Auf ihrem Bundeskongress vom 17. und 18. April 2021 hat die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA) ein neues Führungsduo gewählt. Eine Doppelspitze, bestehend aus Carlo Clemens (JA NRW) und Marvin T. Neumann (JA Brandenburg), sollte die unterschiedlichen Strömungen vereinen und ein neues Kapitel in der Geschichte der noch jungen Parteiorganisation einleiten. Parteichef Tino Chrupalla sprach gar von einem „Aufbruch in eine neue Junge Alternative“. Nur zwei Wochen später ist vom Aufbruch nichts mehr übrig. Ein internes Gutachten der AfD empfiehlt, Neumann aus der Partei zu werfen. Der Bundesvorstand der Partei hat den Fall offenbar am 30. April in einer Telefonkonferenz besprochen. Neumann soll am kommenden Montag, 3. Mai angehört werden. Laut der weit rechts stehenden Wochenzeitung „Junge Freiheit” soll sich auch AfD-Fraktionschefin Alice Weidel für „schnelle und harte Maßnahmen” ausgesprochen haben.
Grund dafür sind rechtsextremistische und rassistische Äußerungen Neumanns. Was für die „Arbeitsgruppe Verfassungsschutz“ (AGVS), die innerhalb der Partei einen Umgang mit der Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst finden soll, und den Rest der Partei offenbar eine große Überraschung darstellt, ist Beobachter*innen schon lange bekannt. Immer wieder hat Neumann auf Twitter und Instagram deutlich gezeigt, welches Gedankengut er vertritt. Mit seinen provozierenden, mehr als grenzwertigen („nonkonformistischen“) Tweets hat er sich einen gewissen Ruf (und auch viele Gegner*innen) in der Rechtstwitter-Blase erarbeitet.
Im Vorfeld der Wahl für den Chefposten der JA hatte er sich in einem Interview mit dem „neurechten“ „konflikt Magazin“ als „Ideologen“ bezeichnet, der sich vor allem gegen das „geistige Boomertum“ der Partei stellen würde. Ein Seitenhieb auf Parteichef Jörg Meuthen, der als Vertreter eines eher gemäßigten Kurses gilt. Denn „gemäßigt“ — was auch immer dieses Adjektiv im Zusammenhang mit der AfD bedeutet — ist Neumann keinesfalls. In seiner Bewerbungsrede um den Vorstandsposten beim Bundeskongress der JA kritisierte er angebliche „Massenmigration als Normalzustand“, „Weißen-feindlichen Rassismus“ und „72 oder mehr Geschlechter“.
Neumanns Nähe zur Ideologie der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ (IB) und anderen Teilen der sogenannten „neuen“ Rechten, die schlussendlich die Werte der Aufklärung und der Moderne ablehnt, hat er immer wieder deutlich gemacht. Auf Twitter bezeichnete er vor seiner Wahl Liberalismus als „volksfeindlichen Müll“. „Nation und Kultur“ könnten nur ohne Liberalismus bewahrt werden. Liberalismus sei der „Erzfeind aller, die an der Konservierung von Traditionen, überlieferter Kultur, Religion, Volk und Nation (…) festhalten“, schreibt er im Januar.
Dabei bezieht sich Neumann ganz direkt auf faschistische Vordenker wie Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925), zentraler Autor der von Armin Mohler kanonisierten „Konservativen Revolution“ und Schöpfer des Begriffs „Drittes Reich“. Van den Brucks Liberalismus-Diktum („An Liberalismus gehen die Völker zugrunde“) ist in der „neuen“ Rechten ein geflügeltes Wort. Auch andere Faschisten gelten ihm offenbar als Vorbild, in Stilfragen scheint es Oswald Mosley zu sein, der Gründer der „British Union of Facists“ (und erklärtes Vorbild des Rechtsterroristen von Christchurch). An anderer Stelle bezieht er sich positiv auf neoreaktionäre und neofaschistische Denker wie C.A. Bond oder Jonathan Bowden.
Seine Thesen brachten ihm immer wieder Lob von rechtsaußen ein. Zum Beispiel von Martin Sellner, Chef-Kader der „Identitären Bewegung“ (IB). Und auch das sich selbst als intellektuell bezeichnende Milieu rund um das „Institut für Staatspolitik“, das dem Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ gilt, unterstützt Neumann nach dem angekündigten Rauswurf. Benedikt Kaiser, heute Redakteur der „neurechten“ Zeitschrift Sezession des Kleinstverlegers Götz Kubitschek, früher Teil der rechtsextremen Kameradschaftsszene mit Verbindungen zum NSU, beteiligt sich auf Twitter mit Retweets an den Mitleidsbekundungen von rechtsaußen für Neumann.
