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Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung Islamismus

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Angebot für Jugendliche auf YouTube (Quelle: Screenshot)

Beobachtet wurden in diesem Bereich vier online aktive Produzent*innen aus dem deutschsprachigen islamistischen Spektrum mit jeweils exemplarischem Charakter für ihre Strömung: • Generation Islam, • eine der islamistischen Hizb ut-Tahrir¹ nahestehende Gruppe, • die salafistischen Prediger Pierre Vogel und Ahmed Abul Baraa • sowie die ebenfalls dem salafistischen Spektrum zugehörige Gefangenenhilfeorganisation Al Asraa. Im Untersuchungszeitraum 05.01.-16.02.2018 wurden alle 295 auf Facebook veröffentlichten Beiträge analysiert. Darunter waren 139 Videos (über 36 Stunden Material), 104 Bilder (inkl. Bild-Schrift-Formaten), 37 Links sowie 14 Statusmeldungen. Aus diesem Material sollten die charakteristischen islamistischen Narrative sichtbar gemacht und deren Funktion aufgezeigt werden (darunter Legitimationsstrategien sowie individuelle und kollektive Identitätsbildungsprozesse). Außerdem sollte gezeigt werden, wie Jugendliche angesprochen werden. Für die Analyse wurden Kategorien für Themenbereiche verwendet, die sich bereits in anderen Untersuchungen in diesem Feld bewährt haben. Teilweise wurden diese induktiv ausdifferenziert. Sie fanden sich in folgender Häufigkeit im Material wieder.

Häufigkeit der angesprochenen Themenbereiche

1. Aufruf/Ausübung von Aktivismus oder Missionierung sind Teil des „wahren“ Islams: 90-mal

2. der Islam bietet Antworten auf alle politischen, sozialen, theologischen sowie alltagsrelevanten Fragen: 60-mal

3. die Gesellschaft ist dualistisch in „wir“ und „sie“ unterteilbar: 41-mal

4. andere Religionen, religiöse Strömungen und Lebensentwürfe sind ungleichwertig: 31-mal

5. westliche Gesellschaftssysteme und deren Normen und Werte sind für menschliches Zusammenleben ungeeignet: 30-mal

6. es gibt Feinde des „wahren“ Islam und Verräter aus den Reihen der Muslim*innen: 23-mal

7. Muslim*innen werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und marginalisiert: 17-mal

8. Presse, Filmindustrie, Polizei, Justiz und Bildungs- einrichtungen werden von einer kleinen, im Geheimen agierenden Gruppe kontrolliert, die entweder zur Verbreitung eines „falschen“ Islams oder zu einem negativen Bild vom „wahren“ Islam und von Muslim*innen beiträgt: 14-mal

9. Muslim*innen in islamischen Ländern werden vom Westen sowie durch von westlichen Regierungen kontrollierte arabische Herrscher verfolgt und unterdrückt: 13-mal

10. der Islam hat eine „glorreiche Vergangenheit“, nach der sich „wahre“ Muslim*innen bedingungslos richten sollten: 8-mal

11. überall auf der Welt werden muslimische Frauen in Gefängnissen gefoltert und vergewaltigt: 6-mal

12. es gibt eine gottgewollte biologische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, die eine unterschiedliche Stellung in der Gesellschaft begründet: 3-mal

13. die Rolle, die Frauen in westlichen Gesellschaftssystemen zugesprochen wird, entspricht nicht ihrem Wesen, überfordert sie und macht sie unglücklich: 3-mal

 

In den meisten Fällen wurden mehrere Themenbereiche zugleich berührt und in größere Erzählungen (Hauptnarrative) eingebettet. Die fünf Hauptnarrative sind:

Hauptnarrative des Islamismus

1. eine weltweite Repression von Muslim*innen,

2. Narrative innerhalb von propagierten Handlungs- anweisungen und Lösungen, die den Islam bzw. dessen jeweilige Auslegung in Bezug auf persönliche Lebensführung und gesellschaftliche Fragen zur alleinigen Referenz machen,

3. die Aufwertung des Eigenen (von Muslim*innen und Islam),

4. die Abwertung der anderen durch Kritik an/Nichtakzeptanz von nichtislamischen Lebensweisen und Gesellschaftsformen,

5. die Prognose eines Untergangs westlicher Gesellschaftssysteme.

