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Pussy Riot „Männer haben diesen Krieg begonnen“

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Punks gegen Putin: Pussy Riots aktuelle Tour „Riot Days“ steht im Zeichen des Protests gegen die russische Invasion der Ukraine
Punks gegen Putin: Pussy Riots aktuelle Tour „Riot Days“ steht im Zeichen des Protests gegen die russische Invasion der Ukraine (Quelle: picture alliance/EPA/Estela Silva)

2012 sorgt Pussy Riot für internationale Schlagzeilen: „Gottesmutter, du Jungfrau, vertreibe Putin“, singen sie vom Altar der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Nach 41 Sekunden ergreifen sie die Flucht vor den herbeigeeilten Sicherheitskräften. Doch ihr Punk-Gebet hallt rund um den Globus wider. Die Aktion hat für die Putin-Gegner*innen schwere Konsequenzen: Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina müssen für mehr als ein Jahr hinter Gitter, andere Mitglieder der Gruppe bleiben dank ihrer berühmten Sturmhauben unerkannt.

Zehn Jahre später engagiert sich Pussy Riot weiterhin gegen Russlands autoritäre Regierung. Ihre aktuelle Tour „Riot Days“ steht im Zeichen des Protests gegen die Invasion der Ukraine. Um daran teilzunehmen, muss die unter Hausarrest stehende Aljochina als Pizzabotin verkleidet aus Moskau fliehen. Nach ihrem Konzert am 9. September 2022 im Leipziger Täubchenthal treffen wir Bandmitglied Diana Burkot im Backstage zum Gespräch. Burkot ist Mitte dreißig und das musikalische Mastermind hinter dem Projekt. Beim vorherigen Tourstop verletzte sie sich beim Stagediven den Fuß, ihre Krücken hat sie neben sich auf der Couch platziert. Burkot spricht routiniert, es ist nicht ihr erstes Interview auf dieser Tour. Später holt sie Taso Pletner dazu, das jüngere Bandmitglied freut sich, dass endlich ein Interview auf Russisch stattfindet.

Belltower.News: Pussy Riot ist in Europa. Nach Ihrem Konzert wird klar, Sie sind hier mit einer politischen Mission. Wie würden Sie die beschreiben?

Diana Burkot: Wir sind auf einer Antikriegs-Tour mit zwei Missionen. Erstens: Europa zu einem Gas und Öl Embargo aufrufen, denn ihr Kauf finanziert den Krieg. Zweitens: Wir wenden uns an Menschen, damit sie ihre eigenen Aktionen machen, aktiv werden und am politischen Leben ihres Landes teilnehmen. Überall gibt es eigene Probleme. Man kann unangenehme Fragen stellen, auf die Straße gehen, mit Leuten reden. Jegliches Engagement gegen den Krieg finden wir begrüßenswert.

Dennoch scheint der Krieg weit weg von den Menschen in Europa. Wie erleben Sie die Stimmung hier?

Burkot: Man merkt, der Krieg ist in den Hintergrund getreten. Er ist nun eine Art Kulisse. Alle scheinen etwas müde geworden zu sein. Sie sind den Stress und die Anspannung leid, falls sie sie je verspürt haben. Dennoch geht der Krieg weiter, jeden Tag sterben Menschen. Darüber reden wir bei unseren Auftritten. Sie sind nicht einfach Konzerte, wir nutzen die Bühnen als Plattformen für unseren Aktivismus.

Wie fühlt sich das in Deutschland an?

Burkot: Deutschland kauft viel russisches Gas und Öl. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 gab es außerdem ein Embargo gegen Waffengeschäfte mit Russland. Deutschland war unter den drei größten Staaten, die Russland dennoch Waffen verkauft haben: Sie haben Einzelteile verkauft und so eine Umgehungsmöglichkeit gefunden. In Deutschland ließe sich also über vieles reden.

Pussy Riot tritt seit vielen Jahren gegen Putin auf. Und ausgerechnet zehn Jahre nach Ihrem Moskauer Punk-Gebet am 21. Februar 2012, auf den Tag genau, hält der Präsident seine kriegsvorbereitende Rede über die Anerkennung der Volksrepubliken von Donezk und Luhansk. Viele von Ihnen können jetzt nicht nach Russland zurück. Wie ist die Situation in Russland seit Kriegsbeginn?

Burkot: Die Propaganda funktioniert. Ich kann ein persönliches Beispiel geben. Mein Vater lebte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in der Ukraine, in der Stadt Cherson. Ich erinnere mich, wie wir zu den Maifeiertagen zu den Großeltern dort hin fuhren. Als der Krieg begann, erklärte mir mein Vater nach langen Gesprächen mit erhöhter Lautstärke, dass ich eine Faschistin sei. Er unterstützt Putin vollkommen, schaut sehr viel Solowjow und ähnlichen Wahn. Wenn er anfängt, mit mir zu reden, höre ich Phrasen, die wie aus dem Fernseher klingen. Er wiederholt sie einfach.