Dabei steckt — wie so oft bei der angeblich „neuen“ Rechten — hinter dem bemüht intellektuellen Habitus und den rhetorisch aufgeplusterten Debatten im Wesentlichen Altbekanntes: NS-Relativierungen und Rassismus. Auch im Auftreten des nun in Bedrängnis geratenen JA-Co-Chefs Neumann schlägt dieser Umstand durch: In einer Instagram-Story postet er ein Spiegel-Selfie mit der Bemerkung „Opa hatte definitiv die frischeren Seiten“. Auf der Handyhülle das Foto eines Mannes in Wehrmachtsuniform. In einem Instagram-Post feiert Neumann Heinrich Ehrler, einen NS-Luftwaffenoffizier und „Helden“ des Nationalsozialismus.
Im Dezember 2020 schreibt Neumann auf Twitter: „Es gibt keine ‚Schwarze Deutsche und Europäer‘. Sie sind bestenfalls Teil der Gesellschaft und besitzen bestimmte Staatsbürgerschaften, aber sie sind nicht Teil einer tradierten, authentischen‚ europäische[n] Identität.“ In einem andere Tweet heißt es: „Andere weiße Europäer bzw. ihre Nachfahren könn(t)en Deutsche werden, Schwarzafrikaner aber nicht.“ Eine Argumentation, die man so auch von der NPD und andere rechtsextremen Akteur*innen immer wieder hört. Dementsprechend verwundert es nicht, wenn Neumann auch gegen „gemäßigtere“ Stimmen im eigenen Umfeld schießt. Als Erika Steinbach, Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, in einem Tweet stolz auf die Existenz von AfD-Abgeordneten mit Migrationsgeschichte hinweist, schreibt Neumann nur „Gehen Sie endlich in den Ruhestand.“ Als Götz Frömming, Abgeordneter der AfD im Bundestag, über „deutsche Schüler muslimischen Glaubens“ twittert, bringt Neumann ihn in Zusammenhang mit der CDU und sieht einen Versuch, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz durch solche Formulierungen zu vermeiden. In einem weiteren Tweet zu Frömmings Aussage betont er, dass „Mut zur Wahrheit bedeutet, auch bei der demographischen Frage Alternative zu sein“.
In Neumanns „identitärem“ Weltbild wird praktisch alles ethnifiziert. Auch Religion und Kultur werden als Wesenszüge vermeintlicher „Rassen“ gedacht, die unveränderbar nebeneinander stehen und sich nicht vermischen können oder dürfen. Genau das meint das diffuse Konzept des „Ethnopluralismus“, das dem altbekannten Rassismus lediglich ein neues Gewand verleiht. Die „demografische Frage“ ist schließlich nur eine andere Formulierung für die Wahnvorstellung vom „großen Austausch“, einer rassistische Verschwörungserzählung der sogenannten „neuen“ Rechten, laut der Europäer*innen von meist jüdisch imaginierten Eliten durch muslimische Migrant*innen ersetzt würden. Dazu passt auch ein Tweet von Neumanns Partnerin Zita T., einer Volontärin bei der rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“, den Neumann retweetet. Für T. ist auf einem Instagram-Bild der EU-Kommission, auf der ein Mann mit schwarzer Hautfarbe und ein Kind abgebildet sind, „nicht ein einziger ethnischer Europäer zu sehen“.
Dabei ist für Neumann am Islam nicht alles schlecht. Besonders bei den Intellektuellen der sogenannten „neuen“ Rechten gibt es immer wieder auch Bewunderung für einen rigiden Islamismus. Die „dekadente“ und von „Verfall“ gezeichnete westliche Gesellschaft sei demnach selbst für die angebliche „Islamisierung“ verantwortlich, die als Symptom des Liberalismus betrachtet wird. Im Unterschied zum „degenerierten“ Westen halte der Islam an tradierten Werten fest und zementiere so den eigenen Einfluss. Etwas, was sich Neofaschisten für die eigenen Ideologie und das eigene „Volk“ wünschen.
Marvin T. Neumann gilt als „Chef-Ideologe“ der JA Brandenburg. Seine rechtsextreme Weltanschauung ist umfassend und hört nicht bei der Ausgrenzung von Geflüchteten und pseudointellektuell verkleidetem Rassismus auf. Sie geht bis hinein in persönliche, zwischenmenschliche Beziehungen und äußert sich auch in einer rückwärtsgewandten Sexualmoral; ein Gebiet, das von den einschlägigen „neurechten“ Akteuren aus guten Gründen zumeist nicht näher thematisiert wird. Neumann kennt in dieser Hinsicht allerdings tatsächlich keine Hemmungen. Er fordert ausdrücklich eine „moralisch-reaktionäre Wende. Untreue gehört gesellschaftlich geächtet, Sexualität wieder mehr sakralisiert.“ Also zurück in Zeiten, als „uneheliche“ Kinder diskriminiert wurden und Frauen bis zur Ehe „enthaltsam“ sein sollten. Zeiten, in denen Menschen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprachen, kriminalisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und alltäglich diskriminiert und bedroht wurden.
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