Eine Recherche von Belltower.News zur rechtsextremen Kleinstpartei „Freie Sachsen“ förderte unter anderem eine Nachricht im Telegram-Kanal der Partei zutage, dass Mitglieder eine Bürgerwehr gegründet hätten und im mittelsächsischen Frankenberg Streife gelaufen seien. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner von der Partei Die Linke fragte deswegen bei der Bundesregierung an, was über solche Aktivitäten bekannt ist.
Der Bundesregierung sind lediglich Aktivitäten der „Freien Sachsen“ und des „III. Wegs“ bekannt. Doch auch Gruppierungen wie „Bürgerwehr Altenburg und Ortsteile“ aus dem Erzgebirge und „Bürgerwehr Untersuhl, Gerstungen und Umgebung“ aus Thüringen, sind offenbar auf den Straßen unterwegs. Eine „Schutzzonen“-Kampagne aus dem NPD-Umfeld (heute „Die Heimat“) war bis vor kurzem vereinzelt aktiv. Dass sie momentan offenbar eingestellt wurde, könnte auf die Umstrukturierung der Partei zurückzuführen sein.
Besonders für rechtspopulistische und rechtsradikale Akteure sind Bürgerwehren attraktiv, weil sie sich dadurch als „Macher“ inszenieren können, die etwas tun – beispielsweise gegen angeblich kriminelle Geflüchtete. Bürgerwehren berufen sich oft auf das sogenannte „Jedermannsrecht“ oder offiziell „vorläufige Festnahme“ (§ 127 Strafgesetzordnung, Absatz 1), nachdem jede*r Bürger*in eine*n Straftäter*in bis zum Eintreffen der Polizei festhalten darf. Ein Recht Waffen zu tragen, oder die Identität von Verdächtigen festzustellen, besteht jedoch nicht. Die selbst autorisierten Bürgerwehr-Gruppen verfügen über keine rechtlichen Privilegien oder Sonderstellungen. Besonders in den Jahren 2015 und 2016 waren in Deutschland viele rechtsextreme Bürgerwehren aktiv.
Auf die Frage, welche Erkenntnisse die Bundesregierung über Aktivitäten sogenannter Bürgerwehren im Jahr 2023 hat, heißt es, dass die Aktivitäten in der jüngeren Vergangenheit zurückgegangen seien. Aktuell würden solche nicht als feste Gruppierung gegründet, sondern eher eine bloße Aktionsform darstellen.
Deswegen könne keine Mitgliederanzahl angegeben werden, sondern lediglich eine Teilnehmer*innenzahl bei entsprechenden Aktionen. Neben den „Freien Sachsen“ sei im Jahr 2023 die Partei „Der III. Weg“ durch Bürgerwehraktivitäten auffällig geworden.
In diesem Jahr sind laut Bundesregierung bislang 15 solcher Aktionen, die die Partei als „Nationale Streifen“ bezeichnet, verzeichnet worden. Die Teilnehmer*innen, deren Anzahl sich im mittleren einstelligen Bereich bewege, würden zumeist Bekleidung mit Erkennungszeichen und sonstiger Symbolik der Partei tragen.
Die Kleinstpartei „Freie Sachsen“ sei im April 2023 das erste Mal durch sogenannte „Bürgerstreifen“ aufgefallen. Bisher hätten fünf solcher Aktionen in Aue, Dresden, Frankenberg und Freiberg stattgefunden.
Wie Belltower.News berichtete, riefen die „Freien Sachsen“ bereits 2021 dazu auf, als Privatpersonen die Grenze gegen eine vermeintliche „Masseneinwanderung“ zu schützen. Eine zu diesem Zweck geplante Kundgebung auf der A4 bei Görlitz mit dem Titel „A4 als Schleuserroute stoppen!“ wurde von der Versammlungsbehörde untersagt, da eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch die Veranstaltung angenommen wurde. Im August 2023 mobilisierte der Kreisverband „Freie Sachsen Mittelsachsen“ zu einer Bürgerwehr in Frankenberg, um präventiv für mehr Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Teilnehmer*innen trugen weiße und grüne Westen, auf denen ein „HS“-Logo aufgedruckt gewesen sei. „HS“ steht für Heimatschutz. Auch hier hätte sich die Teilnehmer*innenzahl im mittleren einstelligen Bereich bewegt. Bei dieser Aktion ist neben Informationsmaterial auch Gefahrenabwehrspray verteilt worden. Im Weltbild der „Freien Sachsen“ und anderen Rechtsextremen bedeutet „Sicherheit und Ordnung“ Rassismus gegen Migrant*innen, die als Hauptverantwortliche für Kriminalität identifiziert werden. Die „Freien Sachsen“ radikalisieren sich zunehmend und bereiten sich scheinbar auf körperliche Auseinandersetzungen vor.
Nach einer Einbruchserie Anfang des Jahres in Cottbus bildete sich dort auch eine Bürgerwehr. Die Polizei riet in diesem Fall und auch generell davon ab, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Bürgerwehren würden weder die objektive Sicherheitslage noch das Sicherheitsgefühl stärken. Problematisch sei, dass sich solche Gruppierungen häufig via Messenger organisieren. Dort würden Informationen geteilt, die nicht immer der Wahrheit entsprechen würden. Außerdem sei die Gefahr, dass sich Mitglieder solcher Bürgerwehren selbst strafbar machen, sehr hoch.
