Am 29. April wandte sich der Sprecher des „Netzwerks der Migrantenorganisationen in MV“, Imam-Jonas Dogesch, in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Rostock. Für den 1. Mai hatte die NPD bereits seit längerem für eine überregionale Demonstration mobilisiert. Ein breites Bündnis gegen die Nazi-Demo hatte sich ebenfalls formiert, welches von Antifa-Gruppen bis Kirchen und Stadteilbegegnungsstätten reichte Man hätte meinen können, die Stadt zeige sich zufrieden über das zivilgesellschaftliche Engagement ihrer Bürger*innen. Schließlich hatten Neonazis noch vor 4 Jahren weitgehend ungestört in Rostock marschieren können. Doch das Gegenteil war der Fall, der Oberbürgermeister sollte noch eine unrühmliche Rolle in den Ereignissen um den 1. Mai spielen. Deshalb brachte Dogesch seine Besorgnis zum Ausdruck: „Sehr geehrter Herr Methling, ich habe eben erfahren, dass die Stadtverwaltung versucht, die geplanten Protestaktionen gegen den NPD-Aufmarsch am 1. Mai in Gross Klein in Sicht- und Hörweite zu unterbinden. […] Das ist ein verheerendes Signal und kann außerdem dazu führen, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und den Sicherheitskräften kommt. Das wollen wir auf jeden Fall vermeiden.“ Die Demonstrationsroute war bereits von Dierkow und Toitenwinkel nach Gross Klein verlegt worden. Der ursprüngliche Aufmarsch hätte beinah direkt am Tatort des NSU-Mordes an Mehmet Turgut vorbeigeführt – eine wohlkalkulierte Provokation der NPD um Anmelder David Petereit. Gross Klein war für die Nazis wohl deshalb akzeptabel, weil sie in unmittelbarer Nähe des Sonnenblumenhauses hätten demonstrieren können – dort, wo im Jahr 1992 der von der Staatsmacht nicht gebremste Pogrom stattfand.
Gegendemonstrant*innen als Sicherheitsrisiko
In Gross Klein machte die zuständige Behörde zunächst jeglichen Gegenprotest durch haarsträubende Auflagen und Verbote unmöglich. Dabei stützte sie sich auf die Gefahrenanalyse der Polizei. Diese sprach von etwa 1.000 gewaltbereiten Demonstranten aus der linken Szene. Um die Gewaltbereitschaft der Linken nachzuweisen, zog sie einen Protest gegen einen Nazi-Laden von vor sieben Jahren und Obstwürfe in Richtung von Neonazis im Vorjahr heran. Im Gegensatz dazu ging die Polizei davon aus, dass der NPD an einem „rechtmäßigen Verlauf der Versammlung“ gelegen wäre. Über den bunten Strauß an Straftätern, die sich dann tatsächlich auch unter den 350 marschierenden Nazis befanden, verlor sie kein Wort. Erst wenige Stunden vor dem geplanten Beginn der Nazi-Demonstration, in der Nacht zum 1. Mai, lies das Oberverwaltungsgericht eine einzige Gegendemonstration zu. Ein Straßenfest in dem Stadtteilbegegnungszentrum „Börgerhus“ blieb verboten. Torsten Sohn, Sprecher des Aktionsbündnis „1. Mai Rostock nazifrei“, hielt fest: „Es ergibt sich der Eindruck, dass Gegendemonstrant*innen ausschließlich als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden.“ So wurden zwischenzeitlich 75 Radfahrer*innen von vier Wasserwerfern daran gehindert, zu einer angemeldeten und genehmigten Kundgebung zu gelangen. Kein Einzelfall an diesem Tag. Für Sohn eine Mischung aus „Überforderung und Inkompetenz“ seitens der Polizei.
