Am Freitag, den 24. Juni 2022, läuft ein Mann mit einer Tasche in der Hand zum „London Pub“ im Erdgeschoss und zur „London Bar“ (im ersten Stock), einer schwul-lesbischen Institution im norwegischen Oslo. Hier feiern, in der an diesem Abend besonders viele Menschen, weil in Oslo am nächsten Tag die „Pride Parade“ ansteht zur Feier sexueller Vielfalt und Selbstbestimmung der LGBTIQ*-Szene und ihrer Verbündeten – die erste „Pride Parade“ seit der Corona-Pandemie. Der Mann holt aus seiner Tasche eine Waffe und eröffnet das Feuer vor dem „London Pub“. Hier feuert er laut Augenzeugen zwanzig Schüsse ab. Panik bricht aus. Als zwei weitere Tatorte nennt der norwegische Sender NRK den Jazzclub „Herr Nilsen“ und eine Schnellrestaurant, beide in unmittelbarer Nähe zum „Londen Pub“. Als der Terrorist das Magazin seiner Waffe wechseln will, wird er von Augenzeugen gestoppt. Ein Passant rammt den Attentäter, ein anderer stellte sich auf die Waffe, berichtet ein Augenzeuge. Der Mann war bewaffnet mit einer Schnellfeuerwaffe und einer Handfeuerwaffe, beides bereits ältere Modelle (vgl. Queer.de).
Zwei Menschen hat der Terrorist ermordet, dessen Name der Redaktion bekannt ist, aber den wir nicht nennen, um ihm nicht den Ruhm zu geben, den er sich wünscht.
Die beiden Todesopfer:
Jon Erik Isachsen (54) saß in einem Lokal neben dem „London Pub“, im „Per på Hjørnet“. Er hinterlässt eine Frau und einen erwachsenen Sohn.
Kåre Arvid Hesvik (60) aus der Gemeinde Bærum war für die Pride Parade nach Oslo gereist, auf die er sich nach Angabe seines Partners, der noch auf der Arbeit war, als die Tat geschah.
21 weitere Menschen wurden verletzt, zehn von ihnen schwer. In Lebensgefahr schweben die Opfer nach norwegischen Polizeiangaben nicht mehr. Der „London Pub“ beschreibt sich auf der eigenen Internetseite als „Schwules Hauptquartier seit 1979“. Es ist also ein symbolischer Ort, ein „Safe Space“ für die queere Szene und landesweit als solcher bekannt.
Erinnerungen an Utøya
Schmerzliche Erinnerungen weckt der Terrorschlag in Norwegen an das Attentat von Utøya, bei dem ein rechtsextremer Terrorist im Jahr 2011 an drei Orten 77 Menschen ermordete. Da Homo- und Transfeindlichkeit im Rechtsextremismus weit verbreitet sind, verbreitete sich zunächst die Angst vor einem weiteren rechtsextremen Terroranschlag in Norwegen. Doch der Hass auf sexuelle Vielfalt und ein freies Liebesleben für alle, gespeist aus toxischer Männlichkeit, ist kein exklusives rechtsextremes Gedankengut. Diesmal war der Attentäter offenbar islamistisch motiviert, ein 42-jähriger Norweger mit iranischen Wurzeln.
Im Polizeiverhör schweigt der Täter bisher, außer dass er sich als nicht einverstanden erklärt hat, dass das Verhör aufgezeichnet wird – solange es nicht vollständig im Fernsehen gesendet werde (vgl. Welt). Damit ist zumindest eine verschwörungsideologisch geprägte und sendungsbewusste Grundeinstellung belegt, ein Misstrauen gegen behördliche Institutionen – denn der Mann gab an, er glaube nicht, dass die Behörden seine Angaben nicht manipulieren – ebenso wie der Wunsch nach breiter Öffentlichkeit für die eigene Ideologie.
Homofeindlichkeit aus dem islamistischen Umfeld
Trotzdem ist die Aussage des Verteidigers des Verdächtigen, mangels Angaben sei es „völlig unklar, ob es überhaupt ein Motiv“ gäbe, taktisch zu sehen. Polizei und Staatsanwaltschaft sind sich sicher, dass die Tat einen politischen Hintergrund hat. Sie ermittelt auch im Freundes- und Bekanntenkreis des Verdächtigen. Dazu gehört der 44-jähirge Arfen Bhatti, der eine zentrale Rolle in der islamistischen Szene Norwegens spielt, wie der Sender NRK berichtet. Er ist Gründer der islamistischen Gruppe „Die Umma des Propheten“, die als IS-nah gilt.
