Das Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. (NDK) engagiert sich seit über 20 Jahren in Wurzen und der Region für die Stärkung der demokratischen Kultur, für mehr Beteiligung aller Menschen sowie für Offenheit und Vielfalt. Dies alles tun wir, um den tief verwurzelten und langlebigen rechtsoffenen bis hin zu extrem rechten Positionen eine starke Zivilgesellschaft entgegenzusetzen. Dabei stellt es einen wichtigen Baustein für uns dar, die rechten Strukturen und deren Handeln vor Ort sichtbarer und damit zum Thema zu machen. Es reicht eben nicht nur, dass wir etwas wissen, wir müssen dieses Wissen auch mit anderen teilen, um ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen. Unser 20-jähriges Jubiläum haben wir zum Anlass genommen, um zurück, aber auch in die Gegenwart zu schauen. Dabei haben uns verschiedene Themen und Aspekte der rechten Szene in der Region Wurzen beschäftigt. In unserer Artikel-Serie wollen wir unterschiedliche Bereiche skizzieren und überblicksartig darstellen. Die Artikel der vierteiligen Serie erscheinen jeweils zu Beginn des Monats.
Während sich die ersten beiden Teile der Reihe mit extrem rechten Parteien und parteinahen Strukturen auseinandersetzen, widmet sich der folgende Beitrag den Entwicklungen in der subkulturell orientieren Rechten der Stadt. Den Abschluss findet die Serie mit einem Artikel zur Perspektive der Betroffenen rechter Gewalt am 1.7.2022.
„Ein Übel kommt selten allein…“
Im Hinblick auf die extreme Rechte in Wurzen kann das Sprichwort eine gewisse Gültigkeit für sich beanspruchen. Denn nicht nur extrem rechte Parteien und parteinahe, aktivistische Neonazistrukturen agieren in der Stadt. Über Jahrzehnte haben sich zudem extrem rechte Netzwerke in Wurzen etabliert, die in alltagskulturellen Feldern wie Mode, Musik oder Sport aktiv sind und überregionale Verbindungen besitzen. Zentrale Akteur:innen der extremen Rechten ziehen aus diesen Netzwerken beträchtlichen ökonomischen Nutzen und haben ein Geflecht aus Firmen, Unternehmen und Immobilien in der Stadt aufgebaut.
Üble Musik
Von zentraler Bedeutung für die RechtsRock-Szene in Sachsen und darüber hinaus ist seit vielen Jahren das 2001 gegründete Label Front Records, das seinen Sitz bis 2020 in verschiedenen Orten rund um Wurzen hatte. Neben neonazistischer Musik, die das Label vertreibt, werden im dazugehörigen Versandhandel Textilien aus der firmeneigenen Druckerei sowie Propagandamaterial und extrem rechte Devotionalien angeboten. Bereits ein Jahr nach der Gründung des Unternehmens geriet das Label 2002 ins Visier der Ermittlungsbehörden. Wie das Antifaschistische Infoblatt (AIB) berichtete, soll es bei dem Betreiber des Labels zu einer Hausdurchsuchung im Zuge von Ermittlungsverfahren gegen die verbotene Organisation Blood & Honour gekommen sein. Nachhaltigen Schaden erlitt Front Records hierdurch offenbar nicht. Vielmehr avancierte es im Laufe der 2000er- und beginnenden 2010er-Jahre zu einer bundesweit bedeutenden extrem rechten Vertriebsstruktur und schuf ein ausdifferenziertes lokales Unternehmensgeflecht. Auf diesen Umstand wies 2011 sogar der sächsische Verfassungsschutz hin und bescheinigte Front Records in seinem Jahresbericht, dass es „in einen Unternehmenskomplex eingebettet [ist], dem weitere, vordergründig nicht extremistische Gewerbe zugerechnet werden können.“ (siehe: LfV Sachsen). Beobachter:innen ordnen diesem Komplex unter anderem einen Holzhandel, ein Tattoostudio, ein Solarium und einen Handel mit Autoteilen zu.
