Das Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. (NDK) engagiert sich seit über 20 Jahren in Wurzen und der Region für die Stärkung der demokratischen Kultur, für mehr Beteiligung aller Menschen sowie für Offenheit und Vielfalt. Dies alles tun wir, um den tief verwurzelten und langlebigen rechtsoffenen bis hin zu extrem rechten Positionen eine starke Zivilgesellschaft entgegenzusetzen. Dabei stellt es einen wichtigen Baustein für uns dar, die rechten Strukturen und deren Handeln vor Ort sichtbarer und damit zum Thema zu machen. Es reicht eben nicht nur, dass wir etwas wissen, wir müssen dieses Wissen auch mit anderen teilen, um ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen. Unser 20-jähriges Jubiläum haben wir zum Anlass genommen, um zurück, aber auch in die Gegenwart zu schauen. Dabei haben uns verschiedene Themen und Aspekte der rechten Szene in der Region Wurzen beschäftigt. In unserer Artikel-Serie wollen wir unterschiedliche Bereiche skizzieren und überblicksartig darstellen. Die Artikel der vierteiligen Serie erscheinen jeweils zu Beginn des Monats.
Bisher ging es um extrem rechten Parteien und parteinahen Strukturen und um Entwicklungen in der subkulturell orientieren Rechten der Stadt.
„Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad, aber dann bist du zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen?“ Diese Fragen stellt Daniel Schulz in seinem Essay Wir waren wie Brüder, über Jugendliche im Ostdeutschland der Neunzigerjahre. Eine ähnliche Sequenz findet sich in einem Interview mit zwei Antifaschisten aus Wurzen aus dem Jahr 1996. Auf die Frage, wie sich die Bedrohungslage in der Öffentlichkeit gestalte, antwortet einer der Interviewten: „Durch Wurzen gehe ich schon lange nicht mehr. Tagsüber eventuell noch mit dem Fahrrad, sonst alles nur mit dem Auto.“ Und weiter führt er aus: „Die laufen, halte ich für verrückt und die werden öfters in Schlägereien verwickelt.“
Die Fragen in Schulz‘ Essay und die Ausführungen eines Wurzener Antifas: Sie stehen exemplarisch für Erlebnisse und Gedanken von Betroffenen rechter Gewalt in den 1990er- und 2000er-Jahren. Verbunden werden sie seit einigen Jahren durch den Social-Media-Hashtag #Baseballschlägerjahre, der vom Journalisten Christian Bangel initiiert wurde und eine Debatte über die lange Zeit marginalisierte Perspektive von Opfern rechter Gewalt dieser Jahre auslöste. Die für die Debatte namensgebende neonazistische Erscheinungsform, die mit dem Stereotyp von Glatze, Bomberjacke, Springerstiefeln und eben Baseballschläger verbunden ist, stellt jedoch nur eine Ausprägung rechter Gewalt dar.
Aktuelle Taten rechten Terrors, wie in Hanau oder Halle, oder die Morde des NSU-Netzwerkes haben einmal mehr verdeutlicht, dass die Perspektive von Betroffenen gesamtgesellschaftlich häufig nur geringe Aufmerksamkeit erfährt und ihre Sichtbarmachung zumeist auf das Engagement von zivilgesellschaftlichen Initiativen oder auf die Selbstorganisierung von Betroffenen zurückgeht.
Eine Lehre aus der Kontinuität rechter Gewalt ist es, dass die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten in ihren verschiedenen Erscheinungsformen nicht ohne die Einbeziehung von Betroffenen bleiben darf. Für die Stadt Wurzen lassen sich dabei Stimmen und Perspektiven von den 1990er-Jahren bis in die Gegenwart ausmachen, die in der Stadtgesellschaft häufig ungehört blieben und bleiben.
Baseballschlägerjahre in Wurzen
Die Erscheinungsformen der extremen Rechten in Wurzen sind vielfältig. Von extrem rechten Parteien, über aktionsorientierte neonazistische Jugendgruppen bis hin zu wirtschaftlich lukrativen extrem rechten Netzwerken – die extreme Rechte war und ist facettenreich.
Die 1990er- und 2000er-Jahre waren vorwiegend von losen Kameradschaftsstrukturen geprägt, die über eine hohe Mobilisierungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft verfügten. Gegen Ende der 1990er-Jahre versuchte sich die NPD zunehmend an einer Integration dieser Kameradschaften in ihre Parteistrukturen, was jedoch nicht zu einer Abnahme der sich situativ entladenden rechten Gewalt führte. So kam es im Verlauf der 90er- und Nullerjahre immer wieder zu Übergriffen und teils massiven rechten Gewalttaten in der Stadt.
