Ein vergleichender Blick auf die Untersuchungsresultate
Die Gruppenzugehörigkeit und der Gewinn daraus sind in allen Szenen relevant. Im türkischen Nationalismus ist der Gruppenbezug zentral. Die Zuwendung zu den ideologisierten Szenen ist – auch übereinstimmend mit bereits bestehenden Erklärungsansätzen für die Wahl von Gruppenzugehörigkeit – mit der Aufwertung der sozialen Identität verbunden, die im Wesentlichen durch (v.a. strukturelle) Diskriminierungserfahrungen als unbefriedigend erlebt wird. Ebenso können individuell erfahrener Misserfolg und individueller sozialer Ausschluss Ursachen für eine solche Hinwendung sein. Eine weitere gemeinsame Klammer aller Szenen ist Antisemitismus. Er steht im Untersuchungsmaterial nicht im Vordergrund, erscheint jedoch v.a. in Form von Antizionismus (bei den Islamist*innen propagiert) und in Form von Verschwörungstheorien, nach denen z.B. die Presse jüdisch kontrolliert sei, Israel mit geheimen Interessen die Ereignisse im Nahen Osten steuere oder (bestimmte) Jüd*innen im Hintergrund Macht ausüben würden.
Was haben nur zwei der Szenen gemeinsam? Beim Islamismus und in der russlanddeutschen Szene zeigt sich eine Parallele hinsichtlich rigider Geschlechtsrollenbilder, die Männern einen Vorrang einräumen. In beiden Szenen findet sich außerdem ein Opfernarrativ in Bezug auf die Eigengruppe. Im türkischen Nationalismus hingegen erscheint kein Opfernarrativ – alles ist auf Stärke ausgerichtet. Der Islamismus und die russlanddeutsche Szene haben zudem die Ablehnung westlicher Demokratien bzw. insbesondere der USA gemeinsam.
Die russlanddeutsche Szene und den türkischen Nationalismus eint ein Narrativ, nach dem der „Westen“ sich feindlich gegenüber der Eigengruppe verhalte. In beiden wird zudem den Führungsfiguren und deren Verherrlichung ein besonderer Stellenwert beigemessen. Letztlich sind aber alle drei Szenen autoritär geprägt; im Islamismus sind diese Instanzen mit Verweis auf die göttliche Ordnung selbstverständlich. Im türkischen Nationalismus und Islamismus wird zum Engagement für die je eigene Sache aufgerufen. In der russlanddeutschen Szene ist eine solche Selbstaktivierung (in Abwesenheit eines gemeinsamen Ziels) jedoch nicht zu finden. Die russlanddeutsche Szene und türkische Nationalisten setzen auf die Festigung der Eigengruppe und damit einhergehenden Ausschluss. Die untersuchten Islamisten hingegen wollen im Wesentlichen expandieren und sehen ihre Bezugs- und Zielgruppe als nationenübergreifend an. Daher funktioniert der Islamismus nicht über Nationalismus, sondern wendet sich sogar gegen diesen.
Ansatzpunkte für die pädagogische Arbeit
Zum einen braucht es die Arbeit an den Symptomen in Form einer politischen und ethischen Bildung, die auf Wissen zu den ideologischen Inhalten der drei Szenen beruht und die über die Beschaffenheit und Funktion von diskriminierenden und antidemokratischen Narrativen sowohl präventiv aufklärt als auch Interventionen bereitstellt. Für den Umgang mit Hate Speech können bewährte Zugänge gewählt und übergreifend für alle drei Szenen angewendet werden. Dabei sollten die spezifischen historischen und sozialen Kontextfaktoren der jeweiligen Jugendszenen und die jeweiligen konkreten Narrative berücksichtigt werden. Auch für Verschwörungstheorien ist bei allen drei Szenen derselbe Zugang möglich, da sie stets auf die gleiche Weise funktionieren. Trotzdem ist es hilfreich, die im jeweiligen Feld häufigsten zu kennen, um bei der Bearbeitung auf sie eingehen zu können. Im Zusammenhang damit muss als Teil des Programms für diese Szenen auch auf Antisemitismus reagiert werden können.
Für den Schutz vor ideologischen Versuchungen jeder Art ist es wichtig, zugleich die Medienkompetenz und die Medienbildung, im Sinne einer demokratischen digitalen Diskurskultur, zu erhöhen. Dabei sollten der Wert gesellschaftlicher und politischer Partizipation sowohl für die Erfahrung der Einzelnen als auch zum Nutzen der Gesellschaft vermittelt und Wege dorthin aufgezeigt werden.