Der TV-Moderator Solowjow ist einer der wichtigsten Kreml-Propagandisten. Jemand wie ihn sollte man vermutlich nicht wiederholen.

Burkot: Solowjow ist aggressiv, er ist eine schreckliche Person. Nicht nur, dass er Menschen beleidigt, er steckt andere mit dieser Energie an. Auch mein Vater ist wegen ihm hart und aggressiv geworden. Das ist ein Beispiel dafür, was in sehr vielen Familien passiert. Die Menschen finden keine gemeinsame Sprache. Die ältere Generation, die viel fernsieht, ist gänzlich von der Propaganda vergiftet.

Was Sie beschreiben, lässt sich auch in Deutschland unter russischsprachigen Migrant*innen und ihren Kindern beobachten. Es gibt die Befürchtung, dass der Kreml auch im Ausland einen Informationskrieg führt.

Burkot: Ich verstehe nicht, wie manche Leute denken. Das ist doch unlogisch. Sie halten sich beispielsweise in Deutschland auf und wissen, Nazi-Deutschland war einst hier. Und dann behauptet Russland, dass es erneut einen Befreiungskrieg führt, einen Krieg für den Frieden, gegen den Faschismus. Wie bekommen diese Menschen, etwa die Russischsprachigen in Deutschland, das in ihren Köpfen zusammen? Das ist wahrlich ein Durcheinander.

In einem anderen Interview erzählen Sie, dass Pussy Riot an einer EP über Propaganda arbeitet.

Burkot: Vor etwa vier Monaten, während der Tour, haben wir ein Antikriegslied geschrieben. Damit schließen wir unsere Performance. Und jetzt ist schon die Hälfte des nächsten Songs fertig, der sich mit Propaganda befasst. Die ganze EP wird sich aus drei, maximal vier Liedern zusammensetzen, die verschiedene Fragen beleuchten: Patriotismus, Propaganda, vielleicht die russisch-orthodoxe Kirche. All diese Institutionen folgen ungefähr demselben Skript und sind miteinander verknüpft.

Pussy Riot in Leipzig: Punk-Konzert trifft auf Performance, Privates auf Politisches, Biografisches auf Öffentliches (Quelle: Diana Burkot)

Warum glauben so viele diesem Skript? Es scheint, als gäbe es eine Ideologie, an die die Menschen gerne glauben, auch wenn sie nicht sonderlich plausibel ist.

Burkot: Was die Ideologie betrifft, bin ich mir unsicher. Wir besprechen das regelmäßig im Kollektiv und sind zum Schluss gekommen – das ist nicht mein eigener Gedanke –, dass es im Moment eigentlich keine Ideologie gibt. Es gibt kein Manifest der sogenannten herrschenden Elite oder etwas Vergleichbares. Mir scheint, dass die Propaganda einzig deshalb funktioniert, weil es Schwierigkeiten bei der Bildung gibt und den Leuten kein kritisches Denken beigebracht wird.

Dennoch entsteht manchmal der Eindruck, dass unter Russ*innen das Gefühl einer Kränkung verbreitet ist. Die Russischsprachigen, die in Deutschland auf Pro-Putin-Kundgebungen gehen, machen das gerade wegen des Grolls darüber, man würde sie verfolgen, weil sie Russ*innen sind.

Burkot: Das stimmt wohl. So etwas wie: „Wir waren solch ein tolles Land, die riesige legendäre Sowjetunion.“ Auch im orthodoxen Christentum gibt es den Gedanken, dass wir ein besonderes Volk sind, von allen aber mit Verachtung behandelt werden. Jetzt, wo ich mich außerhalb Russlands aufhalte, sehe ich aber keine verbreitete Russophobie. Ich denke, auch diese Vorstellung wird den Leuten aufgedrückt.

Burkot sieht Bandkollegen Taso Pletner im Flur am Backstage vorbeilaufen und lädt ihn ein, am Gespräch teilzunehmen. Pletner geht zum Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Er ist direkt, bei seiner Kritik an Putin und der russisch-orthodoxen Kirche nimmt er kein Blatt vor den Mund.

Wie lässt sich der Propaganda entgegenwirken?

Pletner: Ich habe sehr viel dokumentarisches Theater gemacht, das ganze Land bereist und mit vielen Menschen gesprochen. Die Arbeit gegen Propaganda funktioniert nur face-to-face, sie ist etwas Persönliches. Ich war in Moskau, als der Krieg anfing und meine Haare waren in den Farben der ukrainischen Flagge eingefärbt. Ich wurde von Putin-Fans angemacht und habe jedes Mal versucht, mit ihnen zu sprechen. Es funktioniert nur, wenn man auf Augenhöhe mit den Menschen spricht und sich nicht über oder unter sie stellt. Man muss zuhören und dann versuchen, zu antworten.

Das braucht aber viel Zeit und viele Ressourcen. Wer soll diese Arbeit leisten?

