Die Nebenkläger und ihre Anwälte hatten sich zu diesem Schritt entschlossen, weil nach einem halben Jahr Verhandlungsdauer am Amtsgericht Halberstadt deutlich geworden ist, „dass die Bedingungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht mehr gegeben sind,“ so Rechtsanwalt Stephan Martin. „Die Polizei hat uns nach dem Angriff nicht geholfen und die Täter laufen lassen. Jetzt haben wir auch das Vertrauen in die Justiz verloren,“ lautet das Resümee der Betroffenen.
Das Verfahren gegen vier Angehörige der rechten Szene in Halberstadt im Alter von 22 bis 28 Jahren, denen die Anklage gemeinschaftliche Körperverletzung vorwirft, war von Anfang an von massiven Polizeipannen und Ermittlungsfehlern begleitet. So hatten beispielsweise in der Tatnacht Polizeibeamte trotz mehrfacher Aufforderungen der Opfer nicht die Personalien der noch vor Ort befindlichen tatbeteiligten Rechten aufgenommen. Darüber hinaus gab es vor Ort keine Einsatzkoordination der Polizei, die sowohl von den Betroffenen als auch von Unbeteiligten unmittelbar nach dem Angriff über Notruf verständigt worden war. Ein polizeiinterner Untersuchungsbericht rügt denn auch den gesamten Polizeieinsatz als „katastrophal“ und bemängelt insbesondere die Tatsache, dass es keinerlei Koordination für die vor Ort kopflos agierenden einzelnen Polizeibeamten gegeben habe.
Diese Konzeptlosigkeit hat sich dann im staatsanwaltschaftlichen Vorgehen fortgesetzt. So wurden beispielsweise gerichtsmedizinische Untersuchungen der Opfer und Angeklagten erst zehn Tage nach dem Angriff angeordnet. Nur sechs Tage nach dem Angriff präsentierte die Staatsanwaltschaft Halberstadt eine erste Anklage gegen einen der vier einschlägig vorbestraften Angehörigen der rechten Szene in Halberstadt. Dabei stützte sie sich wesentlich auf ein Teilgeständnis des u.a. wegen Körperverletzung vorbestraften Angeklagten Christian W. (22). Mit der extrem kurzfristigen Anklageerhebung reagierte die Staatsanwaltschaft offensichtlich auf die öffentliche Empörung über die massiven Polizeipannen unmittelbar nach dem Einsatz. „Die Anklage wurde völlig überhastet erhoben“, kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Schon bei Prozessbeginn zeichnete sich ab, dass die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zum einen lückenhaft, zum anderen unvollständig waren und so die Anklage gegen drei von vier Angeklagten auf tönernen Füssen stand.“ Dies hatte u.a. zur Konsequenz, dass Ermittlungstätigkeiten in der Hauptverhandlung stattfinden mussten.
Ungewöhnliche Rechtsauffassung des Vorsitzenden Richters
Erheblich erschwert wird die Hauptverhandlung zudem durch die Entscheidung des Vorsitzenden Richters Selig, die so genannte Mittäterschaft in der Anklage wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung nicht zuzulassen. Mit dieser Entscheidung offenbart sich eine äußerst ungewöhnliche Rechtsauffassung des Vorsitzenden Richters. Während es gängige Rechtssprechung ist, dass bei einer Körperverletzung durch mehrere Täter einzelne Tathandlungen nicht jedem einzelnen Beschuldigten zugeordnet werden müssen, sondern eine jeweilige Zurechnung der jeweils einzelnen Tatbeiträge erfolgt, erwartet Richter Selig von Opfern, die von den Rechten zu Boden getreten wurden und dann schützend ihre Hände vors Gesicht hielten, dass sie einzelnen Angeklagten genaue Tathandlungen zuordnen können. Dies gelang bisher vor allem in Bezug auf den einschlägig vorbestraften Angeklagten Christian W., der laut Zeugenaussagen den Angriff mit Schlägen gegen mehrere Ensemblemitglieder begann.
Nachdem sich schnell abzeichnete, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft Halberstadt gegen einige der Angeklagten auf äußerst wackeligen Füßen steht, haben die Vertreter der Staatsanwaltschaft seit Jahresbeginn ihre eigene Anklage in der Hauptverhandlung nicht mehr vertreten. Mit fatalen Folgen: So konnten polizeibekannte Rechte, die als Zeugen in der Hauptverhandlung über die Tatnacht und ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens sowie ihre Kenntnisse über mögliche Täter befragt wurden, auf diese Fragen reihenweise Gedächtnis- und Erinnerungslücken angeben, ohne dass die Staatsanwaltschaft oder das Gericht dagegen einschritt.