Die herausgearbeiteten Vorstellungen berühren verschiedene Ebenen. Das dabei dominante Opfernarrativ bezieht sich sowohl auf reale Diskriminierung (hier wird ein glaubwürdiger Lebensweltbezug für Jugendliche hergestellt) als auch auf imaginierte Ausgrenzung. In diesem Zusammenhang bieten die Akteure Unterstützung und die islamistische Gruppenzugehörigkeit als scheinbar einzigen Ausweg an. Das Opfernarrativ stärkt die Bindung an den Islam, aber insbesondere an die untersuchten Islamist*innen. Für diese Bindung wird ein Charakter von Ausschließlichkeit angestrebt. Das Opfernarrativ wird strategisch eingesetzt, um Menschen an die Gruppe zu binden, indem der Weg zu anderen Zugehörigkeiten gedanklich versperrt wird. Der Opferstatus soll durch Engagement für die islamistische Sache überwunden werden – d.h., es werden auch Erwartungen und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit bedient. Wer in diesem Sinne tatsächlich aktiv wird, kann sich im eigenen Leben gestaltend erleben und dadurch sein Selbstbewusstsein stärken.

Die damit inszenierte Opferrolle der Islamist*innen ist nicht passiv oder leidend, sondern es ist die Rolle unverstandener, verfolgter, tatkräftiger und wissender Pioniere, deren Ideen sich erst noch durchsetzen müssten, die also im Besitz der Wahrheit seien. Die gesellschaftliche Randständigkeit der Islamist*innen wird mit der Belohnung der Auserwähltheit aufgewogen. Die Abgrenzung zur Umwelt, die allerdings als von dieser ausgehende Ausgrenzung umgedeutet wird, erhöht den Zusammenhalt der islamistischen Wir-Gruppe und das Selbstreferentielle dieser Gruppe, das eine weitere Abschottung nach außen bewirkt.

Komplementär zum Opfernarrativ gibt es eine Erzählung von Erfolg und Ausbreitung des Islamismus, die von der Umgebungsgesellschaft mit Furcht zur Kenntnis genommen würden. An dieser Stelle kommt auch ein Machtaspekt zum Tragen, der die Zugehörigkeit attraktiv machen kann. Sich zurückgesetzt Fühlende finden nicht nur eine Gruppenzugehörigkeit, sondern auch die Möglichkeit, einer Gesellschaft gegenüber, in der ihnen Teilhabe nur unzureichend ermöglicht wird bzw. gelingt, (in ihrer Imagination) dominant aufzutreten.

Die gegebenen Handlungsanweisungen beinhalten Aktivierung in Bezug auf die Lebensführung bzw. Vorgaben für dieselbe. Die Akteure nehmen in allen Bereichen den Status von Ratgebern an und streben danach, Jugendliche mit einem gewinnenden Auftreten, der Wahl ihrer Themen (Lebensfragen, Außenpolitik/Weltlage) und Formate (Vorträge, Erklär-Videos, Frage-Antwort-Runden) anzusprechen. Mit den beratenden Angeboten geben sie Halt und Orientierung. Zugleich fördern die Ratschläge letztlich zumeist eine Intoleranz gegenüber Sichtweisen und Lebensentwürfen, die in Konflikt mit dem von allen Akteur*innen langfristig angestrebten islamistischen Gesellschaftsentwurf stehen.

Sie müssten diesem entsprechend weichen. Hier werden sowohl verschiedene diskriminierende (u.a. verbreitet sexistische) als auch ganz klar antidemokratische Einstellungen gezeigt. Eine pauschale Absage an die Demokratie wird aber auch mit der grundsätzlichen Einrichtung der westlichen Gesellschaften und ihrem außenpolitischen Handeln begründet. So richtet sich die Kritik gegen soziale Ungerechtigkeit, die Rolle westlicher Regierungen in den Konflikten v.a. des Nahen und Mittleren Ostens und die Unterstützung von autoritären Regierungen durch westliche Staaten. Dazu kommt Kritik an wahrgenommenen Widersprüchen zu den Wertebekenntnissen dieser Gesellschaften.

Handlungsempfehlungen

Die aus dieser Untersuchung konkret abzuleitenden Handlungsempfehlungen beziehen sich sowohl auf gesamtgesellschaftliche als auch auf zielgruppenbezogene Herausforderungen.
Zentral für die Stärkung demokratischer Kräfte und Haltungen in migrantischen wie nicht-migrantischen Communities ist die Förderung eines Bildes der Gesellschaft, das alle Identitäten einschließt und der Exklusion bzw. dem „Othering“ von Minderheiten aktiv entgegenwirkt. Dazu müssen Rassismuserfahrungen thematisiert und als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen werden.

