Eltern sind sehr emotionale Wesen, wenn es um ihre Kinder geht. Die meisten lieben ihre Kinder, versuchen sie zu beschützen, machen sich Sorgen um ihre Zukunft – und sind darüber ansprechbar. Die rechtsextreme und rechtspopulistische Szene versucht seit Jahrzehnten, über das Thema Kinder an Eltern heranzukommen: Seien es die Kameradschafts- und NPD-Aktionen seit den 1990er Jahren, die vorgaben, sich gegen Kindesmissbrauch einzusetzen, dabei aber vor allem für die Wiedereinführung der Todesstrafe plädierten (damals „Todesstrafe für Kinderschänder“, vgl. Belltower.News) und die angeblichen Täterprofile verbreiteten, die nur das Ziel hatten, Rassismus zu verbreiten (bei Sexualdelikten gegen Kinder sind die meisten Täter aus dem Nahumfeld der Opfer und haben in Deutschland keinen Migrationshintergrund, vgl. Belltower.News).
Rassismus statt Kinderschutz
Diese Erzählung erhielt ihre Renaissance in den flüchtlingsfeindlichen Bewegungen ab 2014, wo islamfeindliche und rassistische Bewegungen Geflüchtete als potenzielle Bedrohung für Kinder darstellten, bis Eltern etwa verunsichert und/oder aufgehetzt dagegen Sturm liefen, dass z.B. Geflüchtete in der Nähe von Schulen untergebracht wurden (vgl. Belltower.News).
LGBTIQ-Feindlichkeit statt Kinderschutz
Doch rechtsalternative Kinder-Instrumentalisierung funktioniert auch ohne Rassismus: Etwa die Narration der rechtspopulistischen „Demo für Alle“-Bewegung, die Unterricht über sexuelle Vielfalt und Aufklärung als „Frühsexualisierung“ von Kindern darstellt, die gegen Traditionen und heterosexuelle Familien gerichtet sei (vgl. Belltower.News).
Kinder und Coronavirus-Maßnahmen-Debatten
Auch im Zuge der Coronavirus-Maßnahmen-Debatten werden Kinder argumentativ ins Feld geführt, um die Verkehrtheit und Verrücktheit von Mundschutz und Hygienekonzepten zu begründen: Sei es die Annahme, es würde Kindern schaden, in der Schule einen Mundschutz zu tragen oder Babys emotional verarmen lassen, wenn sie nur noch in Gesichter mit Masken blicken (was genaugenommen voraussetzen würde, dass ihre Eltern auch in der eigenen Wohnung und im Freien permanent Mundschutz tragen würden, was noch gar niemand gefordert hat…). Auch die später zurückgenommene Ankündigung, im Falle einer Covid-19-Erkrankung müsse man das betroffene Kind im eigenen Haushalt isolieren – wenn nicht, komme das Jugendamt – führte zu erregten Diskussionen. Diese Debatten zu führen, ist legitim. Doch wozu führten sie am Wochenende bei den „Querdenken“-Aktivitäten in Berlin am 28. und 29.08.2020?
Kinder als Werbeträger und Schutzschilde
Rund 38.000 Menschen waren in Berlins Mitte auf den Straßen, unter ihnen Verschwörungsideolog*innen, Antisemit*innen, Rechtsextreme, Reichsbürger*innen – und viele Eltern (wobei es da natürlich Überschneidungen gibt). Als Eltern waren diese Menschen nicht etwa wegen ihrer Schilder und Themen zu erkennen, sondern weil sie ihre Kinder dabei hatten, vom wenige Monate alten Säugling bis zum Teenager. Diese Eltern hatten also die Entscheidung getroffen, ihre Kinder mit zu einer Großdemonstration mit unbekanntem Ausgang und unbekannten Gewaltpotenzial zu nehmen und standen dort mit ihnen bisweilen stundenlang bei 26 Grad mit ihnen in der prallen Sonne, auch ohne Sonnenschutz. Etliche nutzten die Kinder als niedliche Botschafter menschenverachtender Ideologie, kleideten sie in Reichsfarben
Oder sie ziehen ihnen „Q“-T-Shirts an, denn auch die „QAnon“-Veschwörungserzählung hat nicht nur den auch niedlich gestaltbaren weißen Hasen (vgl. Belltower.News), sondern hat angeblichen Kinderschutz zum Thema, wenn es doch u.a. gegen pädophile Geheimbünde gehen soll, die Kinder unterdrücken und ausnutzen sollen, sogar ihr Blut trinken, was an die antisemitische Narration der Ritualmordlegende angeknüpft (vgl. Adrenochrome, Belltower.News).
Dies alles, damit die Kinder am „Tag der Freiheit“ dabei sind? Nein, es gab dabei auch taktische Hintergedanken:
Kinder als Schutzschilde also, als Schutz vor Wasserwerfern der Polizei und vor Angriffen einer als
gewalttätig in dieser Szene imaginierten „Antifa“, in der Hoffnung also darauf, dass andere Teile der
Gesellschaft rücksichtsvoller und empathischer sind als sie selbst. Das sagt bereits viel über die
Fürsorge solcher Eltern aus. Aber ist das denn geschehen?