Ein antifaschistisches Recherchekollektiv nahm diese Entwicklungen 1996 zum Anlass, eine umfangreiche Dokumentation der rechten Strukturen in Wurzen zu veröffentlichen. Dafür interviewten sie auch Betroffene. Für diese bedeutete die rechte Gewalt nicht nur eine massive physische Bedrohung im Falle einer Konfrontation, sondern auch konkrete Einschränkungen in ihrem Alltag und in ihren persönlichen Freiheiten. So berichtete einer der Jugendlichen über einen Nazi-Angriff: „Die sind nachts, weil es gleich unten war, durch Türen und Fenster reingekommen, haben ihn zusammengelegt, die Wohnung verwüstet und sind wieder abgehauen. So massiv passiert das eigentlich selten, weil sogenannte Linke meistens nicht Parterre wohnen. Aus Sicherheitsgründen.“ Die betroffene Person sei in der Folge sofort umgezogen und er selbst würde nie ins Erdgeschoss ziehen, da die Bedrohung durch Angriffe zu hoch sei, fügte der Jugendliche hinzu.
Die Dominanz und Gewalt im öffentlichen Raum bedrohte nicht nur die körperliche Unversehrtheit von betroffenen Personen, sie richtete sich auch gegen deren Räumlichkeiten, Wohnungen oder Geschäfte und bedrohte damit vermeintlich sichere Rückzugsorte. Zum Ziel solcher Angriffe wurden neben Jugendlichen, die als „links“ oder „alternativ“ gelesen wurden, vor allem migrantisierte Personen und ihre Geschäfte sowie Akteur:innen der Zivilgesellschaft. So kam es 2004 zu einem Rohrbombenanschlag auf die Bürogemeinschaft des Kulturbüro Sachsen, des Netzwerk für Demokratische Kultur (NDK) und der Opferberatungsinitiative Amal. Bis heute sind die Täter:innen unbekannt. Ebenfalls zu Beginn der 2000er-Jahre kam es wiederholt zu rechten Angriffen auf Unternehmen, deren Inhaber:innen rassistisch markiert wurden. Ein Imbiss in der Friedrich-Ebert-Straße wurde dabei acht Mal zum Ziel rechter Angriffe. Laut der Chronik des NDK Wurzen kursierten unter Wurzener Unternehmer:innen Gerüchte, dass die Inhaber:innen selbst hinter den Taten steckten und sich gegenseitig die Scheiben einwerfen würden.
Solche Mutmaßungen verweisen auf ein weiteres zentrales Merkmal in der Wahrnehmung von Betroffenen rechter Gewalt: Neben der physischen Gewalt und der Einschränkung der eigenen Autonomie waren die Reaktionen in der Stadtgesellschaft geprägt von Misstrauen und Leugnungen gegenüber dem Erlebten, bis hin zu einer Täter-Opfer-Umkehr, wie im Fall der rassistischen Angriffe auf Wurzener Unternehmer:innen. Diese Form des Umgangs mit Betroffenen rechter Gewalt wird häufig als sekundäre Viktimisierung beschrieben und lässt sich bis heute in vielen Fällen beobachten.
Exemplarisch für die Leugnung rechter Übergriffe und somit auch für das Leid ihrer Opfer, steht eine Aussage des damaligen Wurzener Bürgermeisters im Jahr 1995, der auf die Frage nach dem Rechtsextremismus in der Stadt antwortet, dass ihm eine rechte Szene in Wurzen nicht bekannt sei. In dem eingangs zitierten Essay beschreibt Daniel Schulz diese sekundäre Viktimisierung und ihre Auswirkungen für Betroffene wie folgt: „Es gibt kein Problem mit Rechtsextremismus, sagten die Bürgermeister, wenn wieder mal einer verpocht wurde oder starb. Ich fragte mich, wer verrückt ist, die oder ich?“.
Es bleibt schwierig – Betroffene rechter Gewalt heute
Die massive Gewalt der Neunziger- und Nullerjahre hat im Laufe der 2010er-Jahre bis in die Gegenwart abgenommen. Nichtsdestotrotz stellt der Landkreis Leipzig und die hier gelegene Stadt Wurzen „seit Jahren eine Schwerpunktregion rechtsmotivierter Gewalt“ dar, wie der RAA Sachsen e.V. kürzlich konstatierte. Insbesondere 2016 und in den darauf folgenden Jahren kam es in der Stadt im Zuge rassistischer Mobilisierungen zu schweren Angriffen und Gewalttaten, die sich zumeist gegen Geflüchtete richteten.