Vor allem aber muss es darum gehen, den Ursachen für solche Positionierungen zu begegnen. Dafür müssen die konkreten Motivationen der Jugendlichen, sich solcher Ideologien zu bedienen, d.h. ihre Sichtweisen, Probleme und Bedürfnisse erschlossen und zusammen mit der Funktion der Narrative in den Fokus gerückt werden. Außerdem ist es notwendig, das Selbst bzw. die Identität von Jugendlichen durch entsprechende Erfahrungen soweit zu stärken, dass sie diese Stärke nicht in den besprochenen Gruppen bzw. Ideologien suchen.
Wie können diese Ansätze weiter gedacht und realisiert werden? Hilfreich hier ist es, sich Konzepte aus der Jugend(sozial)arbeit anzuschauen und zu überlegen, welche davon sich in die Onlinewelt übertragen lassen – insbesondere unter dem Aspekt, dass die Mobilisierung in starker Off- und Online-Verschränkung erfolgt. Denn für Jugendliche gibt es längst keine Trennung mehr zwischen der „realen“ Welt und dem Web 2.0. Soziale Netzwerke sind ebenso Lebenswelt und ebenso real wie die Offlinewelt. Dezidierte Hinweise dazu gibt das Heft „Digital Streetwork. Pädagogische Interventionen im Web 2.0“. Zwei Aspekte mit besonderer Relevanz für die in unserer Untersuchung angesprochenen Zielgruppen seien hier kurz benannt.
Die Grundlage jeglicher pädagogischer Arbeit allgemein und besonders mit auffälligen Jugendlichen ist das Zuhören. Kenntnisse über z.B. Bedürfnisse, Emotionen, aber auch aktuelle Trends und alltägliche Themen können dabei helfen, einen Zugang zu Heranwachsenden zu bekommen. Dies gilt insbesondere für Jugendliche aus Gruppen, die als Angehörige einer Minderheit nicht nur spezifische Narrative der eigenen Peer Group pflegen, sondern auch von Diskriminierungserfahrungen betroffen sind, die nicht breit kommuniziert oder bearbeitet sind – deren Gehalt und Wirkungsmacht gesamtgesellschaftlich und damit auch Pädagog*innen oft nicht in ganzer Konsequenz bewusst ist.
Für die digitale Welt wäre hier z.B. ein pädagogisches Monitoring – also eine Art digitales Zuhören – denkbar, das lokal, aber auch übergreifend stattfinden kann. Staatlich geförderte Institutionen, die vertrauensvoll und unabhängig arbeiten, können einen solchen Service aufbereiten mit dem Ziel, die betreffenden Informationen an relevante Stellen, wie z.B. Schulen und andere pädagogische Einrichtungen, weiterzuleiten. Insbesondere dem pädagogischen Personal, den Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen müssen derartige Erkenntnisse über die Online-Lebenswelt Heranwachsender und ihre Bezüge zur Offline-Welt zur Verfügung stehen.
Begleitend zu einem solchen Monitoring werden Schulungen, Weiter- und Ausbildungen immer unabdingbarer, die die digitalen Möglichkeiten, Realitäten und Herausforderungen mit der praktischen Sozialarbeit und der pädagogischen/sozialen Beratung verknüpfen. Klar ist, dass hierfür Personal- und Sachressourcen zur Verfügung stehen müssen, denn Online-Sozialarbeit und Social Media machen sich nicht nebenher. Sie erfordern Kompetenz, Zeit und Professionalität, vor allem in Hinblick darauf, dass mit den Jugendlichen und den kontinuierlich wechselnden Angeboten, die sie über Social Media erhalten, gearbeitet werden soll. Fachkräfte müssen selbst fit sein und wissen, wie digitale Inhalte aufbereitet sind, wie sie wirken können und wie sie einzuordnen sind. Online-Pädagogik ist bislang noch eher auf den Umgang mit den Symptomen beschränkt, agiert also vor allem problembezogen und kann dementsprechend nur einen kleinen, obschon wichtigen Beitrag zu mehr Demokratie im Web 2.0 leisten. (Soweit in diesem Zusammenhang auch eine Ursachenforschung durch direkte Ansprache möglich ist, kann sie besonders lohnenswert sein.)