Auf seinem Facebook-Profil postete Bhatti am 14. Juli eine brennende Regenbogenflagge und befürwortete den Tod von LGBTIQ*, besonders von schwulen und lesbischen Menschen. „Das Zitat ist aus einem Hadith, der als Begründung für die Todesstrafe für Homosexuelle im Islam herangezogen wird“, sagte der norwegische Islam-Experte Sylo Taraku vom Think Tank „Agenda“. Hadithe sind überlieferte Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed (zu sehen im Beitrag von NRK).
Ein weiterer Facebook-Post von Bhatti: Eine Regenbogenflagge mit Verbotszeichen darauf, darunter der Spruch „Be natural“ (sei natürlich), als Profilbild.
Nach Recherchen des Senders NRK standen der mutmaßliche Täter und Bhatti in engem Kontakt. Beide sind bereits seit Jahren polizeibekannt, werden als „Gefährder“ geführt, erhielten gemeinsam eine „Gefährderansprache“ der norwegischen Polizei. Der Täter wurde seit 2015 vom Geheimdienst beobachtet wegen Verdachts auf „islamistischen Terrorismus“, berichtet der Chef des norwegischen Inlandsgeheimdienstes, Roger Berg. Die Ermittler kamen allerdings zu dem Ergebnis, der Täter sei „nicht gewaltbereit“ – eine Fehlannahme, wie die Tat vom 24.Juni gezeigt hat.
Solidarität ein Europa
Nach dem terroristischen Anschlag gibt es Entsetzen und Solidarität – in Oslo und in ganz Europa. Die „Pride Parade“ in Oslo am Samstag war abgesagt worden, weil nach der Terrortat ein erhöhtes Risiko in der Stadt angenommen wurde. Trotzdem fanden sich viele Menschen spontan zusammen und demonstrierten in den Straßen, um zu zeigen, dass sie sich im Kampf um sexuelle Freiheit und Vielfalt nicht einschüchtern lassen: „We are queer, we are here, we’re not gonna disappear.“
Umringt von einer großen Menschentraube legten Regierungschef Jonas Gahr Støre und Kronprinz Haakon und Kronprinzessin Mette-Marit gemeinsam am Tatort Blumen nieder. Das Glockenspiel des Rathauses spielte „Somewhere over the Rainbow”.
In der Kathedrale von Oslo wurde am Sonntag ein Trauergottesdienst für die Opfer abgehalten, bei dem der Altar in Regenbogenfarben geschmückt war. „Kugeln können die Liebe nicht töten“, betonte der Vorsitzende der norwegischen Kirche, Bischof Olav Fykse Tveit.
In Berlin wurde am Sonntagabend das Brandenburger Tor in Regenbogenfarben angestrahlt. „Berlin steht als Regenbogenhauptstadt an der Seite der Menschen in Oslo und ganz Norwegen, die trauern“, teilte Bürgermeisterin Franziska Giffey mit. „Wir werden immer für die Freiheit kämpfen und den Feinden der Demokratie und unserer Werte entgegentreten.“
Der Anschlag gegen die queere Community erschüttere ihn zutiefst, schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstag auf Twitter. Seine Gedanken seien bei den Angehörigen; den Verletzten wünsche er eine rasche Genesung. „Das norwegische Volk kann sich unserer Anteilnahme gewiss sein. Der Kampf gegen den Terror eint uns.“
Rechtsaußen: Rassistische Instrumentalisierung und Schweigen
Sehr still ist dagegen die Alternative für Deutschland und die rechtsalternative Medien-Szene. Die umwerben zwar ansonsten gern Homosexuelle aus taktischen Gründen, um sie mit Islamfeindlichkeit gegen die liberale Demokratie zu agitieren. Andererseits hatte diese Szene den Pride Month auch genutzt, um gegen sexuelle Vielfalt und Vielfalterziehung unter dem Scheinargument der „Angst um die Kinder“ zu hetzen. Von der „Zwangsmaus“ der „Sendung mit der Maus“, die als erklärtes Ziel habe, alle Kinder für die Heterosexualität zu verderben, bis zu Transgeschlechtlichkeit als angeblichem „Trend“ unter Teenager*innen, den es zu verhindern gelte.
