Das Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. engagiert sich seit über 20 Jahren in Wurzen und der Region für die Stärkung der demokratischen Kultur, für mehr Beteiligung aller Menschen sowie Offenheit für Vielfalt. Dies alles tun wir, um den tief verwurzelten und langlebigen rechtsoffenen bis hin zu extrem rechten Positionen eine starke Zivilgesellschaft entgegen zu setzen. Ein wichtiger Baustein ist dabei für uns, die rechten Strukturen vor Ort und ihr Handeln sichtbarer und damit zum Thema zu machen. Es reicht eben nicht nur das wir wissen, wir müssen dieses Wissen auch mit anderen teilen, um ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen. Wir haben unser 20 jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, zurück, aber auch in die Gegenwart zu schauen. Verschiedene Themen in Bezug auf die rechte Szene in unserer Region haben uns dabei beschäftigt. In der folgenden Reihe werden wir zusammenfassend unterschiedliche Bereiche anschneiden und in einem kurzen Überblick thematisieren. Die vier Teile erscheinen jeweils zum 1. des Monats und wir beginnen am 1.4. mit dem Thema: Geister der Vergangenheit? Parteinahe Neonazistrukturen im Raum Wurzen. Es folgen weitere Teile am 1.5, 1.6. und 1.7.
Am 13. Februar 2022 fand in Dresden einmal mehr ein Schaulaufen der extremen Rechten statt. Unter dem Motto „[Ge]Denk Dresden“ warb das Aktionsbündnis Gegen das Vergessen aus dem Umfeld der NPD bundesweit für den Neonazi-Aufmarsch. Mobilisiert wurde dafür auch in der Stadt Wurzen im Landkreis Leipzig. In den Tagen vor der Demonstration wurden rund um den Bahnhof großflächig Plakate und diverse Sticker der Jungen Nationalisten (JN – ehemals Junge Nationaldemokraten) verklebt. Auf der Demonstration selbst reihte sich dann eine Handvoll Wurzener Aktivist:innen in den Block der JN ein und zog mit hunderten weiteren Neonazis durch die Stadt.
Lokale Verwurzelungen: NPD in Wurzen
Während die Mutterpartei in Richtungskämpfe verstrickt ist und ihre Jugendorganisation JN bundesweit betrachtet seit Jahren in der Bedeutungslosigkeit versinkt, versucht die JN im Landkreis Leipzig, mit öffentlichen Aktionen erneut an Relevanz zu gewinnen. Dabei spielen zum einen lokale Führungskader eine Rolle, zum anderen können Neonazis in der Stadt an gewachsene extrem rechte Strukturen und Einstellungen in Teilen der Bevölkerung anknüpfen. Diesen Umstand nimmt der Artikel zum Anlass, um Entwicklungen der JN in Wurzen in den vergangenen Jahren zu umreißen.
Vielerorts waren die Nachwendejahre von Gewalterfahrungen und neonazistischen Übergriffen geprägt. Zunehmend findet eine breite Thematisierung dieser Zeit unter dem Begriff der „Baseballschlägerjahre“ statt und Betroffene berichten über die damaligen Zustände und Erlebnisse. Während diese Ereignisse lange Zeit wenig Platz im öffentlichen Diskurs fanden, erfuhren die Wahlerfolge der NPD bei Landtags- und Kommunalwahlen in den 2000er-Jahren ein großes mediales Echo. So etwa nach der sächsischen Landtagswahl 2004, bei der die NPD einen Stimmenanteil von 9,2 Prozent auf sich vereinigen konnte und mit 12 Abgeordneten ins Landesparlament einzog. In seiner Analyse der Wahlergebnisse kam der Politikwissenschaftler Miro Jennerjahn zu dem Ergebnis, dass es es sich beim damaligen Muldentalkreis insgesamt und der Stadt Wurzen im Besonderen um Schwerpunktregionen der NPD-Aktivitäten handelte (Jennerjahn 2009, 552). Bei der genannten Landtagswahl 2004 erlangte die NPD 11,4 Prozent in der Stadt, bei den im gleichen Jahr stattfindenden Stadtratswahlen 2004 sogar 11,8 Prozent und zog in der Folge mit drei Abgeordneten ins Stadtparlament ein.
