Ein Fahnenmeer überschwemmt die Straße des 17. Juni an diesem spätsommerlichen Samstag: Neben Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot wehen auch die Farben des Regenbogens. Ohne Abstand – politisch sowie physisch. Was hat aber die Reichsflagge mit dem weltweiten Symbol queerer Emanzipation zu tun? Antwort: Nichts. Es handelt sich hier um die PACE-Flagge der Friedensbewegung.
Zehntausende Demonstrant*innen sind am Wochenende vom 29.08.2020 nach Berlin gekommen, um gegen die Infektionsschutzmaßnahmen der Bundesregierung zu protestieren. So heißt es zumindest offiziell. In Wirklichkeit wirkt dieses Anliegen schlicht wie eine Fassade: Vielmehr geht es einigen Teilnehmenden um die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien und die Propagierung rechtsextremer Ideen. Die breite Masse der selbsternannten „Querdenker“, genau wie die Organsiator*innen, toleriert diese Ideologien, ohne sich zu distanzieren. Rechtsextreme Akteur*innen verkaufen die „Toleranz“ als breite „Querfront“. Eine der Anknüpfungspunkte ist dabei auch die Friedensbewegung.
Eine Regenbogenflagge mit dem Schriftzug „PACE“ (zu Deutsch: Frieden) ist seit 1961 das Symbol der italienischen Friedensbewegung. Anders als die Regenbogenflagge der queeren Bewegung, die seit den 1970er Jahren für die Emanzipation von Schwulen, Lesben und Transmenschen steht, verlaufen die sieben Farben der PACE-Flagge typischerweise (aber nicht immer) von Violett oben bis Rot unten. Bei der queeren Regenbogenflagge ist der Farbverlauf umgekehrt und hat nur sechs Farben – das Hellblau der PACE-Flagge fehlt.
Das PACE-Design stammt von dem italienischen Philosophen, Antifaschisten und Pazifisten Aldo Capitini und wurde bei einem 24 Kilometer langen Friedensmarsch von Perugia nach Assisi am 24. September 1961 zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Seitdem wird es von Friedensaktivist*innen weltweit benutzt – in unterschiedlichsten Kontexten und Sprachen bedruckt.
Nun hat die PACE-Flagge ein neues Zuhause gefunden: auf Demonstrationen, die sich zumindest vordergründig gegen die vermeintlich willkürlichen und autoritären Maßnahmen des Staates zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie richten – wie am 29.08.2020 in Berlin. In Anlehnung an die PACE-Flagge tragen auch viele Demonstrant*innen regenbogenfarbene Regenschirme mit sich.
Zum einen passt die PACE-Flagge zum Selbstbild der esoterischen, hippiesken und vermeintlich friedensbewegten Teilen der Bewegung, die die Demonstrationen gerne als eine Art „Loveparade 2.0“ sehen – ein „Friede, Freude, Eierkuchen“ gegen das pandemiebedingte Infektionsgesetz. Zum anderen ist es höchst ironisch und zutiefst problematisch, dass ein einstiges Friedenssymbol über gewaltbereiten Hooligans und neben Reichsflaggen wehen muss – einer von vielen inhaltlichen Widersprüchen in dieser sehr diffusen Bewegung. So wird die PACE-Flagge sinnbildlich für die coronaleugnerische „Querdenker“-Szene als Ganzes: Nach außen wird Toleranz, Offenheit und Frieden projiziert, während man gleichzeitig neben gewaltbereiten Nazis demonstriert.
Diese kognitive Dissonanz kulminiert an diesem Samstag in Berlin abends auf den Treppen des Reichstagsgebäudes. Ein wütender Mob, darunter Reichsbürger*innen und Aktivist*innen der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“, durchbricht Hamburger Gitter und stürmt auf das deutsche Parlament zu. Es ist der lange angekündigte „Sturm auf den Reichstag“. Während lediglich drei Polizisten schlagstockschwenkend versuchen, den Bundestag zu schützen, grölt die Menge unter den Farben Schwarz-Weiß-Rot. Und natürlich fehlt auch da die PACE-Regenbogenflagge nicht.