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Rechtsextreme Szene Magdeburg als Modell?

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Samstag, 14. Januar 2012, 9.00 Uhr: Es weht ein eisiger Wind durch die Magdeburger Innenstadt. Noch ist es ruhig. Im Sonnenlicht blinken Polizeigitter. Auf dem Vorplatz des Neustädter Bahnhofs, sonst zu dieser Tageszeit verwaist, versammeln sich Menschen. „Ich hoffe wir werden noch mehr“, ruft Sören Herbst gegen 10.00 Uhr den 150 Anwesenden zu. Herbst, der damals für die Grünen im Landtag saß, hat die Veranstaltung angemeldet. Er erinnert an diesem Tag unter anderem an Thorsten Lamprecht, Frank Böttcher und Rick Langenstein, die drei jungen Männer, die in den vergangenen Jahren in Magdeburg von Neonazis umgebracht wurden.

1000 Neonazis werden erwartet

Eine in die Jahre gekommene Bahnhofshalle, bröckelnde Hausfassaden und ein leer stehendes Gebäude säumen den Vorplatz. Hier sollen sie ankommen, die rund 1000 Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet. Ausgerechnet an dem Ort, an dem auch die jüdische Gemeinde wieder Fuß gefasst hat, ausgerechnet an dem Tag, an dem die jüdische Gemeinde Schabbath feiert. Über 2300 Jüdinnen und Juden lebten in der Weimarer Republik in Magdeburg. 1500 von ihnen wurden unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ermordet, die anderen deportiert oder zur Flucht gezwungen. Heute zählt die Gemeinde wieder über 500 Mitglieder.

Am Himmel ziehen Wolken auf, als gegen 11.00 Uhr die ersten Neonazis, gänzlich in schwarz aus ihren Zügen steigen. Die Menschenmenge vor dem Bahnhof ist auf 500 Personen angewachsen. Demokrat*innen werden mit warmem Tee von der Gemeinde begrüßt, Nazis mit Redebeiträgen, jüdischer Musik und Pfiffen empfangen. „Ihr habt den Krieg verloren“ und „Blut und Hass dem nationalen Widerstand“ schallte es ihnen lautstark entgegen. In der bunten Menge, haben sich mit „Superhelden“ und Clowns auch kreative neue Protestaktionsformen eingemischt. „Kein Ort für Neonazis in Sachsen-Anhalt“-Banner, „Endstation Rechts“- und Juso-Fahnen werden geschwenkt.

„Ich hätte mir gewünscht, dass Frau Schröder hier wäre“

Auch Berliner Parteiprominenz ist an diesem Vormittag zugegen. Gesine Lötzsch, damals Vorsitzende der Linkspartei, spricht sich für ein Verbot der NPD und rechtsextremer Organisationen aus. Ihre Botschaft richtet sich vor allem an die Regierung „Viele, die heute im Staat Verantwortung tragen, sind auf dem rechten Auge blind.“ Die seinerzeitige Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, deklariert den Tag zum „Tag der Menschenrechte“. „Dass die Neonazis die Trauer missbrauchen, für ihre widerliche Nazi-Ideologie, ist beklemmend und beschämend“. Deswegen gelte es in Magdeburg heute ein Zeichen zu setzen. Das „Schönreden“ rechter Gewalt, das bei der Angabe offizieller Opferzahlen betrieben werde, müsse aufhören. Die Bundesregierung spricht von 47 Todesopfern rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung, „Mut gegen rechte Gewalt“ hat jüngst eine Liste veröffentlicht, in der für den gleichen Zeitraum 182 Todesopfer erfasst sind. „Ich hätte mir gewünscht, dass heute Frau Schröder hier wäre“, attackierte Roth die frühere Bundesfamilienministerin. Sie ist zuständig für die Bundesprogramme gegen Extremismus. Gelder an Initiativen, die sich gegen Neonazis engagieren, fließen seit 2011 nur, wenn diese eine Klausel unterschreiben, in der sie sich zur Freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen und sich verpflichten, auch die Projektpartner*innen und -partner daraufhin zu prüfen. „Diese Extremismusklausel ist verheerend. Sie kriminalisiert diejenigen, die Zivilgesellschaft stärken“. Deswegen fordert Roth: „Die Extremismusklausel muss weg.“

Magdeburg darf kein zweites Dresden werden

„Solange ich lebe, werde ich dafür einstehen, dass die Mörderbanden der Nazis und ihre Nachkommen keine Chance in Deutschland haben“, beschwörte der damals 82-jährige Hans-Jochen Tschiche die Menschen. Der 2015 Verstorbene war DDR-Bürgerrechtler und  Vorsitzender des Vereins Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt. Der Verein, der sich seit 1999 für ein weltoffenes Sachsen-Anhalt einsetzt, berät Opfer rechtsextremer Gewalt, leistet politische Bildungsarbeit und unterstützt Initiativen und Einzelpersonen, die sich gegen Menschenfeindlichkeit und für Toleranz engagieren. „Ich bin zutiefst betrübt, was heute wieder stattfindet. Dagegen müssen wir gemeinsam mit aller Entschlossenheit vorgehen.“ Und er schloss mit den Worten „Ich hoffe das Magdeburg kein zweites Dresden wird.“

Dresden stand jahrelang für einen der größten Neonaziaufmärsche Europas, bis engagierte Bürger*innen sich 2010 entgegenstellten. Tausende waren es, die durch die Blockade der Zufahrtswege den Marsch verhinderten. Im folgenden Jahr reisten spürbar weniger Neonazis nach Dresden, während über 20.000 Menschen erneut blockierten. Seitdem haben die Proteste  Vorbildcharakter für andere Städte. In Magdeburg wird seit Jahren mit der Meile der Demokratie“ ein anderes Konzept verfolgt.

Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel kommt heute zu spät. Als er am Neustädter Bahnhof gegen 12.30 Uhr eintrifft, ist ein großer Teile zu einer Spontandemonstration bereits weiter gezogen. Er lässt die Synagoge hinter sich und fährt unverrichteter Dinge weiter zur „Meile der Demokratie“, wo er dann doch noch reden wird.

Friedliche Einigkeit auf der „Meile der Demokratie“

Seit 1999 demonstrieren Neonazis anlässlich der Bombardierung der Stadt am 16. Januar 1945 in Magdeburg. Erst waren es ein paar Dutzend, vor zehn Jahren noch 200. Dann wurden es immer mehr. Die Stadt reagierte 2009 indem sie dem Aufmarsch eine „Meile der Demokratie“ entgegen stellte. Diese wird um 12 Uhr vom sozialdemokratischen OB Lutz Trümper eröffnet. Verstärkung erhält er von seinem Parteikollegen Kultusminister Stephan Dorgerloh, der als Abgesandter der Landesregierung spricht. Über 10.000 Menschen werden im Laufe des Tages die Stände besuchen und die Angebote der 170 Vereine und Initiativen in Augenschein nehmen. Von Feuerwehr und Polizeigewerkschaften über Schulen und Parteien, Kirchenverbänden und Menschenrechtsorganisationen, alle haben ein Programm aufgestellt, gegen Menschenfeindlichkeit und für Demokratie. Die zwei Kilometer lange Strecke vom Universitätsplatz bis vor den Magdeburger Dom soll Neonazis aus der Innenstadt fern halten.

Luftballons, Currywurst und Argumente im Vorbeigehen

Es sind Bühnen aufgebaut, auf denen Konzerte und Lesungen stattfinden. Im Rathaus kann man sich wärmen. Später wird es eine Menschenkette geben. Rosemarie Hein war Stadt- und Bundestagsabgeordnete der Linkspartei. „Das Konzept ist toll, mit übergreifenden Kräften die Innenstadt mit Ideen und Veranstaltungen für die Nazis zu sperren“, findet sie. Einen Vorteil der Meile bestehe darin, dass sich auch Bürger*innen, die sich sonst nicht an Demonstrationen beteiligen, erreicht und eingebunden werden können. An einem Stand kann man Schals erwerben. „Demokratie braucht Stimme, Demokratie hat Stimme“ lautet die Aktion, der Erlös fließt dem Netzwerk für Demokratie und Courage zu, einer Initiative, die junge Menschen ausbildet, die an Schulen gehen und über rechtsextreme Strukturen aufklären.

Die Mittagssonne wärmt die vorüberschreitenden Passant*innen. Nazis sieht man hier heute keine. Luftballons steigen in den Himmel, Kinder bewerfen eine braune Wand mit Farbballons. Es herrscht heitere Volksfeststimmung. Schüler*innen verteilen Flugblätter, Eltern kaufen schnell noch eine Currywurst für die Kleinen. Im Vorbeihuschen steckt sich ein Passant noch schnell eine Broschüre mit Argumentationshilfen gegen Stammtischparolen in den Einkaufsbeutel.

Verzögert, nicht gestoppt

Am Neustädter Bahnhof besetzen Blockierer*innen  in KZ-Uniformen die Route der Neonazis. Die Kolonne kommt vorerst zum Stehen. Eine weitere Gruppe von 25 Leuten sitzt vor dem Universitätsplatz auf den Straßenbahnschienen. Sie präsentieren ein Transparent mit der Aufschrift „Kein Sex mit Nazis“. In Sprechchören skandalisieren sie Verfassungsschutz („Ohne Verfassungsschutz wärt ihr nur zu viert“) und Polizei („Oury Jalloh, das war Mord“). Oury Jalloh war 2005 in einer Dessauer Polizeizelle unter bislang noch unaufgeklärten Umständen ums Leben gekommen. Sie verzögern den Aufmarsch, können ihn aber nicht stoppen.

Gegen 16.00 Uhr ist der gesamte Uniplatz hermetisch abgeriegelt. Die Polizeireihen stehen dicht, Räumfahrzeuge sind aufgefahren, ein Wasserwerfer wird in Position gebracht. Der aus 1000 Leuten bestehende Schwarze Block ist hier dem Neonaziaufmarsch so nah, wie sonst nirgendwo. Keine zehn Meter trennen die beiden Lager nun voneinander. Die Gegendemonstranten bringt ein stilisiertes Hitler-Portrait zum Brodeln. Es fliegen Böller und andere Pyrotechnik auf den sich unaufhaltsam im Polizeikorsett vorbeischiebenden Naziblock. Gegen 17.00 Uhr, als sich die Sonne neigt, ist der Spuk vorüber. Mit 1200 Teilnehmer*innen zogen im vierten Jahr der „Meile der Demokratie“ so viele Neonazis wie noch nie durch die Magdeburger Innenstadt.

Christian Spiegelberg

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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