An einem Samstag im Juni 2008 ist Angela Merkel auf dem Weg zu ihrem Ferienhäuschen. Auf der Fahrt durch das Städtchen Joachimsthal ist überall Polizei: Vor dem Haus von Werner K. (einem verurteilten Sexualstraftäter), das die Einsatzkräfte gegen Angriffe der rechtsextremen Szene sichern. Am Bahnhof, wo sich der Demonstrationszug der NPD formiert, vor der Kirche, wo Gegendemonstranten Plakate malen, und dann auch vor dem Supermarkt, wo Angela Merkel ihren Wochenendeinkauf erledigt. Einige Bürger*innen schauen am Straßenrand der Gruppe schwarz gekleideter Jugendlicher zu, die sich zu Neonazipop durch den Ort bewegt und immer wieder die „Todesstrafe für Kinderschänder“ fordert. Eine halbe Stunde später, die Neonazis sind vorbeigezogen, lädt Frau Merkel ihren Kofferraum mit Lebensmitteln voll und fährt wieder weg.
Der Mobilisierungseffekt des Themas „Kinderschänder“
Zurück bleiben die Joachimsthaler. Sie sind allein mit ihrer Angst um ihre Kinder und der Furcht vor dem Vergewaltiger, der 22 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. Ein Antrag auf „nachträgliche Sicherheitsverwahrung“ wurde vor Gericht zurückgewiesen. Niemand fragt, wie die Stadt mit einem Vergewaltiger lebt, niemand hat Antworten. Außer vermeintlich die NPD. Bei den Bürgern bleibt zurück, dass die Politik in einer solchen Situation lieber Einkaufen geht, als sich mit den Ängsten der Menschen auseinanderzusetzen. Doch auf diese häufig hilflosen Reaktionen setzen die rechtsextreme Szene und die NPD. Nicht nur deswegen engagieren sich Rechtsextreme gegen kaum etwas so gerne wie gegen Kinderschänder. Nicht nur bei Aufmärschen fordern die Rechtsextremen „Todesstrafe für Kinderschänder“. Eine Recherche des Internetportals Netz-gegen-Nazis.de hat den hohen Mobilisierungseffekt des Themas „Kinderschänder“ für die Szene belegt: Zahlreiche Neonazi-Bands haben Songs über Sexualstraftäter im Repertoire, Internetshops verkaufen T-Shirts mit dem Slogan und Youtube ist voll mit pathosgeladenen Videos.
Die Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen
Wenn Kinder, Frauen und Männer Opfer von sexueller Gewalt werden, übertragen sich Trauer und Schmerz der Angehörigen und Opfer auf die ganze Gesellschaft einer Stadt oder eines Landeskreises. Die berechtigte Empörung ist groß, ebenso die Ängste vor möglichen Wiederholungstaten. Die Diskussion über die Folgen, auch für die Prävention, darf jedoch nicht den Rechtsextremen überlassen werden. Sie bieten keine Lösungen. Deswegen müssen sich die Bürger*innen, die Zivilgesellschaft, demokratische Parteien und Personen des öffentlichen Lebens positionieren und Verantwortung für das Kindeswohl und demokratische Kultur übernehmen. Die Gesellschaft, wir alle, müssen uns mit den Opfern und ihren Angehörigen solidarisieren, schnell und sichtbar mit einer Stimme die Tat verurteilen und die Instrumentalisierung durch die rechtsextreme Szene verhindern. Die Demonstration der Neonazis 2008 in Joachimsthal verlief übrigens störungsfrei, einige Bürger*innen sprachen den rechtsextremen Aktivisten am Ende sogar ihre Zustimmung aus. Aber es gab auch ermutigenden zivilgesellschaftlichen Protest. Gegen den NPD-Aufmarsch setzte die evangelische Kirche mit einem Gottesdienst ein sichtbares Zeichen. „Die Kirche war voll“, so Pfarrerin Beatrix Spreng.
NPD und DVU bekommen ein weiteres Thema für den Landtagswahlkampf
Jetzt ist Joachimsthal wieder in den Schlagzeilen und NPD und DVU um ein weiteres Thema für den Landtagswahlkampf reicher. Nach heftigen Protesten von Anwohnern im letzten Jahr ordnete das Amtsgericht Frankfurt (Oder) eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung des als rückfallgefährdet eingestuften Werner K. durch die Polizei an. Mitte August 2009 endete diese „Maßnahme zum Schutz der Öffentlichkeit“ nun. Einen Antrag der Polizei auf Weiterführung lehnte das Gericht ab. Doch anstatt die Bürger*innen auf diese durchaus absehbare Entscheidung vorzubereiten, sie zu erklären und mit ihnen zusammen Perspektiven und Sicherheitsfragen aus den Folgen dieses Gerichtsbeschlusses zu erörtern, wurden die Bewohner*innen der Stadt von der Entscheidung überrumpelt. In mehreren Zeitungen wurden verschiedene Bewohner zitiert, die sich wahlweise „fassungslos“ zeigten oder ihr Unverständnis über die Entscheidung der Behörden ausdrückten. Die Yellow Press befeuert die öffentliche Empörung mit Meinungsartikeln über den „Skandal von Joachimsthal“, wie beispielsweise der Berliner Kurier am 19.08.2009. Die rechtsextreme Szene weiß auch aus diesem Vorgehen und der folgenden Presseberichterstattung Kapital zu schlagen. Die Website der NPD Brandenburg kommentiert ganz im Sinne ihrer Ideologie: „Ein Skandal, der auch den letzten Glauben an den Rechtsstaat BRD beseitigt.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).