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Rechte Verschwörungsideologien und AfD Alexander Gauland wittert Morgenthau

Wie weit rechtsextreme Ideologie in der AfD verbreitet ist, tritt aktuell mit einer derartigen Geschwindigkeit zutage, dass dem publizistisch kaum noch hinterherzukommen ist: Nach der Aufdeckung von Andreas‘ Kalbitz weiterer Nazi-Vergangenheit am Wochenende wittert Alexander Gauland nun Morgenthau.

 
Kein Wunder, dass AfD-Chef Alexander Gauland in Waren so besorgt dreinblickt: Er sieht den Hungertod für Millionen Deutsche.

 

Vorfall 1: Andreas Kalbitz hat eine noch rechtsextremere Vergangenheit als gedacht

Brandenburgs AfD-Chef Andreas Kalbitz hat diverse Bezüge zur rechtsextremen Szene – das berichtete Belltower.News bereits vor der Landtagswahl in Brandenburg im September 2019.

 

Wir berichteten über seinen kreativ angepassten Lebenslauf – u.a. das „Ostdeutscher“-Narrativ, obwohl im Westen aufgewachsen, ein angegebenes, aber nicht vorhandenes Studium, und um Mitgliedschaften in einer rechten Burschenschaft, im rechtsextremen Witikobund, seine Autorenschaft für die Zeitschrift „Fritz“, dem Vereinsblatt der extrem rechten „Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland“ (JLO), die Mitgliedschaft in der rechtsextremen Vereinigung „Kultur- und Zeitgeschichte, Archiv der Zeit“, wo Kalbitz auch langjährig Vorstand war, den Besuch eines HDJ-Ferienlagers und mehr – alles rechtsextrem genug.

Am Wochenende berichtete nun der „Spiegel“ über noch mehr rechtsextreme Vergangenheit: So war Andreas Kalbitz von 1994 bis 2005 Fallschirmjäger der Bundeswehr – und sei schon in dieser Zeit vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) wegen rechtsextremer Betätigungen beobachtet worden, etwa wegen einer nationalistischen „Wallfahrt“ nach Belgien (1999, 2000) und weil er in den 1990er Jahren offenbar Mitglied bei der „Jungen Landsmannschaft Ostpreußen“ (JLO) war: Die rechtsextreme Gruppierung organisierte jahrelang die revisionistischen Nazi-Großaufmärsche zum Jahrestag der Bombardierung von Dresden, wurde vom Verfassungsschutz beobachtet und gilt als Vorfeld-Organisation der NPD.

Ob dies allerdings Kalbitz‘ Karriere in der AfD gefährdet, sei dahingestellt: Zum einen waren seine vielfältigen rechtsextremen Bezüge den AfD-Funktionär*innen und auch den AfD-Wähler*innen schon vor der Landtagswahl hinlänglich bekannt und kein Hinderungsgrund für die aktuelle Ämterübernahme oder Gerüchte um Kalbitz als potenziellen zukünftigen AfD-Kopf.

Zum anderen stellt sich mittlerweile eher die Frage, wer in der AfD keine Bezüge zum Rechtsextremismus hat.

Vorfall 2: Alexander Gauland verschwört sich

Der aktuelle Bundes-AfD-Chef, Alexander Gauland, am letzten Wochenende noch als scheinbar veritabler Partygast bei der F.A.Z. eingeladen (vgl. FR), zeigte sich an diesem Wochenende beim AfD-Parteitag in Waren (Mecklenburg-Vorpommern) als Verschwörungsideologien-Fan. Laut Nordkurier sprach er dort ins Mikrophon: „Gegen die Grünen müssen wir kämpfen, um dieses Vaterland zu bewahren. Wenn diese Partei sich durchsetzt, wird der sogenannte Morgenthau-Plan durchgesetzt.“

Falls Sie sich jetzt fragen, was das für ein Plan ist, sind Sie vermutlich weder Historiker*in noch oft in rechtsalternativen Verschwörungsszenen unterwegs. Dort gilt der sogenannte Morgenthau-Plan nämlich als unumstößlicher „Beleg“ dafür, dass die Alliierten mindestens so verbrecherische Absichten in Bezug auf das deutsche Volk gehabt hätten, wie sie dem NS-Regime gegenüber den Jüdinnen und Juden vorgeworfen würden – und so hätten sie kein moralisches Recht (gehabt) zu NS-Prozessen und Entnazifizierung Deutschlands.

