CN: Der Artikel thematisiert gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Online-Mobbing und Suizid
Die Saga von Chris Chan
Alles an der Geschichte von Christine Weston Chandler, die sich momentan wegen der Vergewaltigung ihrer dementen Mutter vor Gericht verantworten muss, ist furchtbar. Dass sich die 39 Jährige Chandler laut Selbstangaben mehrmals in der Woche an ihrer eigenen Mutter vergeht. Dass es Menschen im Internet gibt, die den Prozess verfolgen wie Marvel-Fans den aktuellen Blockbuster des Franchise. Dass dem Prozess über 20 Jahre an Mobbing, Stalking und beispiellose virtuelle Gewalt vorausgehen, die zweifelsohne maßgeblich für Christine Chandlers desolaten psychischen Zustand verantwortlich sind.
Christine Weston Chandler, besser bekannt unter dem Pseudonym „Chris Chan“, ist vermutlich die Person mit dem am akribischsten dokumentierten Leben der Welt – dicht gefolgt von “Drachenlord” Rainer Winkler. Wer sich mit der Kampagne gegen Winkler, die Belltower News ausführlich dokumentiert und analysiert hat, etwas auskennt, kommt nicht umhin, Parallelen zu erkennen. Sowohl bei der autistischen trans Frau Chandler, als auch bei Winkler handelt es sich um Menschen, die in einer besseren Gesellschaft therapeutische Hilfe erhalten hätten. Stattdessen wurden sie zu sogenannten „Lolcows“ erhoben – Menschen, bei denen das Internet glaubt, sie berechtigt provozieren und angreifen zu dürfen.
Der Beginn von Christine Chandlers zweifelhafter Internet-Karriere begann Mitte der 2000er Jahre mit der Veröffentlichung des Webcomic „Sonichu“ – einer Mischung aus den Videospielfiguren Sonic und Pikachu. Der unter anderem auf MySpace veröffentlichte Comic und die dahintersteckende Person zogen schnell die Aufmerksamkeit des Internet auf sich. Chandler, die von ihren Eltern vernachlässigt und von ihren Mitschüler*innen gemobbt wurde, legte als Jugendliche und junge Erwachsene online eine Verhalten an den Tag, dass changierte zwischen Fremdscham hervorrufenden Aktionen bis zu einer Übergriffigkeit, die an Incels erinnerte. Sie war, wie auch durch ihren Webcomic dokumentiert, besessen von der Suche nach einer Partnerin („boyfriend-free girlfriend“, wie Chandler schrieb). Um dies zu erreichen, lief Christine beispielsweise mit einem Schild durch ihren Wohnort in Virgina, darauf der Hinweis, sie suche eine FreundinAuch hinterließ sie entsprechende Notizen an öffentlichen Orten. Kurzum, sie war gefundenes Fressen für die User:innen des Imageboards 4chan und das Troll-Wikipedia Encyclopaedia Dramatica, auf denen 2007 Auszüge von „Sonichu“ veröffentlicht wurden. Innerhalb von kürzester Zeit wurde die Comiczeichnerin zum Gespött der unangenehmen Ecken des Internets. Die Trolle bemerkten sehr schnell, dass sie Chandler sehr gut provozieren konnten, und die Comics und Videos, die sie als Reaktion auf erfahrene Häme produzierte, weiteres Material ablieferten, um sich darüber lustig zu machen. Dass sich ein Mob von Menschen systematisch an einer autistischen Person abarbeitete, rechtfertigten sie – ähnlich wie es die „Haider“ bei Rainer Winkler tun – mit Chandlers eigenem problematischem Verhalten, wie häufig von ihr getätigten homofeindlichen oder rassistischen Aussagen. Der Podcast „Behind the Bastards“, der zwei sehr aufschlussreiche Episoden über Chandler und das Forum „Kiwi Farms“ veröffentlicht hat, fasst die Position der Trolle recht gut zusammen: Chandler produziert „Cringe“, sie sei also quasi selbst schuld daran, dass sich Menschen im Internet über sie lustig machten. Dokumentiert wurde alles auf einem 2013 eigens dafür angelegten Forum, dem CWCWiki.