Bei den Kreistagswahlen vier Jahre darauf musste die NPD in der Stadt Wurzen zwar Verluste hinnehmen, ihr gelang es jedoch, sich im Muldentalkreis zu behaupten. Während die NPD Mitte der 2000er-Jahre den Höhepunkt ihrer parlamentarischen Erfolge zu verzeichnen hatte, etablierte sich ihr stärker aktivistisch orientierter Jugendverband JN erst mit gewisser zeitlicher Verzögerung in der Region. Ende 2009 wurde in der Leipziger NPD-Zentrale die Gründung von vier sogenannten „JN-Stützpunkten“ in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen verkündet. In den Regionen Delitzsch-Eilenburg, Torgau, Oschatz und Wurzen sollten mittels dieser „Stützpunkte“ bereits aktive Neonazis in JN-Strukturen gebündelt werden und hierdurch sogenannte „Modellregionen“ der NPD entstehen (ausführlicher zu den Regionen: Chronik.LE).
Die JN in Wurzen – Rechtsextremer Aktivismus
In Wurzen entstand so eine JN-Gruppe rund um den „Stützpunktleiter“ Mathias König, die vorwiegend in den Jahren von 2009 bis 2013 mit vielen Aktionen in die Öffentlichkeit drängte. So versuchte die JN in dieser Zeit sowohl mit niedrigschwelligen Angeboten wie Fußballturnieren, Neujahrsfeiern und sogenannten „Kameradschaftsläufen“ als auch durch klassische Aktionsformate wie Infotische und Demonstrationen neue Aktivist:innen für ihre extrem rechte Ideologie zu gewinnen. Zudem unternahm sie Versuche, bei städtischen Festen und Umzügen Präsenz zu zeigen und Veranstaltungen von demokratischen Einrichtungen, wie etwa dem Netzwerk für Demokratische Kultur e.V., gezielt zu stören. Eng angebunden war die JN im Raum Wurzen bereits in dieser Zeit an die nahegelegene Stadt Eilenburg, in welcher der damalige „Stützpunktleiter Nordsachsen“, Paul Rzehaczek, wirkte. Dieser wurde 2012 Landesvorsitzender der JN Sachsen und trägt bis heute für viele Aktivitäten der JN in der Region Verantwortung.
Ab dem Jahr 2013 war ein Einbruch der Aktivitäten der JN in der Region Wurzen zu erkennen, der zeitlich mit der rasanten Talfahrt der Mutterpartei NPD zusammenfiel. Spätestens mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD) verlor die Partei massiv an Zuspruch bei den Wähler:innen und schaffte es zudem kaum noch, Kandidat:innen für eigene Wahllisten aufzustellen. Mit der Entstehung weiterer extrem rechter Parteien wandten sich zudem ehemalige Führungskader von der NPD ab und engagieren sich seitdem beim III. Weg oder Die Rechte.
Auch die JN geriet, nachdem sie in der Region Leipzig zunächst viele aktionsorientierte Neonazis aus bestehenden Kameradschaften integrieren konnte, ab Mitte der 2010er-Jahre immer weiter in die Krise und erhielt durch die Identitäre Bewegung (IB) bundesweit Konkurrenz im Bereich der aktivistischen und jugendlich auftretenden extremen Rechten. Im Unterschied zu anderen Teilen Sachsens, unternahmen jedoch weder der III. Weg noch die IB ernsthafte Versuche, sich in Wurzen zu verankern. Der Niedergang der JN vor Ort ist vielmehr eng mit dem Rückzug des besagten Kaders Mathias König rund um das Jahr 2013 verbunden. So wurde es zeitweilig still um die JN, deren Bedeutungslosigkeit bundesweit betrachtet bis heute anhält. Bis auf Einzelaktionen, beispielsweise eine Demonstration mit etwa 100 Anhänger:innen von NPD und JN am 1. Mai 2016, trat die JN in Wurzen kaum noch in Erscheinung.
