Es gibt Biographien, bei denen man sich fragt, wieso sie eigentlich noch nicht verfilmt worden sind; das Leben von Claude Cahun und Marcel Moore zählt dazu. Cahun und Moore waren die großen Lieben ihres Lebens, in ihrem Spielen mit Geschlechtergrenzen wegweisende Künstler*innen des Surrealismus, und antifaschistische Widerstandskämpfer*innen. Lange, bevor Begriffe wie „nichtbinär“ oder „agender“ öffentlich thematisiert wurden, schrieb Cahun in der Autobiographie Aveux non Avenus: „Männlich? Weiblich? Das hängt von der Situation ab. Das einzige Geschlecht, das immer zu mir passt, ist neutral.“
Cahun wuchs als Kind einer gut situierten jüdischen Intellektuellenfamilie im französischen Nantes auf, und erlebte von klein auf antisemitische Diskriminierung in der Schule. Moore kam ebenfalls aus intellektuellen Verhältnissen in Nantes und studierte an der Kunsthochschule. Die beiden lernten sich 1909 kennen und lieben – der Beginn einer lebenslangen künstlerischen, intellektuellen und romantischen Beziehung. Dass Marcels Mutter 1913 Claudes Vater kennenlernte und heiratete, brachte die beiden noch enger zusammen.
Cahun und Moore zogen 1922 nach Paris und knüpften Kontakte zur surrealistischen Kunstbewegung. Aufgrund des Sexismus der avantgardistischen Gruppierung und ihrer Führungsfiguren gelang es ihnen jedoch nie, fester Teil der „Surrealisten“ zu werden, obwohl gerade Cahuns Selbstportraits in ihrer genderqueeren Inszenierung und der ästhetischen Komposition als wegweisend begriffen werden müssen.
Ab 1925 nahm Cahun den Vornamen „Claude“ an und tauschte den Nachnamen der Eltern, „Schwob“, gegen den „meiner obskuren jüdischen Verwandten Cahun ein, mit denen ich mich mehr verbunden fühlte“. Claude begann, sich den Kopf zu rasieren und Männerkleidung zu tragen, der Beginn einer lebenslangen ästhetischen Auseinandersetzung mit sowohl jüdischer als auch geschlechtlicher Identität. Auch Marcel Moores änderte zur gleichen Zeit den Namen. Moores Illustrationen in Modemagazinen arbeiteten mit dem Überschreiten von Geschlechtergrenzen und dem Zelebrieren von Androgynität.
Der Aufstieg des Faschismus in Europa bewegte das Paar dazu, sich in der antifaschistischen Organisation Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires zu engagieren, der unter anderem auch der Dadaist Man Ray und der Fotograf Henri Cartier-Bresson angehörten. 1937 verließen sie Paris und fanden ihre neue Heimat auf der zwischen England und der Normandie gelegenen Insel Jersey, wo sie als queere Künstler:innen einiges Aufsehen erregten. Sie verblieben in Jersey, selbst als die Nazis 1940 die Insel besetzten und begannen ihren klandestinen Propagandakampf gegen die Besetzer.
Marcel und Claude fokussierten sich auf die Demoralisierung deutscher Truppen. Sie verfassten deutschsprachige Briefe und Flugblätter, in denen sie sich als deutsche Soldaten ausgaben, die an der Sinnhaftigkeit des Krieges und des Hitler-Regimes zweifelten, erweckten gleichzeitig den Gedanken, dass es innerhalb der eigenen Reihen Widerstand gäbe und hinterfragten so die innere Geschlossenheit. Die Zettel steckten sie in die Autos oder Taschen deutscher Soldaten oder schoben sie in Zigarettenschachteln, die an Deutsche verkauft wurden. Um Soldaten direkt zu erreichen, verkleideten sich die beiden und besuchten Militärparaden in Jersey,. An der lokalen Kirche befestigten die Aktivist:innen ein Plakat mit der Aufschrift „Jesus ist groß, aber Hitler ist größer. Jesus starb für die Menschen, während die Menschen für Hitler sterben.“
1944 wurden Cahun und Moore verraten, die beiden Aktivist:innen wurden von den Nazis inhaftiert und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde begründet mit den Worten: „Auch wenn Sie geistige Waffen verwendet haben anstatt Feuerwaffen, handelt es sich um ein sogar schwereres Verbrechen. Bei Feuerwaffen weiß man sofort, welcher Schaden begangen worden ist, aber bei geistiger Brandstiftung weiß man nicht, wie weit sie reicht.“
Glücklicherweise gelang es dem Paar, zu überleben, nach dem alliierten Sieg über die Nazis wurden sie aus dem Gefängnis befreit. Dennoch sollte der Rest ihres Lebens von dem erfahrenen Leid überschattet bleiben: Die Wehrmachtssoldaten, die sie zum Hinterfragen ihres Krieges bewegen wollten, hatten ihre Kunst und ihren Wohnsitz zerstört. Claude hatte schwere gesundheitliche Nachwirkungen von der Zeit im Gefängnis, die 1954 ihren Tribut forderten. Marcel nahm sich 1972 das Leben; sie beide liegen nebeneinander begraben.
Der Historiker Jeffrey H. Jackson schreibt über die beiden Künstler:innen: „Der Kampf gegen die deutsche Besatzung Jerseys war der Höhepunkt eines lebenslangen Widerstandsverhaltens, das schon immer eine politische Schärfe in die Sache der Freiheit trug, während sie sich ihre eigene rebellische Art des Zusammenlebens in der Welt erarbeiteten. Für sie war das Politische immer zutiefst persönlich.“
Die Biographien der Personen, die in der Reihe zu queerem Widerstand vorgestellt werden, sind dem Buch „Resistance – The LGBTQ Fight against Fascism in WWII“ von Avery Cassell entnommen. Das E-Book gibt es hier.