Lippenbekenntnisse des Oberbürgermeisters
Dass die Neonazis nicht in Gross Klein marschieren konnten und ihre Demonstration auf einer Alternativroute in Dierkow letztendlich frustriert abbrachen, ist also ausschließlich der Ausdauer und Kreativität der Tausenden von Gegendemonstrant*innen zu verdanken. Die Stadtverwaltung hat ihr allermöglichstes getan, den Neonazis und ihrer Demonstration Erfolg zu bescheren, auch wenn Oberbürgermeister Methling im die zivilgesellschaftliche Courage derjenigen lobte, die für ihn vorher noch gewaltbereite Linksextreme waren: „Schon die Vielfalt der Versammlungsanmeldungen dokumentiert in beeindruckender Weise, dass rechtsradikales Gedankengut in Rostock keinen Platz haben darf.“ Für Torsten Sohn ein klares Lippenbekenntnis. Methling beteiligte sich in keiner Weise an den Protesten, und schweigt bis heute weitestgehend zur Vorgehensweise der Stadt. Auch die Polizei bekleckerte sich in Rostock nicht mit Ruhm. Der Darstellung der Polizei, sie habe ihr Bestes getan, um Protest in Hör- und Sichtweite der Neonazis zu ermöglichen, widerspricht das Aktionsbündnis entschieden. Ihre Bereitschaft, den Neonazis den Weg frei zu räumen, verwandelte sich nach Auflösung der Nazi-Demo in Überforderung mit den Rechten. Den Neonazis war es so ein Leichtes, an der Polizei vorbei zu spazieren und Antifaschist*innen anzugreifen.
Konfettiwürfe = Randale?
Offensichtlich wurde die Strategie der Härte und der Kriminalisierung von der Polizei als Erfolg gewertet. Denn in Demmin, wo Neonazis am 8. Mai ihren Geschichtsrevisionismus pflegen wollten, setzte sich das Verhalten der Polizei nahtlos fort. Hier stellten sich rund 400 friedliche und mit Luftballons und Konfetti „bewaffnete“ Gegendemonstrant*innen den etwa 200 Rechten entgegen. Dabei schuf die Polizei selbst unübersichtliche Situationen, indem sie Neonazis in geringem Abstand an Sitzblockaden von Antifaschist*innen vorbeiführte. Das Ganze gipfelte in der brutalen Festnahme eines französischen Gegendemonstranten, der deshalb im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt werden musste. Die Polizei zeichnete ein gänzlich anderes Bild der Gegenproteste. Sie sprach von Randale, drei verletzten Polizisten und wachsender Gewaltbereitschaft von „Linksextremisten“.
Die Mitteilung der Polizei wurde zunächst von den meisten Zeitungen fast gänzlich unkommentiert übernommen. Dabei waren eigentlich jede Menge Pressevertreter*innen vor Ort, die die Geschehnisse anders wahrgenommen hatten. Trotzdem war die Polizei so in der Lage, die bundesweite Berichterstattung über die Gegenproteste in Demmin maßgeblich mitzubestimmen, und den Fokus auf eine angeblich gewaltbereite Linke zu legen. Spätestens nach den Ereignissen um linke Demonstrationen in Hamburg Anfang des Jahres, aufgrund derer große Teile der Hamburger Innenstadt zum „Gefahrengebiet“ erklärt wurde, hätte es die Presse eigentlich besser wissen können. Damals musste die Polizei mehrfach einräumen, es in ihren Mitteilungen mit der Wahrheit nicht ganz genau genommen zu haben, um ein härteres Vorgehen gegenüber linken Demonstrant*innen zu rechtfertigen.
Widersprüchliche Polizeiangaben
In ihrer Mitteilung aus Demmin spricht die Polizei davon, dass der anschließend schwer verletzte Demonstrant selbst derjenige gewesen sei, der drei Polizisten angegriffen und verletzt habe. Dem widersprechen sämtliche Augenzeugen, anwesende Fotograf*innen und vorhandenes Fotomaterial. Der Mann habe mit anderen Demonstrant*innen in einer Sitzblockade gesessen und mit Konfetti geworfen. Bei der Auflösung der Blockade wurde er dann verhaftet. Auf Bildern ist zu sehen, wie sich bereits 3 Polizisten über den Demonstranten beugen und ihm mit Schmerzgriffen ins Gesicht greifen, während dieser noch auf der Straße sitzt. Auch auf sämtlichen anderen Bildern der Festnahme ist nicht nachzuvollziehen, bei welcher Gelegenheit der Demonstrant in der Lage gewesen sein soll, die Polizisten zu verletzen. Zu jeder Zeit umgeben ihn mehrere Beamte und halten seine Hände auf dem Rücken. Der Betroffene hat mittlerweile angegeben, einen Polizisten gebissen zu haben. Ein Beamter habe ihm die Nase zugehalten und einen Finger in der Mund gesteckt. Das „Aktionsbündnis 8. Mai Demmin“ spricht von einem „normalen medizinisch-psychologischen Reflex“.