Ab 2018: Neuer Name
Ab 2018 unternahm die JN den Versuch, sich innerlich wie äußerlich neu aufzustellen. Der alte Name Junge Nationaldemokraten wich der aktuellen Selbstbezeichnung als Junge Nationalisten. Zudem wurde der Sitz der Bundesgeschäftsstelle aus Mecklenburg-Vorpommern zurück ins sächsische Riesa verlegt und mit dem Eilenburger Paul Rzehaczek wurde der ehemalige JN-Landesvorsitzende 2018 zunächst zum stellvertretenden und 2019 zum ersten Bundesvorsitzenden gewählt. Die herausgehobene Stellung, welche Sachsen und speziell der Region Eilenburg seit der Umstrukturierung der JN in der Person des Bundesvorsitzenden Paul Rzehaczek zukommt, führte in den vergangenen Jahren auch in Wurzen zu einer gewissen Revitalisierung der JN-Strukturen.
Social Media Aktivismus
Eine große Rolle bei diesem Revival spielen die Aktivitäten in Sozialen Online-Netzwerken. Durch verschiedene Kampagnen mit jeweils eigenen Online-Auftritten wird der Eindruck zu erwecken versucht, dass es sich um eine breit getragene Bewegung handele. Nicht immer ist dabei die Urheberschaft auf den ersten Blick zu erkennen und es drängt sich der Eindruck auf, dass der JN ihr Ruf bewusst ist, sodass auf eigene Logos und das Label Junge Nationalisten in Kampagnen weitestgehend verzichtet wird. Dieser Umstand ist auch bei der Kampagne Jugend packt an zu beobachten, in der sie sich als „Kümmerer“ im strukturschwachen Raum inszenieren. In Onlineauftritten, deren Namensgebung nicht unmittelbar auf die JN schließen lassen, verbreiten sie fast ausschließlich JN-Propaganda. Im Raum Leipzig wurde so der Aktionsblog Leipzig aus der Taufe gehoben. Und im Telegram-Channel der selbsternannten Messestadtaktivisten ist zu lesen, dass über die Aktivitäten einer nicht näher definierten „Jugendbewegung aus dem Raum Leipzig und der Stadt“ berichtet werden soll. Zumeist handelt es sich bei den Inhalten jedoch auch hier um Aufrufe von der JN. Die neuste Plattform dieser Art firmiert unter dem Namen Zukunft-Deutschland und verbreitet neben weitergeleiteten Nachrichten verschiedener extrem rechter Gruppierungen auch Berichte von Corona-Demonstrationen, beispielsweise in Wurzen.
Versuch einer Wiederbelebung der 2000er Jahre
Während in der Stadt Leipzig der Transfer aus dem digitalen in den öffentlichen Raum kaum gelingt, sind in Wurzen vermehrt Aktivitäten zu beobachten, die dem Versuch der Raumnahme folgen. So kommt es immer wieder zu teils massiven und großflächigen Propagandaaktionen mit Stickern, Plakaten und Graffittis, die explizit für die JN werben oder zu Demonstrationen, wie etwa dem Naziaufmarsch in Dresden am 13. Februar, mobilisieren. Darüber hinaus bedient die JN weitere extrem rechte Inhalte und Aktionsformen. So wurde 2020 mit der zum Download verfügbaren „Schülersprecher-CD“ eine Wiederauflage der NPD-Schulhof-CD an Wurzener Schulen verteilt und wiederholt Propagandamaterial der dazugehörigen Kampagne in der Stadt verklebt. Nach der Indizierung dieser CD zog eine Spontandemonstration mit etwa 40 Personen durch Wurzen, um gegen das Verbot zu protestieren und für ein Recht auf „nationale Jugendarbeit“ zu werben. Daneben versucht die JN in den vergangenen Jahren extrem rechten Events der Vergangenheit wiederzubeleben. So probiert sie, an die Tradition eines sogenannten Heldengedenkens in der Stadt Wurzen anzuknüpfen. Bei diesen Veranstaltungen rund um den Volkstrauertag waren zu Beginn der 2010er-Jahre in der Spitze bis zu 150 Neonazis durch Wurzen gezogen. Bisher beschränken sich diese Versuche einer Revitalisierung jedoch auf eine Kranzniederlegung der JN im kleinen Kreis.