Das Front Records-Unternehmen durchlief dabei in den vergangenen Jahren einen Wandel. Laut Berichten der Rechercheplattform EXIF kam es 2015 zu einer Fusion mit dem in Rheinland-Pfalz ansässigen RechtsRock-Label Gjallarhorn Klangschmiede, das einem Netzwerk rund um den europaweit agierenden Neonazi Malte Redeker zugeordnet wird. Redeker gilt als zentrale Figur der neonazistischen Hammerskin Nation und war, wie EXIF berichtet, 2015 bei der Falkenhainer Textil UG, die das Label Front Records betrieb, angestellt. Gegenwärtig firmiert das Konstrukt unter dem Namen Gjallarhorn Klangschmiede Front Musik und vertreibt über das Label die Tonträger verschiedener Bands aus dem Hammerskin‑Netzwerk. Als Betreiberin fungiert dabei gegenwärtig die 2020 gegründete Küste Textil UG, welche mit Wewelsburg Records ein weiteres Label aus dem Umfeld der Hammerskins unterhält.
Auch wenn die gegenwärtige Bedeutung der Wurzener Akteur:innen in diesem Geflecht schwer zu beurteilen ist, verdeutlichen die Recherchen von EXIF die Verbindungen zu bundesweit agierenden neonazistischen Netzwerken. Zugleich hat sich auf lokaler Ebene ein extrem rechtes Konglomerat verschiedener Unternehmen und Immobilien gebildet, das auf die tiefe Verankerung der extremen Rechten in der Stadt schließen lässt.
Obwohl die Akteur:innen zunehmend versuchen, ihre Geschäftsstrukturen zu verschleiern und in der Stadtgesellschaft wenig aufzufallen, entlädt sich ihre extrem rechte Ideologie immer wieder auch in der Öffentlichkeit. So beispielsweise am Rande einer antifaschistischen Demonstration in Wurzen 2018. Nahe einer dem Netzwerk zuzurechnenden Immobilie in der Wurzener Bahnhofstraße sammelten sich mit Macheten und Teleskopschlagstöcken bewaffnete Neonazis für einen möglichen Angriff auf Journalist:innen und Demonstrant:innen (siehe Belltower.News). Darunter war auch der Wurzener Benjamin Brinsa, der seit 2019 für das Neue Forum Wurzen (NFW) im örtlichen Stadtrat sitzt und als prägende Figur des extrem rechten Kampfsports in der Region Wurzen gilt.
Üble Schläger
Dass sich auch extrem rechte Kampfsportler im oben beschriebenen Wurzener Netzwerk wiederfinden, überrascht wenig. Seit jeher besitzt Kampfsport für Neonazis eine ideologische und praxisbezogene Attraktivität, bietet er doch eine hohe Anknüpfungsfähigkeit für extrem rechte Männlichkeitsideale von Härte sowie Kampfbereitschaft und vermittelt zugleich Gewaltkompetenzen, die unmittelbare Anwendung finden können. In den vergangenen Jahren ist dabei sogar ein regelrechter „Boom“ zu beobachten, wie es der Soziologe Robert Claus ausdrückt. In Wurzen kann dieser an gewachsene Strukturen anknüpfen. Bereits zu Beginn der 2000er-Jahre gab es mit den Fighting Fellas 28 Wurzen eine Kampfsportgruppe in der Stadt, in der verschiedene Neonazis zusammentrafen und die laut AIB vom Front Records-Betreiber gesponsort worden sein soll. Die Verquickung von RechtsRock und Kampfsport ist nicht nur in Wurzen zu beobachten und „die Angebote des RechtsRocks und des neonazistischen Kampfsports scheinen sich bestens zu ergänzen“, wie die Autoren Jan Raabe und Tobias Hoff festhalten (siehe Hoff/Raabe 2020, 102).
Eine Besonderheit in Wurzen ist es jedoch, dass mit Front Records nicht nur ein bedeutendes Unternehmen des RechtsRocks vor Ort agierte, sondern mit Benjamin Brinsa auch ein relevanter und überregional vernetzter Akteur des extrem rechten Kampfsports in der Stadt ansässig ist. Brinsa trägt seine Zugehörigkeit zur Hooliganszene des 1. FC Lokomotive Leipzig offen zur Schau und gilt als einer der führenden Köpfe des Imperium Fighting Team (IFT) aus Leipzig. Bei diesem wiederum sind die personellen Überschneidungen zur Hooliganszene von Lokomotive Leipzig und der extremen Rechten frappierend. Exemplarisch für diese Verbindungen steht die Teilnahme verschiedener IFT-Kämpfer an dem Neonazi-Angriff auf den Stadtteil Leipzig-Connewitz (siehe Belltower.News) oder die Teilnahme an IFT-Trainingseinheiten durch extrem rechte Erfurter Hooligans, die später wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht standen, da sie unter anderem politische Gegner:innen überfallen hatten (siehe EXIF).