Martina Renner berichtet im Gespräch mit Belltower.News von ihrer Anfrage und macht deutlich, was tatsächlich hinter Bürgerwehren steckt.
Belltower.News: Welche Gefahren gehen von Bürgerwehren aus?
Martina Renner: Bürgerwehren greifen das subjektive Unsicherheitsgefühl der Menschen, das auch durch konservative Politik geschürt wird, auf und versprechen Schutz, wo vermeintlich der Staat versagt. Dabei maßen sie sich Befugnisse des staatlichen Gewaltmonopols an und agieren damit an der Grenze des Erlaubten. Dennoch halten auch manche in Politik und Verwaltung solche Aktivitäten für harmloses oder gar sinnvolles, bürgerschaftliches Engagement. Rechtsextreme und Nazis nutzen diese Aktionsform, um in die Präsenzlücke des Staates zu stoßen. Die angeblichen Gefahren werden ihrem Weltbild entsprechend rassistisch, sozialdarwinistisch oder nach politischer Zuordnung adressiert. Also jede Person, die zu den Feindbildern der Nazis gehört, muss damit rechnen, belästigt, bedrängt oder angegriffen zu werden. Für sehr viele Menschen stellen rechtsextreme Bürgerwehren deshalb eine ernsthafte Bedrohung dar. Sie müssen Übergriffe und Einschüchterungen fürchten, während den Tätern für ihren „Einsatz“ auf die Schulter geklopft wird. Es entsteht der Eindruck, dass Selbstschutz im Sinne von „stay-your-ground“ akzeptabel sowie Polizei und Justiz ersetzbar seien.
Laut Bundesregierung, gibt es derzeit vergleichsweise wenig Bürgerwehr-Gruppen in Deutschland? Was sind andere Aktionsfelder rechtsextremer Gruppen?
Die gering scheinende Anzahl ist aus meiner Sicht irrelevant. Solche Gruppen werden anlassbezogen gegründet und lösen sich auch bald wieder auf. Sie sollen aus meiner Sicht nicht dauerhaft bestehen, sondern das Bild vermitteln: „Wir tun etwas, während die Polizei nie da ist oder viel zu spät kommt.“ Die Gefährlichkeit der Gruppen zeigt sich auch anhand der Vernetzung und Kontakte mit rechtsterroristischen Gruppen wie der „Gruppe S“. Die Nazis nutzen die Bürgerwehren, um Menschen anzusprechen und die jeweilige Stadt- oder Dorfgesellschaft an sich zu gewöhnen. Dies erschwert die kritische Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort und ermöglicht den Nazis, Sympathisanten anzusprechen und anzuwerben. Eine ähnliche Funktion erfüllen Angebote wie Hausaufgabenhilfen oder Sport- und Freizeitaktivitäten, die der „III. Weg“ oder auch andere Gruppen anbieten. Diese richten sich ausschließlich an Bürger*innen, die den rassischen Kriterien der Nazis entsprechen und für ihre Ziele begeistert werden sollen.
Ist die Einschätzung des Verfassungsschutzes korrekt, dass die Bürgerwehren primär dazu dienen, mediales Aufsehen zu erzeugen?
Dies greift aus meiner Sicht zu kurz. Natürlich spielt das mediale Aufsehen eine Rolle. Wichtiger ist aber, eine regionale Präsenz abzubilden und in die Lücken zu stoßen, die der Abbau staatlicher Angebote und gesellschaftlicher Strukturen wie Jugendclubs, Bildungsangebote oder kleiner Polizeiwachen hinterlässt. Folgt dann ein mediales Echo, sind die extremen Rechten dann bereits vor Ort anerkannt und erhalten zusätzliche Bestätigung von den Menschen, für die sie sich angeblich engagieren. So setzen der „III. Weg“, die ehemalige NPD und andere zuletzt wieder vermehrt auf kleinteilige Nachbarschaftsaktionen wie das Einwerfen von Propaganda im Umfeld von Geflüchtetenunterkünften oder mit der Warnung vor „ausländischen Einbrecherbanden“. Sie greifen so die Ängste der Menschen auf und kanalisieren sie in ihrem Sinne.
Nimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz die Bedrohung ausreichend ernst?
Der Verfassungsschutz gehört inzwischen zu den eher lauten Stimmen staatlicher Behörden gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck. Ungeachtet dessen ist der Geheimdienst nicht der Gradmesser für eine ausreichende Reaktion der Sicherheitsbehörden. Die mitgeteilten Fälle der Bürgerwehren zeigen zum einen, dass die genannten Organisationen ihre räumliche Verankerung und die anderer Organisationen offenbar respektieren. Dadurch treten sie vor Ort bspw. nicht in unmittelbare Konkurrenz, aber bespielen die Thematik letztlich auf dieselbe Weise. Aus meiner Sicht bestätigt sich eher, dass es an der notwendigen Einsicht und einer abgestimmten Strategie fehlt, dass den Nazis der öffentliche Raum nicht überlassen werden darf.