Über die Jahre hinweg eskalierten die Trolling-Angriffe gegen Christine, ebenso Troll-Angriffe gegen ihre Familienmitglieder. Das Ziel war: das Opfer zu demütigen, um sich darüber zu ergötzen. Beispiele sind: ein 13 Jahre alter Junge gab sich als erwachsene Frau aus und führte eine Online-Beziehung zu ihr, um später bei laufendem Tonbandgerät zu offenbaren, dass Chandler Telefonsex mit einem Minderjährigen gehabt hatte. Mehrere Frauen aus dem CWCWiki-Umfeld gingen auf fingierte Dates mit Christine, und nahmen diese heimlich auf. Trolle schickten Sexarbeiterinnen zu Chandler nach Hause. Chandler wurde in der Öffentlichkeit fotografiert, jedes Video, jedes Produkt, das sie online verkaufte, jedes Bild, jeder Social Media-Post, jeder Schritt und Tritt den sie ging: All das wurde dokumentiert und für die selbsternannten „Christorians“ genussvoll aufbereitet. Es ist notwendig, sich hier vor Augen zu halten, dass es sich bei Chandler um eine geistig eingeschränkte, ausgesprochen naive Person handelt, deren Bezug zur Realität immens verzerrt ist. Dies wurde von einer besonders sadistischen Troll-Clique ausgenutzt, um Chandler unter anderem um 6000 Dollar zu erpressen, sie zu nötigen, die eigene Mutter zu schlagen oder sich selbst online zu prostituieren. Dies sind nur Auszüge aus dem Mobbing, das Chris Chan seit fast 20 Jahren erfährt.
Das Forum Kiwi Farms
Chandler sollte nicht die einzige „Lolcow“ bleiben, die zum Opfer des 2015 in Kiwi Farms umbenannten Forums CWCWiki wurde. Wie die Angriffe gegen Chandler vermuten lassen, ist die Selbstbezeichnung des Forums als ein Ort, auf dem sich interessierte Menschen über faszinierende Online-Persönlichkeiten austauschen, nichts anderes als ein Euphemismus für „der widerlichste Ort im Internet“. Das Forum war eines der treibenden Kräfte hinter der extrem misogynen Gamer Gate-Kampagne, die FLINTA *-Personen („FLINTA“ ist das Akronym für „Frauen, Lesben, Inter, Nonbinary, Trans und Agender“) aus der Videospielszene attackierte und zur Folge hatte, dass die Adressen und Details aus dem Privatleben veröffentlicht wurden, sie zahlreiche Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhielten, regelmäßig mit Diffamierungen und Anfeindungen konfrontiert waren und mehrfach den Wohnort wechseln mussten.
Menschen machen sich zur Angriffsfläche für Kiwi Farms, in dem sie eine öffentliche Präsenz haben, die auch nur ansatzweise als „cringeworthy“ erachtet wird. Dies betrifft vor allem transgeschlechtliche oder neurodiverse Menschen, wenn diese es wagen, öffentlich aufzutreten. Das Forum ist immens trans- und behindertenfeindlich: regelmäßig wird das eigene Mobbing-Verhalten damit „begründet“, dass sich diese oder jene Person „autistisch“ verhalten hätte – um anschließend mit einer ganzen Palette an ableistischen Schimpfworten um sich zu werfen. Es gibt spezielle Unterforen für alles, was als auch nur ansatzweise deviant, also von Normen abweichend, wahrgenommen wird – dicke Menschen, Mitglieder der LGBTIQ-Community, Furries (Menschen, die Fans von Cartoon- und Manga-Tieren sind und entsprechende Kostüme tragen).
Interessant ist, dass sich das Forum auch an Mitglieder der Alt-Right und extremen Rechten abarbeitet, vor allem an dem Nachwuchs-White Supremacist Nick Fuentes. Dies jedoch nicht, weil sie Fuentes aufgrund seiner Ideologie kritisieren, sondern weil er durch seine peinlichen Online-Auftritte und einem ihm attestierten Fetisch für Catboys – Anime-Jünglinge mit Katzenohren – ein schlechtes Licht auf seriösere Rechtsextreme wirft.