Unbekannte beteiligten sich darüber hinaus an der von der JN initiierten Aktion Schwarze Kreuze, die in einem rassistischen Framing an vermeintliche „deutsche Opfer“ erinnern will. Neben diesen Aktionen, die auf eine Raumnahme und öffentliche Aufmerksamkeit abzielen, beteiligen sich lokale Aktivist:innen vermehrt an überregionalen Naziaufmärschen und zeigen bei lokalen Demonstrationen gegen die Eindämmung der Covid-19-Pandemie, wie sie auch in Wurzen stattfinden, Präsenz. Öffentliche Raumnahme in Form von Kundgebungen versuchten NPD und JN auch mittels kleiner Veranstaltungen in dem Dorf Trebsen in der Nähe von Wurzen zu betreiben. Neben einer eigenen Kundgebung im Herbst 2020, versuchten Aktivist:innen der JN im Sommer 2021 eine Solidaritätsaktion der Partei DIE LINKE nach einem rassistisch motivierten Übergriff gezielt zu stören.
Und auch konkrete Aktionen gegen politische Gegner:innen und Akteur:innen der Zivilgesellschaft sind zu verzeichnen. So wurde das Kulturzentrum D5 des Netzwerk für Demokratische Kultur in den vergangenen Jahren erneut zum Ziel von Angriffen. Eingeworfene Scheiben und Sachschäden waren die Folge. Der jüngste Vorfall ereignete sich 14.2.2022. Unbekannte rissen eine Regenbogenfahne, die am Kulturzentrum angebracht war, ab und entwendeten sie.
Fazit
Zusammenfassend ist in Wurzen und Umgebung in den vergangenen Jahren wieder eine erhöhte Aktivität von Personen zu erkennen, die der JN zugerechnet werden können. Die starke Präsenz, insbesondere im digitalen Raum, sollte jedoch nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass es sich um einen überschaubaren Personenkreis handelt. Mit Blick auf die Historie der JN in der Stadt wird deutlich, dass das Wirken einzelner Kader im Hinblick auf die Entwicklung von JN Strukturen stets eine relevante Rolle gespielt hat. Mit dem Rückzug von Mathias König, der laut MDR-Recherchen inzwischen unweit der alten Wirkungsstätte bei der extrem rechten Initiative Zusammenrücken in Mitteldeutschland in Leisnig mitwirkt, sank die Präsenz der JN Mitte der 2010er-Jahre merklich. Beeinflusst durch die herausgehobene Bedeutung des Bundesvorsitzenden der JN, Paul Rzehaczek, versuchen Aktivist:innen seit wenigen Jahren wieder Fuß in der Region zu fassen. Trotz der Bedeutung einzelner Kader finden die Versuche einer Revitalisierung nicht ohne Grund in Wurzen statt. Die kleine Gruppe von Aktivist:innen kann hier an etablierte extrem rechte Strukturen und ein gewisses Unterstützer:innenpotenzial, vor allem auch bei jungen Menschen, anknüpfen.
Quellen:
Jennerjahn, Miro (2009): „Programme und Projekte gegen Rechtsextremismus vor Ort – Das Fallbeispiel Wurzen“. In: Stephan Braun, Alexander Geisler, Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten. Wiesbaden: VS. Verlag für Sozialwissenschaften. (S. 549-563).
Mehr zu Rechtsextremismus in der Region Wurzen:
Wurzener Extrablatt
PDF zum Download: https://www.ndk-wurzen.de/downloads/WXB_2021_Ausgabe_2.pdf
Gefördert u.a. von der Amadeu Antonio Stiftung.