Neonazis feiern die Polizei
Nach allen Augenzeugenberichten der Geschehnisse in Demmin kann der Eindruck nicht ausbleiben, dass es sich bei der Angabe von drei verletzten Polizisten um eine Schutzbehauptung der Beamten handelt, die von der Härte des eigenen Handelns ablenken soll. Die Neonazis äußern sich auf einschlägigen Internetseiten begeistert über den vollen Körpereinsatz der Polizei für ihre Sache: „Einige Sitzblockaden wurden elegant umgangen und ansonsten sorgte die Polizei für den gebührenden Abstand, die sich – anders als eine Woche zuvor in Rostock – gegen renitente Linksextremisten konsequent durchsetzte. Die Feierstunde fand in diesem Jahr sogar völlig störungsfrei statt.“ Die „Feierstunde“ fand nicht nur ohne Störungen, sondern auch fast gänzlich ohne Presse statt. Diese wurde auf Forderung der Neonazis von der Polizei hinter die großzügig angelegte Polizeikette verbannt. So war es auch für Pressevertreter*innen nicht möglich, etwaige Straftaten wie Volksverhetzung nachzuvollziehen. Ob das Vorgehen der Polizei hierbei überhaupt rechtens war, ist zweifelhaft. Ein Hausrecht gegenüber der Presse einzufordern ist zwar auf gemietetem Gelände oder Gebäuden möglich, ob dies aber ebenfalls im öffentlichen Raum während einer Demonstration gelten kann, ist noch fraglich.
Strategie der Abschreckung
Heute steht der Polizeieinsatz in Demmin in der Kritik. Der verletzte Demonstrant aus Frankreich hat eine Klage gegen die Polizei angekündigt. In einer Pressemitteilung rügt die Landtagsfraktion der Grünen die Polizeistrategie: “ Auf der einen Seite wollen wir viele Bürgerinnen und Bürger dazu motivieren, den Rechtsextremen entgegen zu treten und gegen sie zu demonstrieren. Auf der anderen Seite wird eine Polizeistrategie gefahren, die ich in ihrer Härte und Kompromisslosigkeit für überzogen und unangemessen halte. So schreckt man Bürgerinnen und Bürger ab.“ Innenminister Lorenz Caffier zeigt sich nichts desto trotz unbeeindruckt, und stellt in einem Gespräch mit dem „Nordkurier“ die Frage, was denn ein Franzose in Demmin überhaupt zu suchen haben. Damit übernimmt Caffier haargenau die Argumentationslinie der Neonazis, die bereits am 13. Mai von „herangekarrtem Gesindel für die Drecksarbeit“ sprachen. Die Delegitimierung des Protests durch die Chimäre der „linksextremen Krawalltourist*innen“ kann somit unter Umständen die Verwurzelung des Engagements gegen Neonazis untergraben. Sie ist ein Schlag ins Gesicht für alle Antifaschist*innen in Mecklenburg-Vorpommern, die sich seit Jahren demokratisch gegen neonazistische Umtriebe zur Wehr setzen.
Polizeigewalt zum Thema machen
Ebenso zeigt sich wieder einmal, wie schädlich eine Gleichsetzung von „linksextremen“ Protestierenden mit Neonazis ist. Sie beruht auf einer Argumentationslinie, die letztendlich rechtsterroristische Morde mit dem Werfen von Konfetti und Obst gleichsetzt – und ersteres dadurch verharmlost. Die jetzige Strategie der Polizei, der Stadtverwaltung in Rostock und des Innenministers ermutigt Neonazis, in dem sie ihre Argumente reproduziert, und erweckt den Eindruck, wahre Gefahr ginge ausschließlich von zivilgesellschaftlichem Engagement gegen Neonazis aus. Und sie stärkt sicherlich auch militante Strömungen in der Linken, die es leid sind, für ihren Gewaltverzicht Prügel von der Polizei zu beziehen. Sie führt also nur zur Eskalation von Neonazi-Demonstrationen und den damit verbundenen Gegenprotesten – statt, was andernorts sehr erfolgreich funktioniert, die demokratischen Menschen zu stärken, damit mehr Personen jeglichen Alters und Backgrounds zur Teilnahme an Protesten zu ermutigen.
Deshalb müssen die Geschehnisse in Demmin und Rostock aufgearbeitet werden, und darf sich auch die Landesregierung nicht scheuen, Polizeigewalt zum Thema zu machen. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Neonazis kann nicht funktionieren, wenn es die Behörden kriminalisieren.