In über 100.000 Threads, die stellenweise mit über 1000 Seiten (!) aufwarten, arbeiten sich die Nutzer*innen des Forums an ihren Opfern ab. Dies folgt immer wieder dem gleichen Schema: durch das Auffinden von Accounts auf unterschiedlichen Social Media-Plattformen, das Austauschen von Gerüchten und kompromittierendem Material wird eine „Lolcow“ auf der Plattform vorgestellt. Die User*innen bestätigen sich im Thread darin, dass es vollkommen legitim ist, sich an ihrem neuen Opfer abzuarbeiten, da die Person diese oder jene Transgression begangen hätte. Dies kann eine legitime Form der Kritik sein – beispielsweise wenn es sich um ein Mitglied der extremen Rechten oder Sexualstraftäter handelt – meistens ist es jedoch Ausdruck von Ressentiments. Diese sind in der Regel gesellschaftlich bereits vermittelt, da die Opfer von Kiwi Farms genau jene Personen sind, die bereits Opfer von Schulhofmobbing waren: Menschen, die außerhalb gesellschaftlich akzeptierter Vorstellungen von „Normalität“ stehen. Durch das Veröffentlichen von Social Media-Profilen oder Postings werden mehr Mitglieder der Community auf die Person aufmerksam gemacht, die sich anschließend an dem Menschen abarbeiten. Hierbei wird oft und gerne mit Halbwahrheiten oder Falschinformationen operiert. Das auf der Seite betriebene Mobbing hat bereits mehrere Menschen in den Suizid getrieben – womit sich das Forum stolz brüstet.
Die letzte Person, für deren Selbstmord Kiwi Farms verantwortlich ist, war ein populäres Mitglied der Modding-Community – Menschen, die Videospiele umprogrammieren. Near, so das Online-Pseudonym der Person, nahm sich im Juni 2021 nach einer jahrelangen Kampagne das Leben. In einer Reihe von herzzerreißenden Tweets schreibt Near darüber, dass die Angriffe, die von Kiwi Farms ausgingen, nicht mehr zu ertragen seien: „Es steigerte sich von Angriffen gegen mich wegen meines Autismus, zu Angriffen und Doxxing von meinen Freund*innen, und sie zum Suizid anzustacheln, nur um eine Reaktion von mir zu bekommen. Ich habe einen meiner besten Freund*innen deswegen verloren. Ich fühle mich dafür verantwortlich.“ Near war nichtbinär, und Angriffe gegen Nears Geschlechtsidentität war der Hauptfokus der Hetze. Ein weiteres Opfer des Forums ist die transgeschlechtliche Spieleentwicklerin Chloe Sagal, die sich nach einer fünfjährigen transfeindlichen Hasskampagne durch das Forum 2018 selbst verbrannte. Dies führte jedoch mitnichten zu einem Moment der Reflektion bei den User*innen, stattdessen wurde sich über Sagals Art des Selbstmords lustig gemacht – natürlich nicht, ohne sie dabei konsequent weiter zu misgendern. Momentanes Lieblingsziel des Forums ist die transgeschlechtliche und sozialistische Twitch-Streamerin Clara Sorrentis, die unter dem Namen „keffals“ über das aktuelle Weltgeschehen spricht. In einem ihrer Streams thematisierte sie den Hass, dem sie permanent ausgesetzt ist- und wurde von Twitch gebannt, nachdem auf Kiwi Farms dazu aufgerufen wurde, sie wegen Hate Speech auf der Plattform anzuzeigen.
Auch wenn viele Mitglieder des Forums dem Vorwurf, sie seien rechtsradikale Menschenfeind*innen, widersprechen würden: die ausgewählten Opfer, die herablassende und menschenfeindliche Art der Sprache über die Opfer, die sich immer in Hate Speech ausdrückt, und vor allem das Bedürfnis des autoritären Angriffes auf Einzelpersonen machen die rechtsradikalen Tendenzen des Forums deutlich.
Dies zeigt sich vor allem in dem Betreiber des Forums, Joshua Connor Moon, der unter dem Pseudonym „Null“ agiert. Moon, der selbst den Betreibern des rechtsextremen Imageboards 8chan zu menschenfeindlich – und auch zu inkompetent – war und von dort gefeuert wurde, legt interessanterweise sehr viele Verhaltensweisen an den Tag, wegen derer die User*innenbasis seiner Plattform Angriffe auf „Lolcows“ rechtfertigt. Er lebt mit 29 Jahren immer noch bei seiner Mutter und gibt öffentlich an, Kinderpornographie zu konsumieren, „weil er Kindern gerne beim Leiden zusieht“. Er hat mehrfache Mord- und Vergewaltigungsfantasien geäußert, ist offener White Supremacist und hat den rechtsterroristischen Anschlag auf die antifaschistische Demonstration in Charlottesville 2018 glorifiziert. Nach dem rassistischen Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, bei dem der Täter 51 Menschen ermordete, forderten neuseeländische Behörden Moon auf, ihnen Material zum Anschlag, das unter anderem auf Kiwi Farms verbreitet wurde, zur Verfügung zu stellen. Der Moderator antwortete darauf mit einer Ansammlung an Beleidigungen, da er die Anfrage als Form der „Zensur“ empfand. Ein anderer bekannter User des Forums war übrigens der White Supremacist William Atchison, der im September 2017 in einer High School in New Mexico zwei Schüler hispanischer Herkunft ermordet hatte und enge Kontakte zum Attentäter von München unterhielt.