Nun wälzt die Staatsanwaltschaft die Verantwortung für die mangelhaften Ermittlungen u.a. auf die Opfer des Angriffs ab, in dem sie ihnen vorwirft, sich nicht genau genug zu erinnern. Faktisch werden so die Betroffenen, deren Vertreter*innen im Prozess alles versucht haben, um eine Aufklärung der Ereignisse voranzutreiben, für das drohende Scheitern der Anklage mitverantwortlich gemacht.
Fehlende Akte plötzlich überreicht
Zudem stellte sich zum Jahresanfang 2008 heraus, dass im Prozess keineswegs alle Ermittlungsergebnisse zum Sachverhalt vorliegen. Erinnert sei hier an die fehlende Akte, die die Staatsanwaltschaft zur Überraschung aller anderen Prozessbeteiligten plötzlich Anfang Januar überreichte. Für einige andere Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaft und der Polizei, wie z.B. den Besuch einer Staatsanwältin in der Gaststätte „Spucknapf“ eine Woche nach dem Angriff, fehlen bis heute die Dokumentationen.
Die Nebenkläger und ihre Vertreter*innen haben nach mehr als sechsmonatiger Hauptverhandlung den Eindruck gewonnen, dass dieser Prozess sich „immer weniger an rechtsstaatlichen Vorgaben orientiert“, so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.
Die rechte Szene Halberstadts befindet sich aufgrund des derzeitigen Prozessverlaufs erneut in der Offensive – wie zuletzt der Angriff auf der soziokulturelle Zentrum ZORA Ende Februar 2008 deutlich machte. Offensichtlich ist zudem, dass die Zeugen aus der rechten Szene die Angeklagten – bis auf Christian W. – noch immer als Kameraden ansehen. Das ist auch keineswegs weiter verwunderlich, wenn man sich beispielsweise den Bericht der Gerichtsmedizinerin über deren Tätöwierungen vor Augen hält. So wurden bei Christian W. u.a. zwei tätowierte Hakenkreuze und bei den Angeklagten David O. und Tobias L. jeweils ein Hakenkreuz festgestellt. „Rechte Gewalttäter zur Verantwortung zu ziehen, ist von entscheidender Bedeutung im Kampf gegen Rechts. Leider sehen wir in diesem Prozess ein Musterbeispiel dafür, wie Polizei- und Ermittlungsfehler eine Strafverfolgung kaum mehr möglich machen“, sagt eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.
Zum bisherigen Verlauf
Bei einer Verhandlung im januar kam eine weitere ‚Panne‘ hinzu: Erst am 20. Dezember 2007 erhielt die Staatsanwaltschaft — nach mehrmaligen Anträgen durch Nebenklägervertreter und Verteidiger im Prozess — vom damals zuständigen Leiter des Staatsschutzes beim Polizeirevier Halberstadt einen Aktenordner mit bislang unbekannten Ermittlungsergebnissen. Der Aktenordner enthält u.a. Zeugenaussagen, Lichtbildvorlagen und Auswertungen von Tatortspuren wie Blut und Speichel. Der Ordner wurde dann erst am 7. Januar 2008 dem Gericht übergeben. Der Vorsitzende Richter unterbrach deshalb die Verhandlung und gab den Inhalt des Ordners zunächst den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis.
„Es ist eine Verhöhnung der Opfer des Neonaziangriffs und der Justiz, wenn die Polizei nicht nur unmittelbar nach der Tat, sondern auch noch im laufenden Prozess offensichtlich eine vollständige Aufklärung der Tatumstände unmöglich macht — indem sie dem Gericht wesentliche Ermittlungsergebnisse nicht zur Verfügung stellt,“ so Rechtsanwältin Frauke Steuber für die NebenklägerInnen. „Das Verfahren ist von Anfang an von polizeilichen Schlampereien begleitet gewesen. Wir können uns noch nicht einmal sicher sein, ob uns jetzt alle Akten zur Verfügung stehen. Mit diesem Verhalten verhindert die Polizei eine juristische Aufarbeitung des Neonaziangriffs.“
Auch die Staatsanwaltschaft zeigte sich nicht erfreut über die Zuarbeit der Polizei, der ein interner Bericht bei den Ermittlungen in Halberstadt „Gesamtversagen“ attestiert. „Ein solch offensichtliches Versehen darf nicht vorkommen“, sagte ein Sprecher der Behörde in Halberstadt der taz. In dem Prozess müssten jetzt Zeugen noch einmal vernommen oder neu geladen werden, sagte Franziska Nedelmann, die als eine von sieben AnwältInnen die angegriffenen Schauspieler vertritt. Sie kritisiert insbesondere, „dass die aufgefundenen Akten auf Ermittlungen kurz nach der Tat im Sommer beruhen. Sie hätten deshalb schon lange vorliegen müssen.“
Schon unmittelbar nach dem Neonaziangriff auf das Theaterensemble war eine interne Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Polizei nach dem Angriff auf vielen Ebenen versagt hatte. Ab dem 16. Januar 2008 sollen nun in dem Prozess die beteiligten Polizeibeamten als Zeugen gehört werden. „Das Polizeiverhalten hat eine fatale Signalwirkung für rechte Schläger: Dass sie möglicherweise ungestraft davon kommen, weil sie mit schlampigen Ermittlungen rechnen können,“ sagt eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.