Was war der sogenannte „Morgenthau-Plan“?

Henry Morgenthau war 1944 amerikanischer Finanzminister und schrieb ein Diskussionspapier, wie Deutschland nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg so umstrukturiert werden könne, dass es nie wieder in der Lage wäre, einen Angriffskrieg zu führen. Morgenthaus zentrale Idee: Deutschland solle demilitarisiert und in einen Agrarstaat umgewandelt werden. Sämtliche deutsche Industrie solle demontiert werden, inklusive eines „Verbots der Reindustrialisierung“ auf absehbare Zeit. Der Entwurf war nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, wurde aber in die Öffentlichkeit gespielt. Präsident Franklin D. Roosevelt verwarf ihn schon nach einigen Wochen, er war nie zur politischen Realisierung vorgesehen.

Der „Morgenthau-Plan“ war also nie offizielle amerikanische Politik. Trotzdem war er ein gefundenes Fressen für die nationalsozialistische Propaganda, die dringend Argumente brauchte, um den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung in der Schlussphase des Krieges zu stärken: Der Plan des „Juden Morgenthau“ zeige, wie das „Weltjudentum“ die „Versklavung“ Deutschlands plane. Anfang Oktober 1944 berichtete der „Völkische Beobachter“, die amerikanischen Pläne liefen darauf hinaus, 30 Millionen Deutsche dem Hungertod preiszugeben.

Diese Propaganda wirkte nachhaltig: Ein politisch irrelevanter Entwurf ist bis heute Grundlage für antisemitische und antiamerikanische Verschwörungsideologien. Die Erzählung, dass die amerikanischen Alliierten vorgehabt hätten, Deutschland zu „versklaven“ oder gar auszuhungern, birgt ein Entlastungsmoment, um sich vor der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen zu drücken.

Der Historiker und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, zählt die revisionistische Rezeption des Morgenthau-Entwurfs zu den wichtigsten Legenden über den Nationalsozialismus: „Der Morgenthau-Plan spielt als Beweis jüdischen und amerikanischen Vernichtungswillens gegenüber Deutschland eine beträchtliche Rolle, die mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat, aber als antiamerikanisches und antijüdisches Stimulans bis zum heutigen Tag wirksam ist. […] Für die Besatzungs- und Deutschlandpolitik der Alliierten blieb die Episode ohne Bedeutung. Aber Goebbels und Hitler benutzten ‚Judas Mordplan‘ zur ‚Versklavung Deutschlands‘ mit so großem Erfolg für ihre Durchhaltepropaganda, dass bei vielen der Glaube entstand, das Programm sei 1945 realisiert worden. In der rechtsextremen Publizistik spielt der Plan diese Rolle heute noch.“

Für Gauland sind die Grünen sogar noch schlimmer

Welche Medien Alexander Gauland rezipiert und woher er seine Sicht auf den Morgenthau-Plan nimmt, entzieht sich unserer Kenntnis.  In der Rede in Waren wird jedenfalls klar, dass Gauland nicht nur annimmt, dass mit Wahlerfolgen „der Grünen“ heimlich oder bewusst der Morgenthau-Plan umgesetzt wird – nein, „die Grünen“ sind noch schlimmer: „Aber die Grünen würden nicht nur die Industrie zerstören, sondern auch die Landwirtschaft ruinieren und damit die Ernährungsgrundlage Deutschlands.“ Wenn Bedrohungserzählung in NS-Tradition, dann richtig.

Fairnesshalber sei allerdings gesagt, dass Alexander Gauland mit dem Narrativ „Umweltschutz zerstört die deutsche Industrie und um das zu illustrieren, wähle ich eine antisemitsche Verschwörungserzählung“ nicht allein ist: In der „FAZ“ sagte FDP-Chef Christian Lindner im September 2019 zum Thema Klimaschutz: „Wir werden den Planeten nicht retten, indem wir einen Morgenthau-Plan für Deutschland umsetzen und die Deutschen zu veganen Radfahrern machen.“ Immerhin hatte der dabei wohl eher den Agrar-Staat im Sinn als die Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die Deutschland vernichten will (vgl. Christian Lindner auf Twitter, Süddeutsche, Kommentar von Alan Posener in der Welt).

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