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Rechter Terror „Es hat sich fast nichts verändert!“ — 10 Jahre NSU-Selbstenttarnung

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Mehmet Daimagüler, Abdulkerim Şimşek, Mehmet O., Dr. Rosa Fava, Armin Kurtović und Christina Feist bei der Abschluss Podiumsgespräch „Kontinuitäten im Umgang mit rechter Gewalt?- Forderungen von Betroffenen der Anschläge des NSU, in Halle und Hanau.“ (Quelle: AAS)

Was hat sich in den letzten zehn Jahren seit der Selbstenttarnung des „nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) getan und was hat das gebracht? Und was muss endlich passieren? Das waren die wichtigsten Fragen, die eine Berliner Konferenz beantworten wollte. Eingeladen hatte am 3. November 2021 der Opferfonds CURA, ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung zu „10 Jahre Selbstenttarnung des ‚NSU‘. Wo stehen wir heute im Umgang mit rechter Gewalt?” Dabei ging es vor allem um die Behörden. Zur Eröffnung der Tagung stellt der Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, Timo Reinfrank, fest: „Die zentrale Lehre aus dem NSU-Versagen ist, dass wir den Betroffenen zuhören sollen.“

Die erste Podiumsdiskussion der Konferenz befasste sich mit Hasskriminalität und rechte Gewalt in Berlin. Neben der rechtsextremen Brandanschlag-Serie in Neukölln, welche seit 2016 über 70 Straftaten zählt, sind in Berlin besonders Vorfälle von Alltagsrassismus signifikant, gerade in den Behörden. Auf dem Podium saßen Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin, Jouanna Hassoun von REDAR, dem Recherche- und Dokumentationsprojekt antimuslimischer Rassismus und Mirjam Blumenthal von den Falken Neukölln. Sie berichteten über Ihre Erfahrungen mit antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus und der zivilgesellschaftlichen Arbeit gegen rechte Gewalt. Die Runde teilte die beängstigende Einschätzung zur Entwicklung der Hasskriminalität in Berlin. Anschläge und Bedrohungen nehmen permanent zu, während das Vertrauen der Betroffenen in die Behörden kontinuierlich sinkt.

Auch die immer wieder auftauchenden „Feindeslisten“ waren Thema. „Da ist nicht viel passiert!“, beklagt Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin. Und das obwohl die Gruppe an Personen, die auf solchen Listen landen, immer größer wird. 

Jeff Kawasi Klein vom Antidiskriminierungs Projekt Each One Teach One e.V stellte einen Bericht vor, der die Schwarze Lebensrealität im Zusammenhang mit der Polizei beleuchtet. Die dargestellten Erfahrungen überschnitten sich mit den Erlebnissen von Vertreter:innen der Sinti und Roma Community und stehen exemplarisch für alle Minderheiten: Racial Profiling oder Täter-Opfer-Umkehr. Die Hemmschwelle der Betroffenen, die Diskriminierung durch die Polizei erfahren haben ist durch das Misstrauen in staatliche Organisationen und die Angst vor möglichen Konsequenzen, meist höher als der Wille einer Aufarbeitung. Dennis Golcher will als Senatsverwalter für Inneres und Sport, darauf setzen, dass die Polizei in Zukunft Vertreter:innen marginalisierter Gruppen sowie mit der Zivilgesellschaft in Dialog tritt und erklärt, dass sich die Polizei zu einer diskriminierungsfreien Behörde verbessern muss. 

Vorverurteilung von Opfern

Im Zusammenhang mit rechter Gewalt und dem Umgang der staatlichen Behörden, bedeutet Sekundäre Viktimisierung, dass die Anliegen der Betroffenen oder Angehörigen von der Polizei oder der Justiz nicht ernst genommen werden und Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Die gelobte Besserung im Umgang mit den Betroffenen nach den NSU-Anschlägen, scheiterte gerade hier krachend. Ängste, Forderungen und Aussagen der Angehörigen und Überlebenden der Anschläge von Hanau und Halle wurden von den Behörden mehrfach nicht ernst genommen oder ignoriert. Laut Daniel Geschke vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, ist es möglich, dass Sekundäre Viktimisierung bis zur Enkelgenerationen der NSU-Überlebenden zu Traumata kommt. Das Wichtigste, um dem entgegenzuwirken sei, die Anliegen der Hinterbliebenen ernst zu nehmen und sie Gerechtigkeit erleben zu lassen.

Forderungen von Überlebenden und Angehörigen rechtsextremen Terrors 

„Das einzig Positive, was wir nach dem 4. November 2011 erfahren haben, ist, dass wir endlich über Rassismus sprechen können – das war vorher nicht gestattet. Jetzt sprechen wir über Rassismus, Transfeindlichkeit, Sexismus“, eröffnet Mehmet Daimagüler, Nebenkläger des NSU-Prozesses, die letzte Veranstaltung der Tagung. Angehörige von Opfern und Überlebende rechten Terrors kamen zu Wort. Thematisch ging es um die Kontinuitäten im Umgang mit rechter Gewalt. Und diese Kontinuitäten wurden sehr schnell deutlich. Alle Podiumsteilnehmer:innen hatten Rassismus der Polizei erlebt. So erzählt Mehmet O., der einen Bombenanschlag des NSU überlebt hat, dass er von Anfang an das Gefühl hatte,von der Polizei nicht als Opfer, sondern als Beschuldigter gesehen zu werden. Drogenmillieu, Schutzgeld oder Prostitution waren die Vermutungen der Behörden. Ähnliche Erfahrungen machte Abdulkerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek. Da der Vater Blumen aus Holland bezog, gingen die Ermittlungen sofort in Richtung Drogenmilieu. Fassungslos zeigte sich Armin Kurtović darüber, dass sein blonder und blauäugiger Sohn Hamza, Opfer des Terroranschlags in Hanau, von einem Polizisten als „orientalisch-südländisch“ beschrieben wurde.

Auch Respektlosigkeit von Polizist:innen hatten alle erlebt. Für die Überlebende des rechtsextremen Anschlags in Halle, Christina Feist, war es ein „völlig falscher Umgang mit frisch traumatisierten Menschen und mit jüdischen Menschen“ bei der Evakuierung der Gläubigen aus der Synagoge. Die Polizei hatte nicht nur kein Wissen über jüdisches Leben, sondern auch keine Sensibilität. 

„Ich finde es schade, dass ich von einem Journalisten erfahren musste, dass ich ein NSU-Opfer bin“ beklagt Mehmet O. die fehlende Kommunikation der Polizei,die alle Diskussionsteilnehmer:innen erlebten. Auch Feist erfuhr von einem Fluchtversuch des Attentäters aus dem Gefängnis erst aus den Medien. Trotz der eindrücklich geschilderten Fehler der staatlichen Behörden, hat keiner der Betroffenen jemals eine Entschuldigung erhalten. „Die Fehlerkultur, von der man immer redet: Ich sehe da gar nichts!“ formuliert Kurtović es treffend.

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