Weinende Kinder im TV
Ein Video der Demonstration, dass schnell in rechten Kreisen viral ging: Zu sehen, aber nicht zu hören, ist ein Mann, der mit Polizisten in voller Schutzmontur spricht. Auf seinen Schultern sitzt ein Kind, vielleicht sechs, sieben Jahre alt. Es hält sich die Ohren zu, weil die Demo-Menge drumherum laut schreit. Der Polizist scheint den Mann anzuweisen, zurückzutreten. Der redet weiter auf den Polizisten ein, bis dieser ihn mit seiner Hand zurückdrängt. Der Mann stolpert zurück. Das Kind, dass auf seinen Schultern sitzt und bisher schon sehr ängstlich geschaut hat, fängt an zu weinen. Der Tenor der Geschichte: So brutal ist die Polizei, nimmt keine Rücksicht auf das Kind. Interessant ist allerdings, dass es nicht irgendein Mann ist, der das Kind trägt: Rolf Kron ist praktischer Arzt, Impfkritiker und Homöopath, der in zahlreichen Video-Interviews für dubiose Alternativmedien behauptet, der „Hype“ um das neuartige Coronavirus sei schnell vorbei und die Maßnahmen übertrieben. Seine Aussagen sind größtenteils falsch, hat „Correctiv“ geprüft. Er hat bereits auf einer „Querdenken“-Demonstration in Bregenz auf der Bühne gestanden. Ob er da auch ein Kind dabei hatte, ist nicht dokumentiert.
Kinder lesen Texte auf der Bühne vor
Auf Instagram freut sich die Vereinigung „Wir2020“ darüber, dass Kinder auch auf den Demonstrationsbühnen instrumentalisiert wurden. Sie zeigen ein Foto mit einem etwa 10-jährigen Jungen, der auf der Bühne einen Text vorliest: „An Corona sind mehr Leute verdummt als erkrankt.“ Was 10-Jährige halt so sagen. Deshalb liest er auch den gesamten Text ab. Er ist mit dem Verein “Klagepaten” auf der Bühne, trägt auch ein T-Shirt mit dem Logo des Vereins, ebenso wie eine Frau, die ihn begleitet – mutmaßlich seine Mutter. Die hat auch Dinge zu sagen, etwa: „In Schulen werden die Kinder getestet, ohne unsere Zustimmung. Das ist die Vorstufe zur Impfung!“. „Klagepaten e.V.“ hat sich darauf ausgerichtet, „Querdenken“-Demonstrant*innen gegen den Staat zu helfen: Er will Hilfe bieten, wenn man Ärger mit der Polizei hat, festgenommen wurde oder Übergriffe durch Polizei erlebt hat. Beheimatet ist der laut Impressum bei einer Rechtsanwaltskanzlei in Leipzig, zu der auch der Rechtsanwalt Ralf Ludwig gehört, der „Querdenken 711“ juristisch vertritt und zu den „Anwälten für Aufklärung“ der Coronaskeptiker*innen gehört. Spezielles Angebot des Vereins zur Demo in Berlin: Eine App, über die Spontandemonstrationen angemeldet werden können. Über 3.000 dieser Demos wurden in Berlin angemeldet, als die Hauptdemonstration zwischenzeitlich verboten werden sollte. Wer das Kind ist, ist der Redaktion nicht bekannt.
Später kommt noch ein Liedermacher-Paar auf die Bühne, Janin Devi und André Maris. Im Schlepptau: Ein Kleinkind. Sie gehören laut Selbstbeschreibung zur „Yoga-Musikszene Europas“ und reden viel von Liebe und Frieden, aber vor allem vom kritischen Denken, dass man sich nicht verbieten lasse dürfe. Vor den Menschen mit den Reichsflaggen klingt das nicht nach kritischer Auseinandersetzung mit der Realität, sondern nach einen Aufforderung zum Eintritt in die Welt der Verschwörungserzählungen.
Kinder beim Durchbrechen der Absperrung zum Reichstag
Und wenn Sie vorhätten, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen und widerrechtlich ein staatliches Gebäude zu betreten – würden Sie dann ihre Kinder mitnehmen? Wer sich die Videos der Demonstrationsteilnehmer*innen ansieht, die am Abend des 29.08.2020 am Reichstag enthemmt und euphorisiert, mit Reichsflaggen in der Hand, gewaltvoll die Polizeiabsperrung durchbrechen und die Treppen des Gebäudes erstürmen, bis die Polizei sie aufhält, entdeckt darunter tatsächlich einige Eltern zwischen den anderen Reichsbürger*innen und Rechtsextremen, die selbst Kleinkinder beim „Sturm auf Berlin“ mitnehmen. Teilnehmer skandieren in den Videos auch hörbar, dass sie diesen Angriff auf eine staatliche Institution machen: „Für die Kinder! Für die Freiheit meiner Kinder!“ Ob die Person, die das ruft, Kinder hat, oder ob es hier mehr um die bei Reichsbürger*innen und Anhängern*innen der völkischen Ideologie beliebten „Blutlinien“ der „Ahnen“ geht, ist nicht bekannt. Eines jedenfalls ist beim Betrachten dieser Bilder klar: Hier wird das abstrakte Konzept „Kinder“ benutzt – die eigenen Kinder werden dagegen offensichtlich eher nicht beschützt. Dies sollten sich alle Eltern klarmachen, die mit diesen Demonstrationen liebäugeln.
Und die Schwangere, die ihr Kind verlor?
In rechtsalternativen Kreisen im Internet fleißig geteilt wird nach der Demonstration außerdem das Video der Verhaftung einer schwangeren Frau mit dem Zusatz, diese habe hinterher ihr Kind verloren. Die Berliner Polizei hat dazu inzwischen richtiggestellt: Die 42-jährige Frau hat ihr Kind nicht verloren. Verhaftet wurde sie, weil sie gegen 13.45 Uhr eine Absperrung durchbrechen wollte (!). Außerdem hat sie Polizeibeamte geschlagen und angespuckt. Wir würden dem Kind gern trotzdem viel Glück fürs Leben wünschen.
Und das hier hat Twitter noch gefunden: