Auf die Terrasse vor dem Haus fällt kein Licht. An der Brüstung des Balkons genau darüber sind zwei Baustrahler mit Kabelbindern befestigt. Sie werfen breite Lichtkegel in den Garten, sollen Betrunkene und Wildpinkler verscheuchen. Aber die gepflasterte Fläche darunter liegt im Dunkeln.
Dort sitzt er und schläft, so scheint es. Den Kopf nach hinten geneigt, zwischen den Fingern der linken Hand klemmt eine Zigarette, nur an der Spitze etwas angebrannt und dann erloschen. Er ist wohl einfach eingedöst auf dem Gartenstuhl in dieser klaren Sommernacht, auf der Terrasse vor seinem Haus am Dorfrand, im Dunkeln. Und das trotz des Lärms vom Festplatz. Keine hundert Meter Luftlinie sind es von hier bis zur Bühne, zu den dröhnenden Verstärkern einer fränkischen Party-Band. Und dort ist um Mitternacht noch lange nicht Schluss.
Für Jan-Hendrik Lübcke schon, zumindest in dieser Nacht. Es ist kurz vor halb eins. Der 29-Jährige kommt
von der „Weizenkirmes“ nach Hause. Hat dort nur ein paar Sprite getrunken, eine Calzone gegessen, Freunde von den Kirmesburschen getroffen und sich losgeeist, bevor ihn noch jemand zum Bleiben überreden konnte. Er will am nächsten Tag fit sein für eine Radtour.
Auf die Terrasse kann er wegen der blendenden Strahler nicht blicken, aber er sieht Licht in der Küche seiner Eltern im Erdgeschoss und die Tür zum Garten offen stehen. In der Garage hängt er noch schnell den Akku seines E-Mountainbikes an den Strom, ist eigentlich auf dem Weg nach oben, zu seiner Frau. Dann will er doch noch einmal nach dem Rechten sehen. Wie oft hat er den Eltern schon gesagt, sie sollen nachts die Tür zumachen, gerade wenn Kirmes ist.
Jan-Hendrik Lübcke tritt heraus auf die Terrasse vor dem Haus, er linst um den Erker herum, der die Fläche in zwei Hälften teilt. Tatsächlich: Da sitzt sein Vater am Tisch. Offensichtlich ist er eingenickt, gar nicht seine Art. Jan-Hendrik Lübcke pfeift, will ihn wecken.
Walter Lübcke reagiert nicht.
„Komm, Papa, wach auf!“, ruft der Sohn. Er fasst ihn an den Arm, kurz unterhalb des Ärmels des karierten Kurzarmhemdes. Walter Lübcke fühlt sich kalt an. Keine Reaktion. Auch nicht, als Jan-Hendrik Lübcke ihm auf die Wange klopft und auf den Bauch. Panik steigt in ihm auf. Ein Herzinfarkt vielleicht? Davor hat man den Vater ja immer gewarnt, in seinem Alter, 65, nicht gerade schlank, passionierter Raucher, politischer Spitzenbeamter mit langen Arbeitstagen. Er wählt den Notruf. Die Stimme am anderen Ende der Leitung gibt jetzt Anweisungen. Er soll prüfen, ob sein Vater atmet. Jan-Hendrik Lübcke hört keine Atmung. Er will seine Mutter wecken, seinen Bruder zu Hilfe holen. Nur nicht alleine sein. Der Mann in der Notrufzentrale erlaubt es nicht. Er solle bei seinem Vater bleiben, hört er dessen Stimme sagen. Nicht weggehen, nicht auflegen, nicht aufgeben, das Handy auf Lautsprecher schalten, Herz-Lungen- Wiederbelebung.
Jan-Hendrik Lübcke greift seinen Vater an der Hüfte, zieht ihn über den Stuhl auf den Terrassenboden, legt seinen Kopf vorsichtig auf dem Steinboden ab. Später weiß er nicht, wie er das überhaupt geschafft hat. Walter Lübcke ist über 1,90 Meter groß. Über das Telefon kommen weitere Anweisungen. Der Rettungswagen ist unterwegs, heißt es. Zu sehen ist das Blaulicht aber noch nicht. Auf dem Festplatz geht die Party weiter.