Im pädagogischen Bereich (und darüber hinaus) braucht es gezieltes Empowerment zu gesellschaftlichem – demokratischem – Engagement. Gleichzeitig sollte dessen Nutzen aufgezeigt und das gesellschaftliche Engagement von Muslim*innen sichtbar gemacht werden. Community-intern wie auch Community-übergreifend bleibt das Trainieren von Toleranz in religiösen Fragen eine wesentliche Herausforderung und zentrale Aufgabe. Zugleich gilt es, weiter in die Förderung einer kritischen Medienkompetenz, nicht nur bei jungen Menschen, sondern auch bei erwachsenen User*innen zu investieren.

Transnationale Extremismen aus dem arabischen Raum

Themenspektrum

a) Einerseits: salafistische Orientierung und radikaler Islamismus (teils mit Ausreisewilligkeit nach Syrien, Irak, Afghanistan) als eine Art Jugendbewegung auf der Suche nach Identität, Einordnung, Aufmerksamkeit und Provokation einer nicht-religiösen Elterngeneration; auch als Reaktion auf die Unübersichtlichkeit der postmodernen Gesellschaft. Häufig sind damit Jugendliche angesprochen, die in Deutschland aufgewachsen sind und religiöse Bezüge zum teilweise gewaltbereiten Salafismus entwickeln. Ein Großteil der salafistischen Gemeinschaft in Deutschland ist jedoch nicht gewaltbereit, sondern pietistisch verortet.

b) Anderseits: Orientierungen am „arabischen Autoritarismus“, gekennzeichnet durch antisemitische, homophobe und frauenfeindliche Haltungen sowie Demokratieskepsis. Hinzu kommen Autoritarismus-Erfahrungen junger Geflüchteter, die durch die Diktaturen arabischer Länder geprägt wurden, die teilweise Gewalt als Mittel der Durchsetzung von Normen billigen, aber auch ganz andere Voraussetzungen mitbringen als deutsche Jugendliche mit arabischen Migrationshintergrund oder muslimischer Zugehörigkeit. Der Islamismus bildet für die Gruppe der arabischen Geflüchteten keinen Bezugsrahmen zu dieser extremistischen Haltung.

c) Die verschiedenen Gruppen und Orientierungen an Extremismen werden häufig als eine „Gruppe der muslimischen Jugendlichen“ wahrgenommen – und sie eint die Erfahrung, in einer durch die Mehrheitsgesellschaft ihnen zugeschriebenen Generalhaftung für Anschläge und Terror im Namen des Islam zu stehen und ihn möglicherweise gutzuheißen.

Kommunikationsplattformen

Kommuniziert wird über Peer-Strukturen (die sich auch im Internet in entsprechenden Gruppen oder Fanseiten wiederspiegeln), relevant sind hier vor allem jüngere Generationen. Social Media spielt für alle Gruppen eine große Rolle – bei Geflüchteten vor allem Facebook als ein Anlaufpunkt.

Akteur*innen

Wichtige Akteure bei der Mobilisierung und Verbreitung sind einzelne salafistische Prediger und einschlägige Moscheegemeinden. Besonders Prediger wie Pierre Vogel oder Abdul Adhim Kamouss – der sich von der Bewegung später abgewandt hat – bildeten ein wichtiges Scharnier zur Mobilisierung der transnationalen Bewegung mit Bezugspunkten in der arabischen Welt. Das ideologische Gepäck der Geflüchteten – der arabische Autoritarismus – findet Ausdruck in den sexistischen, homophoben und antisemitischen Übergriffen der letzten Jahre.

Quellen

  • Julia Gerlach: Transnationale Extremismen aus dem arabischen Raum. In: Themenheft „neuer deutscher extremismus*“, Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage [Hrsg.] (2019), S. 33-41.
  • „Digital Streetwork“ in der Asyl- und Migrationsberatung – Wie Geflüchtete soziale Medien nutzen und was daraus für Beratungsstellen folgt. Informationsverbund Asyl und Migration e.V. [Hrsg.], 2018.

 

Die Broschüre „Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung“ auf Belltower.News

(wird fortlaufend veröffentlicht)

  • Vorwort: Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung
  • Antidemokratische Narrative und Hate Speech in Jugendszenen der Einwanderungsgesellschaft
  • Islamismus
  • Türkischer Nationalismus
  • Russischsprachige Diaspora
  • Was daraus folgt + Literatur und weiterführende Materialien
Titelbild der Broschüre „Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung“.

Die Broschüre zum Download (pdf):

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/11/Online_Lebenswelten_web.pdf

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