Burkot: Das ist teilweise das, was wir auf der Bühne machen. Mascha [Pussy-Riot-Mitglied Maria Aljochina] hat ein Buch über den Auftritt in der Kirche und die skandalösen Haftbedingungen geschrieben. Über diese persönliche Geschichte, die wir um eine Antikriegs-Message erweitern, erzählen wir, was wirklich in Russland geschieht.

Pletner: Mir scheint, dass es nicht nur darum geht, was man sagt, sondern auch darum, zuzuhören. Wenn man dokumentarisches Theater macht, hört man in erster Linie zu. Man will nichts beweisen, nur zuhören. Bevor man etwas sagt, muss man zuhören können. Dafür stehe ich ein. Und dafür soll man so viele Ressourcen aufwenden, wie man entbehren kann.

Pussy Riot engagiert sich nicht nur gegen Putin, es ist auch ein queer-feministisches Projekt. Auf welche Probleme stößt der Feminismus in Russland?

Burkot: Anfangs war die feministische Agenda sehr wichtig für uns. Der russische Staat und die vorherrschende Denkweise sind zutiefst sexistisch und machohaft. Häusliche Gewalt ist beispielsweise straffrei…

Pletner: …der Patriarch Kyrill trat erst vor wenigen Tagen erneut gegen eine etwaige Kriminalisierung auf. Er nannte es Schwachsinn und sagte, dass häusliche Gewalt vollkommen straffrei bleiben müsse.

Burkot: Im Allgemeinen sind Frauen immer noch von bestimmten Berufen ausgeschlossen. Statistiken zeigen, dass Frauen in den gleichen Positionen schlechter bezahlt werden. Wir haben keine First Lady, in der Politik gibt es so gut wie keine Frauen. Die, die es gibt, unterstützen eher Misogynie und das sexistische Regime. Russland hat übrigens eine exzellente, weibliche Antikriegsbewegung. Es verwundert nicht, dass sich gerade Feministinnen aktiv gegen den Krieg engagieren. Außerdem waren es Männer, die diesen Krieg begonnen haben.

Noch mehr als beim Feminismus ist die Ablehnung von LGBTQIA wichtiges Element der putinschen Propaganda.

Pletner: Der Krieg hat die gesamte Queer- und Frauenrechtsagenda in Russland um 20 Jahre zurückgeworfen. Momentan provozieren diese Themen zunehmend Ärgernis. Gab es zuvor ein Verbot von „LGBT-Propaganda“ unter Minderjährigen, wird seit einem Monat ein Gesetz über ein vollkommenes Propagandaverbot diskutiert: Wenn jemand dann in einer Bar oder sonst wo sagt, dass er gay sei, wäre das schon Propaganda für Homosexualität.

Wie weit verbreitet ist Homofeindlichkeit?

Pletner: Ich fuhr neulich mit meiner besten Freundin an die Wolga. Sie hatte eine Taufe. Ich bin seit langem wieder in eine Kirche rein, dort waren viele junge Leute. Das war eine kleine Stadt, und die Kirche ist einer der wenigen Orte, wo sie hin können. Der Priester predigte darüber, dass Homosexuelle Finsternis und Hölle bringen. Ich ging raus und blieb der Kirche danach fern.

Burkot: Es ist traurig. Alles sieht nach einem Regress aus. In der ganzen Welt gibt es heute weitaus mehr rechtes, konservatives Gedankengut. In Polen sind Abtreibungen verboten, auch in den USA ist es zum Sommer bereits in manchen Staaten geschehen. Das ist Wahnsinn.

Viele von Putins Unterstützer*innen in Europa sehen in seinem Russland gerade die Verkörperung traditioneller Werte, ein Gegengewicht zum degenerierten Westen.

Burkot: Russland aus der Ferne zu lieben, ist leicht. Würden diese Menschen in Russland leben, würden sie ihre Meinung ändern, allein schon wegen der sozialen Lage.

Glaubt Pussy Riot an ein Russland ohne Putin?

Burkot: Natürlich. Dafür kämpfen wir. Das ist unser gemeinsamer Traum: Wir wollen Putin in Den Haag als Angeklagten sehen, weil er ein Terrorist ist. Für andere Tyrannen, die ihre Macht missbrauchen, wäre das eine wichtige Lehre darüber, wie man sich nicht verhalten darf. Das wunderbare Russland der Zukunft existiert und es muss Wirklichkeit werden.

Was würde Pussy Riot dann machen?

Pletner: Dieses ganze Geheimdienst-System wird nicht verschwinden, nur weil man eine Person entfernt.

Burkot: Auf der Agenda stehen viele andere Punkte. Es ist falsch anzunehmen, dass Pussy Riot ihr gesamtes Engagement einzig auf dem Widerstand zum System Putin aufbauen. Uns geht es um den Kampf für Bürger- und Menschenrechte und hier gibt es noch viel zu tun.

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