Wichtig wäre es jedoch, das gesamte Spektrum (sozial-)pädogischen Handelns auch online aufzufächern: d.h. selbststärkende/empowernde Aspekte zu fördern, Handlungs- und Kommunikationskompetenz online zu stärken, Regeln des digitalen Miteinanders zusammen mit Heranwachsenden zu entwerfen und auszuhandeln und mehr. Um dies zu leisten und von der Intervention zur Prävention zu kommen, braucht es gezielte Investitionen in diesen Bereich: mit pädagogischem Personal, fachlicher Weiterbildung und zeitlichen Ressourcen, die den Herausforderungen und Perspektiven des Felds entsprechen.
Neben den Potenzialen der pädagogischen Arbeit und den Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen ist es jedoch unabdingbar, gesamtgesellschaftliche soziale und politische Strukturen mit in den Blick zu nehmen. Zur Prävention gehören demokratische Debatten und Räume, die Ausgrenzung und Diskriminierung vermindern, statt sie zu reproduzieren, die die Gleichwertigkeit aller Bürger*innen praktisch erlebbar machen und so als grundlegenden Wert im öffentlichen Diskurs einfordern.
Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft
Allgemein bietet das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit die Möglichkeit, über verschiedene Erscheinungsformen und Rahmungen eines generellen Phänomens zu sprechen – die feindselige Abwertung von Menschen spezifischer Gruppenzugehörigkeiten. So können auch der Ultranationalismus, religiöse Extremismus, Rassismus und Antisemitismus der Einwanderungsgesellschaft beschrieben werden. Bisher hat die Forschung von Heitmeyer, Zick und Küpper das Phänomen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nur für die Mehrheitsgesellschaft ausgearbeitet – die Praxisbeobachtungen verdeutlichen noch einmal, wie wichtig es ist, diese Ideologien der Ungleichwertigkeit auch innerhalb von Minderheitenkon- stellationen ernst zu nehmen und zu untersuchen. Dabei sollte ihre eigene strukturelle Erfahrung als Minorität nicht übersehen werden, sondern mit einfließen. So ist etwa ein Anstieg der Islamfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft deutlich wahrnehmbar – und gleichzeitig werden islamistische und türkisch-nationalistische Einstellungen stärker.
Zugleich können innenpolitische Konflikte der vormaligen Herkunftsländer zu Polarisierungen auch hierzulande führen – insbesondere rund um die Konfliktpunkte Religion, Flucht, deutsch-türkische Beziehungen, Nahostkonflikt, Kurdenpolitik und die Armenierfrage. Dieser „ethnische Nationalismus“ kann den Boden für ultranationalistische und rassistische Einstellungsmuster von Menschen mit Migrationsbezügen in Deutschland bereiten und zur Selbst-Ethnisierung im Kontext einer deutschen Gesellschaft führen, in der die Gruppenzughörigen gleichzeitig Erfahrungen von individuellem und in- stitutionellem Rassismus vonseiten der Mehrheitsgesellschaft machen. Hinzu kommt ein rechtspopulistisch aufgeladenes gesellschaftliches Klima, in dem die bestehenden Marginalisierungserfahrungen verfestigt werden.
Antisemitische Einstellung sind in Mehrheitsgesellschaft und Migrant*innen-Communities verbreitet. Dabei spielt der israelbezogene Antisemitismus eine besondere Rolle im Sinne eines „flexiblen Codes“, der alle Ungleichwertigkeitsideologien der verschiedenen Gruppen jenseits variierender Begründungsmotive miteinander verbindet. Als Begründung wird von Minderheitenangehörigen oft die eigene Rassismus- und Ausschlusserfahrungen genannt. Denn in der Wahrnehmung vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die besonders empfänglich für antisemitische Einstellungen sind, wird nur Jüdinnen und Juden ein gesellschaftlich-konsensualer Opferstatus zuerkannt – während ihre eigenen Marginalisierungserfahrungen ausgeblendet werden.
Präventiv ist es wichtig, in bestehenden Demokratie- und Antirassismus-Trainings die wechselseitigen Zuschreibungen wie auch die strukturellen Verbindungen deutlich zu machen – und zugleich die kritische Auseinandersetzung mit Ungleichwertigkeitseinstellungen in der gesamten Migrationsgesellschaft aktiv zu suchen.
Quellen:
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