Angefangen hat es wohl damit, dass es mir in meiner Jugend nicht gut ging. Das Konzept Schule war für mich generell unerträglich: Den ganzen Tag mit 25 anderen in einem neonlichtbeleuchteten und abgeschlossenen Raum sitzen und mir endlosen Schulstunden lang Informationen eintrichtern zu lassen, die nichts mit meinem Leben zu tun haben. Das fühlte sich an, als hätte mich eine Alien-Spezies gefangen genommen, die mir nun Unterricht über das Leben auf deren Planeten gab. Per Notenvergabe wurden meine Mitschüler:innen und ich hierarchisch zueinander in Stellung gebracht. Das presste Leute wie mich immer wieder nach Unten und gab selbstzufriedenen und mobbenden Egomanen Auftrieb. Dasselbe galt für mein bald anstehendes Berufsleben. Es fühlte sich fremd und kalt und feindselig an.
Darum hatte ich das Bedürfnis, diese Situation zu verstehen. Und ich wollte, dass es mir besser geht. Entfremdungstheorien von Marx oder Arendt kannte ich damals nicht, und sie wären mir auch nicht begreiflich gewesen. Was mir blieb, war in meinen Körper hineinzuspüren, was sich richtig anfühlt. Und das war mit etwa 15 Jahren vor allem eine Erfahrung: Im Neckarstadion des VfB Stuttgart zu stehen und gemeinsam mit tausend anderen aus breiten Brustkörben in die Welt hinauszurufen und zu singen: Wir sind Wir! Wir sind stark!
In dieser Zeit kaufte ich mir eine Dauerkarte für den Fanblock. Ich besorgte mir außerdem eine kaiserliche Reichkriegsfahne und hängte sie mir übers Bett. Als 1990 Deutschland Weltmeister wurde, nahm ich die Fahne von der Wand und feierte damit einen patriotischen Freudenrausch mit „Deutschlaaand“-Gesängen und Dosenbier auf dem Marktplatz meiner schwäbischen Heimatstadt.
Die Fans des VfB Stuttgart sind nicht bekannt dafür, besonders links zu sein. Schiedsrichter, denen wir unterstellten, gekauft zu sein, bezeichneten wir in Sprechchören als „Schwarze Sau“ oder wir riefen „Jude, Jude“. Aber „das war nur Spaß“, so sah ich das damals. Heute finde ich das zum Kotzen. Als Nazis wollten wir uns jedenfalls nicht sehen, sondern als „Patrioten“. Dieser „Patriotismus“ fühlte sich richtig und logisch an. Ich dachte, „überall auf der Welt sind Leute stolz auf ihr Land, warum nicht wir?“. Dass es nur die richtigen oder auch die falschen Umstände benötigt, damit aus diesem netten, patriotischen Geplätscher ein reißender Strom des Nationalchauvinismus wird, fand ich damals abwegig. Das eine hatte nichts mit dem anderen zu tun. Ich dachte aber auch nicht allzu genau darüber nach.
Mich machten Leute wütend, die mir dieses gute Gefühl wegnehmen wollten. Ob es sich gut, also richtig und stark und sicher anfühlt, war dabei mein zentrales Kriterium. Ich hatte sonst nichts. Ich vertraute meiner Intuition, weil es sich falsch anfühlte, Tag für Tag in der Schule und auf der Arbeit gegen sie anzugehen. Auch die ewige Klage über die Moderne fühlte sich richtig an. Die Behauptung, dass wir ja heute in einer kalten Ellenbogengesellschaft leben, in der Gemeinschaft nichts mehr zähle und wo die Menschen immer „materialistischer“ würden. Das impliziert, dass es früher besser war. Früher, als Menschen angeblich noch einfacher und besser lebten, ursprünglicher, familiärer, anpackend, patriotisch. Zumindest stellte ich mir das so vor, in meiner Reichskriegsfahnenzeit.
Mit im Gepäck kam ein milder aber eindeutiger Verschwörungsglaube: Die einfachste Form politischen Denkens. Alles Schlechte in der Welt wird von Menschen gemacht. Die Natur tut ja nichts Falsches. Ich begann davon ausgehend immer zwei Fragen zu stellen: „Wer hat die Macht (und das Geld?)“ und „wem nützt es?“. Das sind an sich gute Fragen. Nur reichen sie nicht. Die Wirklichkeit ist deutlich komplexer als das Bild einer kleinen Gruppe Superschurken, die alles Böse der Welt ausheckt und auf die alle Fäden zulaufen, wie in der Serie Akte X. Genau das ist zwar der Traum aller Mächtigen. Eine unsichtbare Superdiktatur ist aber nicht machbar. Menschliche Unfähigkeit, Zufall, Interessenkonflikte und schlechte Kommunikation verhindern das. Das wissen alle, die schon mal die Erfahrung gemacht haben, wie schwierig es schon ist, einen gemeinsamen Kinobesuch mit mehreren Leuten zu organisieren.
Dann kam meine Wandlung zum Eso-Hippie: Ich saß Abends stoned im WG-Zimmer eines Freundes. Kerzenlicht flackerte. Es lief Bob Marley. Reggae beruhigte mein nervöses Herz. Das fühlte sich völlig richtig an. Im Einklang mit meinem Körper. „Und dann sah ich das Licht“, so habe ich es mit bedeutungsgeschwängertem Gesichtsausdruck damals erzählt. Heute nenne ich das eine bekiffte Vision. High in meinem tiefen Sessel sah ich ein zutiefst gesundes, gemeinschaftliches, vitales Leben vor mir, in dem ich barfuß durch den Wald sprinte, den Speer erhoben, die Haare flatternd im Wind.
