rassismus in Zukunft bekämpft werden könnte. Dabei beschränkte er sich nicht auf die Polizei, sondern sprach auch Defizite im Justiz-, Bildungs- und Gesundheitssystem an. Rassismus von Staatsseiten war somit erstmalig anerkannt. Dies ermöglichte es Betroffenen, einen öffentlichen Diskurs über dieses Thema anzustoßen. In Deutschland gibt es offensichtliche Parallelen bei den vielen „Pannen“ der Strafverfolgungsbehörden während der Nachforschungen zum NSU. Aber Anerkennung rassistischer Ermittlungspraxen bei der Polizei von offizieller Seite? Weit gefehlt. Richter und Staatsanwaltschaft wollen über Rassismus nicht sprechen, berichtet Anwältin Antonia von der Behrens. Sie vertritt die Nebenklage der Angehörigen von Mehmet Kuba??k im NSU-Prozess.
Angehörige der Opfer von der Polizei gedemütigt
Die Ermittlungen zu den NSU-Morden hatten zunächst ausschließlich die türkischen und kurdischen Communities und die Angehörigen der Opfer ins Visier genommen. Beispiele für rassistische Handlungsweisen von Polizeibeamt_innen und ihre Auswirkungen auf die Ermittlungen fänden im Gerichtssaal keinen Raum, bemängelt von der Behrens. Dabei hätte gerade der Fokus auf die Angehörigen dazu geführt, dass Spuren in die Neonazi-Szene nicht weiterverfolgt wurden. Viele Ehefrauen der vom NSU Ermordeten wurden im Polizeiverhör mit der Behauptung konfrontiert, ihr Partner sei fremdgegangen, der Mord ein möglicher Racheakt. In einem Fall ging die Polizei sogar soweit, einer Hinterbliebenen ein Foto von einer Frau zu zeigen, mit der ihr Mann angeblich eine Affäre gehabt haben solle. Die Geschichte erwies sich als frei von der Polizei erfunden. Eine komplett unlogische Vermutung: Wie hätten nicht miteinander verbundene „Beziehungstaten“, über das gesamte Bundesgebiet und über einen langen Zeitraum verteilt, alle nach dem gleichen Muster und mit der gleichen Waffe verübt werden sollen? Dass eine solche Spur mit Nachdruck weiterverfolgt wurde, obwohl sie selbst oberflächlichster Überprüfung nicht standhält, kann für von der Behrens nur mit strukturellem Rassismus erklärt werden. Die Auffassung, dass es sich um individuelle Verfehlungen der ermittelnden Beamt_innen handele, lässt von der Behrens nicht gelten: Schließlich sei das Verfolgen einer möglichen Beziehungstat mit einhergehenden Verhören von Angehörigen ein Muster, dass sich bei sämtlichen NSU-Morden wiederfände.
Rassismus macht Ermittler_innen blind für wichtige Zusammenhänge
Die Verdächtigungen gegen Angehörige der vom NSU Ermordeten hatten für diese erhebliche Konsequenzen. So habe sich in einigen Fällen das Umfeld von den Familien wegen deren Kriminalisierung distanziert. Selbst die Ermittlungen zum Mord an der Polizeibeamtin Michelle Kiesewetterverliefen zunächst im Sande, weil ausschließlich in Richtung von Verdächtigen „mit Migrationshintergrund“ ermittelt wurde. In unmittelbarer Nähe des Tatorts fand zu jener Zeit ein Jahrmarkt statt. Unter den Schausteller_innen befand sich eine größere Gruppe von Sinti und Roma, die sofort zu Hauptverdächtigen im Mordfall Kiesewetter wurden. Gegenüber Sinti und Roma zeigte die Polizei größten Ermittlungseifer. Polizeibeamt_innen reisten bis nach Serbien oder Großbritannien, um Befragungen vorzunehmen, berichtet Antonia von der Behrens. Telefonate seien abgehört worden, es seien sogar DNA-Proben von Verdächtigen genommen worden, obwohl diese zum Tatzeitpunkt im Gefängnis saßen. Dieses Vorgehen steht im starken Kontrast zum Verfolgen anderer Spuren: Sich Zugang zum Email-Konto Kiesewetters zu verschaffen, war den ermittelnden Beamt_innen zu kompliziert und erschien ihnen irrelevant: Eine mögliche Verbindung des Mordes zu Kiesewetters persönlichem Umfeld wurde rundweg ausgeschlossen.
Alles nur „individuelle Fehler“?
Die gängigen offiziellen Erklärungsmuster zum Staatsversagen in den NSU-Ermittlungen bedienten sich einer Strategie des Nichtwahrhabenwollens, bekräftigt Liz Fekete. Zwar sei es nicht möglich, die Taten des NSU an sich zu leugnen, wenn es aber um Rassismus ginge, gebe es starke Abwehrreaktionen. So werden die Ermittlungspannen als Missgeschicke, individuelle Fehler und Versehen verklärt. Wirkliche Aufklärung sei nicht zu erwarten, bis die kulturelle Norm des Verleugnens von Rassismus durchbrochen würde. Es sei aber mit Bezug auf Großbritannien wichtig, daran zu erinnern, dass Macpherson strukturellen Rassismus genau so wenig entdeckt habe wie Kolumbus Amerika. Das Vokabular zur Analyse von Rassismus stamme aus den Kämpfen gegen ihn. Der Begriff „struktureller Rassismus“ etwa wurde erstmalig von Stokely Carmichael, einem der prominentesten Aktivisten der US-Amerikanischen „Black Power“- Bewegung, geprägt. In Deutschland, so auch die Stimmen aus dem Publikum, werde Rassismus zu oft mit Neonazismus gleichgesetzt, und die Debatte über Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft tabuisiert. Um strukturellen Rassismus diskutierbar zu machen, sei es deshalb unerlässlich, an Hand der NSU- Mordserie oder anderen Fällen auszubuchstabieren, wie sich dieser in konkreten Handlungen von Institutionen niederschlage.
Zu wenig Interesse an Universitäten
Prof. Dr. Gökce Yurdakul nimmt als Vertreterin des einladenden Sozialwissenschaftlichen Instituts der Humboldt Universität auch die Wissenschaft in die Pflicht. Es gebe zu wenig Forschung zum NSU an deutschen Universitäten, das Interesse an den NSU-Morden sei von akademischer Seite sehr gering. Dabei könnte diese eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung spielen. Dies unterstützt auch Antonia von der Behrens. Die Nebenklagevertreter_innen im NSU-Prozess seien auf Definitionen und Analysen aus der Wissenschaft angewiesen.
*Die Veranstaltung „Why the NSU Case matters – Structural Racism in Europe” wurde von der Beobachtungsstelle NSU-Watch, der Rosa Luxemburg Stiftung, dem Republikanischen Anwaltsverein, dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Humboldt Universität Berlin und der Holtfort Stiftung ausgerichtet. Sie war der Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel: „Insight NSU: Struktureller Rassismus, die NSU-Mordserie und die Verstrickung der Geheimdienste“. Sie wird im Januar fortgesetzt.