Am 11.11.2020 veröffentlichte die NPD ein Video, in dem Vorsitzender Udo Voigt Nerstheimer offiziell als neues Mitglied vorstellt. Die beiden älteren Rechtsextremen holpern dabei durch ein Gespräch, in dem der Parteivorsitzende die angeblich mangelnde Radikalität der AfD beklagt und das neue NPD-Mitglied seine gescheiterte AfD-Karriere zusammenfasst. Vor den beiden stehen werbewirksam Dosen des parteieigenen Energydrinks.
Der sechsfach vorbestrafte Nerstheimer – unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Volksverhetzung, Betrug, Fahrerflucht, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Verletzung der Unterhaltspflicht – hat den Bezirksverband Lichtenberg mitgegründet: „Ich bin Mitglied der AfD von Anfang an“, erzählt er Voigt.
Vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 machte der rbb öffentlich, dass Nerstheimer Chef der „German Defence League“ (GDL) war, einer rassistischen und muslimenfeindlichen Gruppierung, die vom Bremer Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. In einem Facebook-Post hatte er angekündigt, die GDL zu einer Miliz „aufzubauen“. Er war auch Mitglied der muslimfeindlichen Kleinstpartei „Die Freiheit“.
Bei der Wahl im September 2016 gewann Nerstheimer mit 26 Prozent das Direktmandat für den Wahlkreis Lichtenberg 1 für die AfD. Der damalige Landeschef Georg Pazderski sprach dem Parteikollegen sein Vertrauen aus. In einem Gespräch habe sich Nerstheimer „glaubhaft von seiner früheren Mitgliedschaft distanziert“. Man müsse Menschen eine „zweite Chance“ geben. Auch Frank-Christian Hansel, angeblich liberaler Schatzmeister der AfD Berlin und ebenfalls Mitglied im Abgeordnetenhaus, gab an, keinen Fraktionsausschluss verlangen zu wollen. Dabei war es nicht das erste mal. Schon im Sommer 2015 wurde im Berliner Landesverband ein Parteiausschluss gegen Nerstheimer vorbereitet, darüber wurde unter dem Landesvorstand um Beatrix von Storch und Georg Pazderski nicht mehr abgestimmt, wie die FAZ 2016 berichtete.
Das sieht kurz danach anders aus. Es wird bekannt, dass Nerstheimer extreme Hassbotschaften über soziale Medien verbreitet hatte. Geflüchtete bezeichnete er als „einfach widerliches Gewürm“, Asylbewerber*innen als „Parasiten, die sich von den Lebenssäften des deutschen Volkes ernähren“. Homosexuelle seien eine „degenerierte Spezies“ und würden sich „widernatürlich benehmen“, außerdem sei es „kein Verdienst diesen Gendefekt zu besitzen“. Es hätte „schon seinen Sinn, das (sic!) sich Homosexuelle nicht vermehren können, so löscht die Natur Fehler im Programm.“ Er relativierte NS-Massaker und verbreitete revisionistische Verschwörungserzählungen.
Die AfD-Fraktion in Berlin konstituiert sich ohne Nerstheimer, er unterschreibt, dass er auf seinen Platz verzichtet und zieht als fraktionsloser Abgeordneter ins Parlament ein. Nach Druck von außen und aus der eigenen Partei beschließt die Partei im Oktober 2016 ein Parteiausschlussverfahren gegen Nerstheimer.
2018 wird Nerstheimer wegen Volksverhetzung zu 7.000 Euro Strafe verurteilt, in zweiter Instanz sind es noch 5.000 Euro. Gegen das Urteil hatte der Abgeordnete Revision angekündigt. Nach fast vier Jahren Parteiausschlussverfahren ist Nerstheimer seit Januar 2020 kein AfD-Mitglied mehr.
Sein Wechsel zur NPD ist nicht ganz überraschend. Bereits im Januar 2020 besuchte Nerstheimer zusammen mit dem baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon – seit März 2020 ausgeschlossen – ein „Dienstagsgespräch“ in Berlin. Seit über 25 Jahren werden sie vom NPD-Kader Hans-Ulrich Pieper aus Charlottenburg unter Geheimhaltung organisiert. Früher waren hier auch zum Teil Spitzenpolitiker eingeladen, mittlerweile kommen auch rechtsextreme YouTuber wie der „Volkslehrer“ Nikolai Nerling zu Wort. Bei der Veranstaltung im Januar waren mehrere NPD-Vertreter, darunter auch Udo Voigt, der Berliner Vorsitzende Andreas Käfer und sein Stellvertreter vor Ort.
Kay Nerstheimer ist der einzige Abgeordnete der NPD auf Länderebene. Politischen Einfluss gewinnt die rechtsextreme Partei wenig. Das Berliner Abgeordnetenhaus sieht vor: „Fraktionslose Abgeordnete, die auch keiner Parlamentarischen Gruppe angehören, können in den Ausschüssen ohne Stimmrecht mitarbeiten. Sie haben Rederecht im Plenum und können sich durch Änderungsanträge an der parlamentarischen Arbeit beteiligen.” Nerstheimer ist bisher allerdings weniger durch parlamentarische Arbeit, als durch Hasskommentare aufgefallen. Für die NPD ist es ein kleiner Erfolg. Einen Abgeordnetensitz zu erringen liegt für die Partei eigentlich aktuell außerhalb ihrer Möglichkeiten. Die Wahlergebnisse sind seit Jahren desaströs. Wenn die Partei überhaupt noch antritt, schaffen ihre Vertreter*innen es meist nicht über die Ein-Prozent-Marke. Seit dem Erstarken der AfD sind die Wähler*innen der Rechtsextremen anders verpflichtet. Selbst Kader aus den eigenen Reihen, wie der NPD-nahe Neonazi Tommy Frenck, rufen mittlerweile zur Wahl der AfD aus. Nerstheimer scheint sich jedenfalls wohlzufühlen und erzählt Voigt im Interview: „Ich habe mich politisch nicht verändert. Ich bin in meinen politischen Ansichten immer noch auf dem gleichen Weg, aber die AfD nicht mehr. Dann kann man auch zum Original gehen.“