Wie bereits in den 1990er-Jahren, als in Wurzen unter anderem zu einem schweren Angriff einer große Gruppe Neonazis auf portugiesische Bauarbeiter kam, machen von Rassismus betroffene Personen gegenwärtig einen großen Teil der Opfer rechter Übergriffe aus. Sie sehen sich dabei nicht nur Angriffen ausgesetzt, sondern sind zudem häufig von staatlicher Diskriminierung in Form der Asylgesetzgebung oder der Residenzpflicht betroffen. Dabei ist es gerade ein Wegzug aus der Stadt, den viele Betroffene für sich als Umgang wählen möchten. So äußerte ein Betroffener rassistischer Gewalt 2018 gegenüber der taz: „Wir können hier nicht bleiben. Wir wollen nach Leipzig.“
Der Rückzug aus der Stadt oder dem öffentlichen Raum ist eine wiederkehrende Antwort von Betroffenen. In 2021 geführten, internen Interviews mit dem NDK schilderten alternative Jugendliche und junge Erwachsene die persönlichen Einschränkungen durch und Umgangsweisen mit der rechten Bedrohung: „Samstagnacht sollte man nicht alleine durch Wurzen laufen. Wenn Wochenende ist und Alkohol im Spiel ist, kann immer was passieren. Also dann sind die [Rechten] halt einfach in der Überzahl. Egal an welcher Stelle eigentlich.“ Und weiter: „Wenn du in Wurzen in eine Kneipe gehst, wirst du blöd vollgemacht. Es gibt keine Kneipe, wo du hingehen kannst. Das ist halt einfach so.“ In der Konsequenz nehmen Betroffene Umwege im Kauf, um sich am Abend in der Stadt zu bewegen, meiden öffentliche Feste oder bestimmte Orte und ziehen sich in sichere Räume zurück, die zu schaffen und zu erhalten von großer Bedeutung ist. Welche Folgen diese Bedrohungslage für die Wahrnehmung von Betroffenen hat, bringt eine andere interviewte Person zum Ausdruck. Sie resümiert: „Wurzen ist schon so ein bisschen Heimat für mich, aber irgendwie so eine negativ belastete Heimat. Es ist auf jeden Fall schwierig hier in Wurzen.“
Die Politikerin Katharina König-Preuss (Linke) hat für Schilderungen wie die der Jugendlichen aus Wurzen in einem Interview den Begriff der „atmosphärischen Gewalt“ verwendet. Sie versteht darunter die Erlebnisse, die Menschen im Alltag machen: Blicke, die geworfen werden; Beleidigungen, die im Vorbeigehen gezischt werden; bestimmte Orte permanent, andere zu bestimmten Uhrzeiten meiden zu müssen. Diese Erfahrungen sind es, die bis heute die Lebensrealität von allen Menschen betreffen, die von der extremen Rechten als Gegner:innen markiert werden. Umso bedeutsamer ist eine Solidarisierung mit Betroffenen innerhalb der Stadtgesellschaft. Teile dieser schrecken jedoch davor zurück, sich eindeutig gegen Rechtsextremismus zu positionieren und sich an die Seite betroffener Personen oder Institutionen zu stellen.
Neben einer fehlenden Anerkennung der Bedrohungslage und der grassierenden atmosphärischen Gewalt, entlädt sich auch physische Gewalt. Neben den genannten rassistischen Angriffen der vergangenen Jahre, die zumeist nicht aufgeklärt wurden, verdeutlicht ein aktueller Übergriff aus der unweit von Wurzen gelegenen Stadt Taucha, dass massive Gewalttaten nicht ausschließlich der Vergangenheit der „Baseballschlägerjahre“ angehören. Laut der Initiative Solidarische Alternative für Taucha (SAfT) kam es Ende Juni zu einem Überfall, bei dem „ein 14-jähriger Tauchaer für mehrere Stunden von zwei mutmaßlichen Neonazis festgehalten, genötigt und misshandelt“ worden sein soll. Der Fall führt einmal mehr vor Augen, welche Bedeutung Initiativen der Opferberatung zukommt und wie notwendig eine öffentliche Sichtbarmachung von Betroffenenperspektiven ist. Neben literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, wie sie etwa Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß oder Hendrik Bolzes Nullerjahre darstellen, gibt es mit der preisgekrönten Webdokumentation Gegen uns ein eindrucksvolles Projekt, das sich den Betroffenen rechter Gewalt widmet.
Eine ähnliche Anerkennung von engagierten Personen aus Wurzen und ihren Erlebnissen ist im Angesicht der Kontinuität rechter Übergriffe der letzten dreißig Jahre angebracht. „Ich habe sehr viele Kontakte in Wurzen und das macht mich sehr glücklich“, sagte eine Person im Interview mit dem NDK. „Ich würde sagen, es ist eine positive Jugend, aber vielleicht nicht so positiv wie die Jugend von anderen Leuten, die unpolitisch sind.“ Eine öffentliche Auseinandersetzung über die Wahrnehmungen und Erlebnisse könnte dazu beitragen, dass sich die Stadt in Zukunft auch für all jene, die für eine emanzipatorische Gesellschaft einstehen, zu einem vollends positiven, sicheren und lebenswerten Ort entwickelt.