Den empathielosesten, aber vermutlich ehrlichsten Post nach dem Attentat von Oslo veröffentlichte die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Hoechst auf Facebook:
„An alle Regenbogenkämpfer gegen Rechts ein kleiner Hinweis: Wir sind nicht gegen euch. Wir haben nur genug von der bunten Propaganda in der Schule, in der Kita, beim Sport, im Fernsehen, im Kika usw. Zumal sie sich völlig realitätsfern verknüpft im blinden Hass auf die einzige Opposition, die klar Farbe zu folgenden Problemen bekennt (es folgt eine Auflistung von Gewalttaten durch islamistische Täter:innen). Wir haben die Männer nicht zu hunderttausenden zu uns einreisen und sie auch ohne Asylgrund bleiben lassen, von denen euch einige nach dem Leben trachten. Wir KRITISIEREN das nur. Die Zuwanderungspolitik und die Tatsache, dass der öffentliche Raum immer unsicherer wird. Gerade auch für Andersliebende und Andersgläubige. Denk mal drüber nach.“
Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Proschka fokussiert auf Twitter:
In Richtung Islamfeindlichkeit gehen auch weitere Narrative der rechtsextremen Szene in Deutschland. Die war nämlich gerade noch dabei, eine Schwimmbad-Prügelei in Berlin rassistisch auszuschlachten, um die Gefährlichkeit von Migrant*innen zu belegen, als das Attentat von Oslo passierte und natürlich Wasser auf islamfeindliche Mühlen war.
Der „Deutschland-Kurier“ kann seine Abneigung gegen LGBTIQ* nicht ganz ablegen und schreibt von einer „Homo-Bar“, berichtet aber doch über die Tat, weil sich so ein „polizeibekannte Islamist” in die Titelzeile schreiben lässt.
Kommentator*innen schreiben:
Die drei in Würzburg vor einem Jahr von einem psychisch kranken Mann (für die AfD nur ein „somalischer Asylbewerber”) ermordeten Frauen waren für AfD-Hardliner Björn Höcke übrigens ein Grund, am Sonntag in Würzburg auf der Straße eine Kundgebung mit roten Rosen zu inszenieren, um Rassismus und Islamfeindlichkeit zu schüren. Zu Oslo schweigt er.
Ex-BILD-Chef Julian Reichelt, den es offenbar stark in die rechtsalternative Medienszene zieht, kombiniert in seinem Kommentar Islamfeindlichkeit, Flüchtlingsfeindlichkeit und Hass auf die Grünen:
Also ihm Empathielosigkeit vorgeworfen wird, kontert er: „Grüne Ideologie tötet”.
Gut, dass er kein reichweitenstarkes Medium mehr zur Verfügung hat.
Es lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Fans von Rechtsextremismus und Islamismus erkennen. Hier in einer Telegram-Gruppe, der LGBTIQ*-feindliche Gewalt versteht, weil „Linksprogressive” mit „sozialextremistischer Indoktrination” auf „muslimische Kinder” losgingen.
Die politische Ideologie des Islamismus und Rechtsextremismus sind in der LGBTIQ*-Feindlichkeit praktisch deckungsgleich, wie auch die dahinterliegenden Vorstellungen von toxischen Männlichkeits- und Familienbildern. Im Kampf um traditionelle Geschlechter- und Familienrollen wird nicht nur alles Moderne und Vielfältige abgelehnt – oft auch als vermeintlich jüdisch beschrieben. Sowohl der Rechtsextremismus als auch der Islamismus zeichnen sich durch eine gewalttätige Abwehr und Abwertung des Nichtmännlichen – also des Weiblichen und des Queeren – aus, lehnt alles Moderne als „degeneriert” und „verweichlicht” ab. Der Hass auf vielfältige Sexualität und Geschlechtervielfalt geht bis zum terroristischen Attentat, in Christchurch und Halle ebenso wie jetzt in Oslo.