Zum Verlauf in 2007
Seit dem 9. Oktober 2007 wird am Amtsgericht Halberstadt, in den Räumen des Landgerichts Magdeburg, gegen die vier rechten Schläger verhandelt, denen vorgeworfen wird maßgeblich am brutalen Angriff auf ein 14-köpfiges Theaterensemble in Halberstadt am 9. Juni diesen Jahres beteiligt gewesen zu sein. Das Theaterensemble wurde nach der Premiere ihres in Thale aufgeführten Stückes „Rocky Horror Show“ in Halberstadt angegriffen. Dabei wurden fünf männliche Mitglieder des Ensembles durch Faustschläge und Fußtritte so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten.
Das zuständige Gericht hatte in einer Verhandlung am 5.12.2007, auf Antrag der Verteidigung, die Haftbefehle gegen David O., Tobias L. und Stefan L. aufgehoben und die Untersuchungshaft von Christian W. außer Vollzug gesetzt. Der Tatverdacht hätte sich im Laufe der Hauptverhandlung nicht weiter erhärtet.
„Die Aufhebung der Haftbefehle kann nicht als Wende im Prozess um den Angriff auf das Theaterensemble in Halberstadt verstanden werden“, so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt.„Es ist keine Überraschung, sondern die Konsequenz einer dünnen Beweislage, die u.a. auf Ermittlungspannen der Polizei am Tatort und den blinden Aktionismus der Staatsanwaltschaft zurückgeht.“ Die VertreterInnen der Nebenklage, die im Prozess die Betroffenen des brutalen und rechtsmotivierten Angriffs vertreten, haben daher der Aufhebung der Haftbefehle bei drei der Angeklagten zugestimmt. Sie widersprachen allerdings entschieden, auch Christian W. aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Mutmaßlicher Haupttäter wiedererkannt
“Wie das Gericht zu der Einschätzung kommt, dass im Falle von Christian W. kein dringender Tatverdacht mehr besteht ist äußerst zweifelhaft.“, so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt. „Christian W. wird eine Einlassung zu Gute gehalten, die nach dem bisherigen Prozessverlauf längst widerlegt ist.“ Im Verlauf des Prozesses erkannten mehrere Opfer und Zeugen den 22-jährigen als mutmaßlichen Haupttäter wieder. Sie schilderten, dass er den ersten Schlag gegen die Theatergruppe ausgeführt habe und erst im Anschluss die umstehenden Mittäter wie auf Kommando auf das Theaterensemble losgegangen sind. In seiner Einlassung behauptet Christian W. u.a. provoziert worden zu sein und macht Angaben, die sich im bisherigen Prozessverlauf nicht bestätigt haben.
„Erhebliche Gewalteinwirkung“
Zu Beginn des zurückliegenden Prozesstages hatte die Gerichtsmedizinerin ausgesagt, die die Betroffenen und die vier Angeklagten nach dem brutalen Angriff untersuchte. Sie sprach bei den Betroffenen von teilweise verheerende Verletzungen, die auf eine erhebliche Gewalteinwirkung zurückzuführen sind und bei zwei der Betroffenen lebensgefährlich waren. Es sei durchaus möglich, dass mit Springerstiefeln auf einige der Betroffenen eingetreten wurde.
Bei den Angeklagten Christian W., David O. und Tobias L. habe sie Verletzungen festgestellt, die auf das Austeilen von Faustschlägen seitens der mutmaßlichen Täter hindeuten könnten. Befragt nach Auffälligkeiten bei der Untersuchung der mutmaßlichen Angreifer gab sie an, dass sie bei Christian W., David O. und Tobias L. rechtsextreme Tätowierungen festgestellt und protokolliert habe. Bei Christian W. habe sie u.a. zwei tätowierte Hakenkreuze festgestellt, beim mutmaßlichen Angreifer David O. u.a. die Tätowierungen „Blut und Ehre“ sowie ein Hakenkreuz. Beim Angeklagte Tobias L. habe ebenfalls ein tätowiertes Hakenkreuz festgestellt und im Untersuchungsprotokoll vermerkt.
“Die Staatsanwaltschaft ist in der Pflicht, Konsequenzen aus dem bisherigen Prozessverlauf zu ziehen“, so ein Sprecher der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt. „Die Staatsanwaltschaft muss Nachermittlungen anordnen und weitere namentlich bekannte Tatzeugen vorladen. Ohne weitere Ermittlungen droht ein Debakel für den Prozess und der Freispruch von einigen der mutmaßlichen Angreifer.“
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Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).