Das Gegenstück war die Moderne mit ihren stinkenden Fabriken und Autobahnen und Schulräumen und Fernsehern und raffiniertem Zucker und „Finanzeliten“, die hinter den Kulissen Böses tun. Diese Romantisierung des Ursprünglichen war schon in meiner Reichskriegsfahnenzeit Teil meiner Weltsicht. Nur nicht konsequent zu Ende gedacht. Nun ließ ich mir weiße Kleinbürger-Dreadlocks wachsen, denn die sind „natürlich“, und ich lief nur noch barfuß und nacktoberkörperig herum. Außerdem drängte ich allen mit glühenden Augen meine Einsichten über das „artgerechte“ Leben auf. Und die waren folgende: Wir müssen uns und unseren Körpern vertrauen. Wir müssen dem Natürlichen vertrauen. Alles Unnatürliche ist schlecht. Alles Natürliche ist gut. Der einfache Beweis: Ein Spaziergang im Wald tut gut, ein Spaziergang an einer Autobahn nicht. Ein natürlich gewachsener Apfel gibt mir ein besseres Körpergefühl als ein „künstlicher“ Schokoladenriegel. Innerhalb dieser Logik muss Krebs heilbar sein, denn in der ursprünglichen und guten Welt gibt es für jede Krankheit ein Heilkraut. Impfungen sind in diesem Weltbild wahnsinnig, denn warum sollte es Krankheiten geben, die nicht mit den Mitteln der Natur behandelt werden könnten? Das würde ja heißen, dass der Naturzustand fehlerhaft ist.
Das war selbstverständlich alles Quatsch. Kiffen kann Denken zu einem lustvollen Erlebnis machen. Das Problem daran ist nur, dass dieses Erlebnis manchmal zu lustvoll ist. Die „Aha!-Euphorie“, die eine Einsicht erzeugt, wirkt unter dem Einfluss von THC noch stärker. Ein eigentlich einfacher Denkschritt wird zum philosophischen Adlerflug. Der ist so befriedigend, dass weitere, nüchterne und teils unbequeme Denkschritte sich kleinlich und unnatürlich anfühlen, wie ein zu enger Schuh.
Die unromantisierte Wahrheit ist anders als meine „Lichtvision“: Auch nordamerikanische „Naturvölker“ bekämpften sich gegenseitig, zerstörten ihre Umwelt und folterten vielfach ihre Feinde zu Tode. Nix mit paradiesischen Zustände. Das romantische Traumbild der „edlen Wilden“ ist ohnehin auch nur die Kehrseite kolonialer Rassismen. Überhaupt tut ein Spaziergang im Wald zwar gut, aber eben nur, wenn wir ausreichend künstlich hergestellte Kleidung haben und einen warmen und sicheren Ort, an den wir zurückkehren können. Auch ist oft unklar, wir natürlich und unnatürlich unterschieden werden sollen. Ist Kleidung „natürlich“? Die Natur ist neben sonnenüberfluteten Waldlichtungen auch die Kälte, die Menschen elend zu Tode frieren oder sie verhungern lässt. Die Natur ist mitunter ein ganz stumpfer und brutaler Mechanismus, der wortwörtlich alles tötet, was nicht bei drei auf einen Baum geflohen ist. Ein Mechanismus vor dem wir uns gegenseitig schützen sollten.
Aber so sah ich das damals nicht. Wollte ich auch nicht. Es wäre nämlich wirklich hart gewesen, mein Welterklärungsmodell loszulassen. Dabei war mein Verschwörungsglaube ein Witz im Vergleich zu dem mancher QAnon-Gläubigen. Überhaupt sind die Menschen unterschiedlich und viele Corona-Leugner würden sich sicher mit meinem früheren Ich nicht gut verstehen. Dennoch: Verschwörungsglauben und die Romantisierung von Ursprünglichkeit sind ein zentrales Problem. Ernsthaft lassen sich diese Erzählungen nur durch Alternativkonzepte bekämpfen . Solche, die sich nicht nur intuitiv gut und richtig anfühlen, wie tausend Stimmen, die sich zu einem Sprechchor vereinigen. Sie müssen auch kritischer Prüfung standhalten und nicht in ihrer Logik einen Hang zum Menschenfeindlichen haben.
Wie bin ich aus dieser Denkweise wieder herausgekommen? Zum einen wurde mein Denkgebäude immer wieder durch die Realität untergraben. So wie heute auch immer wieder „Querdenker:innen“ davon irritiert sind, dass nicht wie erwartet eine Corona-Diktatur eingeführt wurde. Auch die Uneinigkeit zwischen den führenden Verschwörungsideologen stiftet Zweifel. Zum anderen habe ich damals angefangen, schlaue Bücher zu lesen. Texte von Nietzsche, Arendt, Hume und Marx. Vieles habe ich damals noch nicht verstanden. Dennoch wirkten deren Überlegungen so viel tiefer und gründlicher durchdacht, als alles, was ich vorher Esoterisches oder auch Völkisches gelesen und gehört habe, dass ich meine Weltanschauung nach und nach geändert habe. Heute kann ich mit dem Zeug von früher gar nichts mehr anfangen.