Anstieg der Angriffe und der Betroffenenzahlen: Rassismus häufigstes Motiv in Berlin
Insgesamt erfasste ReachOut im Jahr 2018 309 Angriffe; im Vorjahr waren es nur 267 gewesen. Mit der Zahl der Angriffe stieg auch die Zahl der Betroffenen von 374 auf 423, das ist ein Anstieg von fast 16%. Unter den Betroffenen sind 19 Kinder und 47 Jugendliche.
Über 50% der Angriffe sind rassistisch motiviert, mit 167 Taten ist Rassismus das häufigste Motiv in Berlin. Auch antisemitische Taten sind deutlich gestiegen, von 13 auf 44 Fälle im Jahre 2018, 63 Gewalttaten richteten sich gegen die sexuelle Orientierung oder Identität der Opfer. Auch Obdachlose sind zunehmend Opfer von Angriffen im öffentlichen Raum.
„Auffällig ist der Anstieg der rassistisch motivierten Taten. Ganz offensichtlich fühlen sich die Täter*innen durch rassistisch geprägte Diskurse von Politiker*innen rechtspopulistischer aber auch anderer Parteien ermutigt, zuzuschlagen.“ Sabine Seyb, ReachOut
Als Angriffe definiert ReachOut nicht nur körperliche Angriffe nach StGB. “Auch eine massive Sachbeschädigung oder Bedrohung kann als Angriff gewertet werden,“ so Sabine Sayb von Reachout. Angriffe sind häufig unvermittelt und nicht vorbereitet, sondern geschehen spontan im öffentlichen Raum. Ihre Zahlen erhält ReachOut durch tägliche Recherche: Medienmeldungen, Meldungen der Polizei, Informationen der bezirklichen Gruppen und Projekten (zB. Register Berlin), von Betroffenen oder Zeug*innen. Es gehe dabei jedoch nicht in erster Linie um Dokumentation, sondern um das Erreichen und die Unterstützung der Betroffenen.
„Wir beobachten eine Enttabuisierung bezüglich der Gewalt auf ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen. (…) Wenn erwachsene Männer sich nicht davor scheuen, aus rassistischen Gründen gewaltsam gegen Kinder und Jugendliche vorzugehen, hat die Gesellschaft ein ernsthaftes Problem.“ Sabine Seyb, ReachOut
Seyb nutze die Zeit ebenfalls, um auf die Brandanschlagsserie auf linke Politiker*innen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft in Neukölln hinzuweisen und ihre Verwunderung darüber auszudrücken, dass hier noch keine weiteren Ermittlungserfolge erzielt wurden. Sie hob dabei besonders den Fall des linken Bezirkspolitikers Ferat Kocak hervor: „Wie kann es sein, dass der Verfassungsschutz beobachtet, dass zwei bekannte Neonazis den Bezirkspolitiker Ferat Kocak ausspähen und verfolgen. Wie kann es sein, dass angeblich das LKA informiert wird und dennoch wenige Tage später ein Brandanschlag auf das Auto von Herrn Kocak verübt wird? Warum wurde er eigentlich nicht gewarnt und warum werden die Täter nicht ermittelt?“
Diese fehlenden Ermittlungserfolge bei den Brandanschlägen, sowie bei der Aufklärung des Mordes an Burak Bektas, die Drohbriefe gegen linke Aktivist*innen in Friedrichshain, Neonazi-Codes in Chatgruppen in der Berliner Polizei führten sie zu der Frage: „Was ist eigentlich los in dieser Behörde?“
Sie fügte hinzu: „Einige Aktivist*innen fürchten mittlerweile, dass es in Berlin ähnlich extrem-rechte Netzwerke innerhalb der Polizei geben könnte wie in Frankfurt am Main.“ und schloss mit der Hoffnung, dass sich die Innenbehörde dazu bald öffentlich verhalten werde.
Kinder und Jugendliche psychisch besonders betroffen
Warum sich Angriffe und Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche besonders traumatisierend auswirken können, machte Stephanie Cuff-Schöttle von OPRA deutlich. Dabei müssen Kinder nicht selber direkte Opfer werden, um eine traumatische Belastung auszulösen reicht es häufig schon aus wenn sie Zeug*innen von Angriffen werden. Ein weiteres marginalisiertes Thema ist rassistisches oder antisemitisches Mobbing, dem Kinder häufig in der Schule oder im Sportverein ausgesetzt sind. Hier braucht es vonseiten der Eltern und v.a. der Lehrer*innen und anderer Aufsichtspersonen eine Sensibilität und Aufmerksamkeit für das Thema, so Cuff-Schöttle. Kinder und Jugendliche litten nach Übergriffen häufig an posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch Depressionen und Angststörungen kämen vor. Besonders jüngere Kinder könnten Geschehenes häufig nicht verarbeiten. Diese traumatischen Auswirkungen rassistischer Gewalt auf die Kinder müsse mit reflektiert werden.
Besonders helfe in der Situation nicht wegzuschauen und zu zeigen, was hier passiert ist nicht richtig. Im Nachhinein sei entscheidend den Schilderungen der Kinder zu glauben, so Cuff-Schöttle.
Berliner Registerstellen verzeichnen Anstieg von Vorfällen um 22 Prozent
Während ReachOut ausschließlich Gewaltvorfälle registriert, versuchen die Berliner Registerstellen auch solche Taten im Vorfeld, wie Pöbeleien, Propagandadelikte, etc. abzubilden. Daraus ergebe sich ein Überblick über ein gesellschaftliches Klima, so Kati Becker.
Die Berliner Registerstellen haben im vergangenen Jahr 3405 Vorfälle gezählt (2017 waren es noch 2800), das heißt neun Vorfälle pro Tag. Dabei seien vor allem antisemitische und rassistische Angriffe, Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen. Vorfälle, die den Nationalsozialismus verharmlosen sind ebenfalls weiter angestiegen auf 382 Fälle. Rückläufig sei die Zahl an Vorfällen die einer organisierten rechten Szene zugeordnet werden könnten.
“Die rechte Szene ist in Berlin so schwach wie nie.” konstatiert Kati Becker. Organisierte Kameradschaften oder die NPD seien höchstens noch im Ostteil der Stadt zu finden. Allerdings sieht auch sie eine Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas, die Tabus fielen zunehmend und damit einher ginge ein Anstieg der Zahlen.
Links:
ReachOut: https://www.reachoutberlin.de
Berlinweite Chronik: https://www.reachoutberlin.de/de/chronik
OPRA: https://www.opra-gewalt.de/
Berliner Register: https://www.berliner-register.de/
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, RIAS: https://report-antisemitism.de/
Dokumentationsstelle Antiziganismus, DOSTA: http://amaroforo.de/node/231