Ein anderer Kämpfer, der aus der Nähe von Wurzen stammt und ebenfalls beim IFT trainierte, wurde wegen eines Angriffs auf einen senegalesischen Türsteher auf der Insel Mallorca verurteilt, bei dem der Geschädigte lebensbedrohlich verletzt wurde (siehe LIZ). Wenige Wochen vor der Tat, im Mai 2019, stand der Verurteilte noch in einem Mob aus etwa 50 schwarz gekleideten Personen im Wurzener Frisch-Auf-Stadion bei einer Partie des ATSV Wurzen gegen Roter Stern Leipzig. Aus der Gruppe, die eine Melange aus Neonazis, Fans von Lok Leipzig und Kampfsportlern darstellte, wurden wiederholt Drohungen in Richtung der Fans des Roten Stern Leipzig ausgestoßen. Im Nachgang griff ein Teil der Gruppe das Kultur- und Bürger:innenzentrum D5 des Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. (NDK) am Wurzener Domplatz an und beschädigte das Gebäude (siehe Belltower.News).
Die ostentativ gezeigte Stärke und Gewaltbereitschaft sowie subkulturelle Verortung an der Schnittstelle von Fußballfankultur und Kampfsport scheint gerade auf junge Männer in und um Wurzen eine anziehende Wirkung auszuüben. So trat rund um das Jahr 2019 nach Informationen der taz die sogenannte 808-Crew in Wurzen auf, die sich ein Vorbild an der inzwischen aufgelösten Terrorcrew Muldental nehmen wollte und sich vorwiegend aus jungen, kampfsportaffinen Männern zusammensetzte (siehe taz).
Bei genauerer Betrachtung dieser „Crew“, die gegenwärtig nicht mehr als geschlossene Gruppe in der Stadt auftritt, werden Wandlungsprozesse am rechten Rand offenbar. Die jungen Kampfsportler entziehen sich klassischen extrem rechten Erscheinungsformen und finden ihre Bezugspunkte eher im Rap und den häufig darin propagierten Idealen einer wirtschaftlichen wie körperlichen Potenz als im neonazistisch geprägten RechtsRock. Neben einer weniger stark ausgeprägten neonazistischen Ideologisierung scheint sich hierin nicht zuletzt ein Generationsunterschied auszudrücken.
Üble Aussichten
Gerade die zentralen Akteur:innen aus den unterschiedlichen Betätigungsfeldern sind jedoch über geteilte ideologische Bezugspunkte, wirtschaftliche Beziehungen und lange persönliche Verbindungen gut vernetzt. Welche Bedeutung die extrem rechten Wurzener Unternehmer:innen in überregionalen neonazistischen und kriminellen Strukturen einnehmen, ist in seiner Dimension schwer zu beurteilen. Bedenklich stimmt allerdings die tiefe wirtschaftliche Verankerung in der Stadt sowie die finanziellen Mittel, über die sie offenbar verfügen. So berichtete die taz 2019 über interne Nachrichten, denen zufolge Personen aus dem Wurzener Netzwerk einen Immobilienkomplex in der Stadt für eine halbe Million Euro gekauft haben sollen (siehe taz). Die genaue Nutzung des Komplexes ist, unter anderem bedingt durch die Covid-19-Pandemie, ebenso wenig abzusehen, wie die Bestrebungen zum weiteren Ankauf von Immobilien durch extrem rechte Akteur:innen.
Welche verheerenden Ausmaße extrem rechte Wirtschaftsnetzwerke und Gruppierungen für Städte und Bürger:innen annehmen können, zeigen unter anderem die Entwicklungen in Cottbus (siehe Tagesspiegel) oder das Beispiel der Neonazi-Gang Turonen in Thüringen (siehe Belltower.News). Es bleibt zu hoffen, dass ein derartiges Übel der Stadt Wurzen erspart bleibt.
Weiterführende Informationen zu wirtschaftlichen Aktivitäten extrem rechter Netzwerke in Wurzen finden sich im folgenden Dossier des Dokumentationsprojekts Chronik.LE : https://chronikle.org/dossiers/geschaeftstuechtig-gewaltbereit-ueberblick-rechten-mischszene-wurzen