Die deutschen Kiwifarmer
Das Forum hat eine eigene Sektion für Lolcows aus dem nicht-englischsprachigen Raum, und demzufolge auch eine ganze Reihe an deutschsprachigen User*innen. Wenig verwunderlich ist die Person, die am häufigsten Stein des Anstoßes ist, Rainer Winkler – der Thread über ihn hat fast 800 Seiten und wird seit 2018 betrieben. Angesichts der momentanen Angriffe gegen transgeschlechtliche Personen, die öffentlich auftreten, ist es leider nicht überraschend, dass diese Menschen momentan besonders beliebtes Ziel der deutschsprachigen Nutzer*innen sind. Wie auch auf anderen Plattformen sind vor allem trans Frauen mit gesellschaftlichem Einfluss die größten Anfeindungsziele, beispielsweise Journalistin Georgine Kellermann oder Politikerin Tessa Ganserer. Auch hier ist die Vorgehensweise: das Veröffentlichen von Social Media-Profilen, das Sammeln von mehr oder weniger wahren Informationen, das gemeinsame hämische Kommentieren zu Fotos oder Tweets, und somit impliziert der Aufruf, diese Menschen auf den sozialen Medien zu demütigen. Omnipräsent sind hierbei Misgendering und das Verwenden von Deadnames (den früheren Namen), Pathologisierung und die Reproduktion von queerfeindlichen Verschwörungsnarrativen wie dem der „Translobby“, die Jugendliche verführen würde.
Die Gamification von Hass
Moon und seine Anhänger*innenschaft scheinen sich sehr wohl dessen bewusst, was sie tun. Dies zeigt sich bereits in den Forenregeln. Dort wird neuen Trollen angeraten, sich mit einer sonst nicht verwendeten E-Mailadresse als auch einzigartigen User*innennamen anzumelden – damit das auf dem Forum geschriebene nicht auf die dahinter stehende Person zurückzuführen ist. Unter den Foren-Regeln gibt es eine Rubrik mit dem Titel „Wie ist diese Seite eigentlich legal?“. Die Antwort ist ein selbstzufrieden-hämischer Verweis auf die Lücken des US-amerikanischen Justizsystems: „Kiwi Farms ist in den USA legal. Gemeine Sachen im Internet sagen ist nicht illegal. ‚Doxxing‘ ist nicht illegal. Hier schlechte Kunst oder Bilder hochladen ist nicht illegal. Screenshots von Webseiten machen und hier posten ist auch nicht illegal“. Darauf folgen mehrere Abschnitte, in denen gerechtfertigt wird, wieso eine Plattform, deren User*innenbasis für menschenverachtende, brutale Hasskampagnen, deren Opfer psychisch als auch körperlich attackiert worden sind, keine Verantwortung für diese Taten trägt.
Hierbei wird selbstverständlich verschwiegen, dass Seiten wie Kiwi Farms, auf denen User*innen permanent mit Menschenfeindlichkeit konfrontiert werden und diese gerade zu als Spiel erscheint, definitiv einen Teil zur emotionalen Verrohung und einer darauf basierenden Radikalisierung in die radikale und extreme Rechte beitragen. Sowohl die virtuelle Form als auch das kollektive Moment der Angriffe gegen „Lolcows“, die durch das Forum geboten wird, führt zu einer Gamification des Mobbings. Dies bedeutet, dass die Täter*innen von sich abspalten können, was sie anderen Menschen eigentlich antun – die Opfer werden zum Meme dehumanisiert, und die Belästigung als Spiel wahrgenommen. Den Nutzer*innen wird unter der hohngrinsend vorgetragenen Behauptung, es würde um die Verteidigung von free speech gehen, jegliche Menschenverachtung durchgewunken. Die Plattform bietet eine Möglichkeit zur Vernetzung, zur gemeinsamen Suche nach neuen Opfern, und zum Austausch von Material zur weiteren Radikalisierung. Das alles hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun – sondern lediglich mit Zynismus, Sadismus und Hass.