Etwas mehr als ein Jahr danach muss Jan-Hendrik Lübcke diese Momente noch einmal durchleben. Er sitzt im dunkelgrauen Anzug und schwarzen Hemd an einem kleinen Tisch mit Mikrofon im Zentrum des mit hellem Holz vertäfelten Saals 165 C vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt. „Wir werden damit niemals fertig werden“, sagt er. Es bleibe „unbegreifbar”. Jan-Hendrik Lübcke schildert den Richtern die Details jener Nacht konzentriert, präzise. Er spricht über seinen Vater als liebevollen Menschen, der sich darauf gefreut habe, den Ruhestand zu genießen.
Bis zum Notruf ist jener Tag ein ganz normaler Samstag. Ein fast normaler, ein besserer eigentlich: Jan-Hendrik Lübcke hat vorgearbeitet, will an diesem Samstag nicht wie sonst in der Fotovoltaik-Firma beschäftigt sein, die er mit Bruder und Cousin gegründet hat. Den Vater sieht er in Engelbert-Strauss-Latzhose, Karohemd und Schlappen nachmittags beim Unkrautabflämmen. Später kommt sein kleiner Neffe vorbei, Walter Lübckes erster Enkel. Er soll zum ersten Mal bei den Großeltern übernachten.
Abends macht sich Jan-Hendrik Lübcke mit Freunden auf den Weg zur Kirmes. Einmal im Jahr wird in Istha groß gefeiert. Auf dem Festplatz des Dorfs in Nordhessen nahe Kassel, knapp 900 Einwohner zählend, steht dann ein weißes Bierzelt mit Holzfußboden. Im Gehen sieht er seinen Vater noch auf der Terrasse am Tisch mit einem Pfarrer aus Kassel. Dort saß Walter Lübcke oft abends, las auf seinem iPad, scherzte mit Freunden. Diesmal eben mit spontanem Besuch. Die Männer lachen viel, an eine „wunderbare Stimmung“ erinnert sich später die Frau von Walter Lübcke, die kurz dazukommt.
Den Mitschnitt des Notrufs aus der Nacht wird die Polizei sichern. Die Abschrift füllt fünf Seiten von Zehntausenden in 260 Ordnern mit Akten zu dem Fall, die später dem Gericht vorliegen.
Weitermachen, tönt es aus dem Handy, und laut mitzählen. Jan-Hendrik Lübcke macht weiter, berichtet er als Zeuge später. Aber sein Vater kommt nicht wieder zu sich. Auch die Sanitäter können ihn nicht zurückholen. Stunden später, um 2 . 45 Uhr, wird der Kasseler Regierungspräsident in der Kreisklinik Wolfhagen für tot erklärt.
„Ungeklärte Todesart“, kreuzt der Arzt auf dem Formular an. Um 3:17 Uhr informiert er deshalb die Polizei. Das ist Vorschrift und Routine.
Der Mediziner berichtet einer Beamtin und einem Beamten vom Kriminaldauerdienst, wie er versucht habe, den Patienten wiederzubeleben, und von einer Platzwunde am Kopf, die aber seiner Einschätzung nach nicht die Ursache für den Tod gewesen sein könne. Der Arzt tippt auf Lungenembolie. Um 4:15 Uhr bricht einer der Beamten die vorgeschriebene Leichenschau nach nur zehn Minuten ab. Als Erstes wickelt er jetzt die Hände des Leichnams von Walter Lübcke in Plastiktüten. Er will so mögliche Schmauchspuren sichern. Die vermeintliche Platzwunde am Kopf, oberhalb des rechten Ohrs und von Haaren bedeckt, ist kreisrund, Durchmesser etwa sechs Millimeter, stellt der Kriminalhauptkommissar fest: Eine Schussverletzung mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, heißt es später in seinem Vermerk.
Er geht mit seiner Kollegin in den Raum, in dem sich die Angehörigen versammelt haben. Spricht sein Beileid aus, bittet Jan-Hendrik Lübcke hinaus. Im Kopf seines Vaters sei ein „Gegenstand“ gefunden worden, sagt er ihm auf dem Flur der Intensivstation. Später wird sich herausstellen: Der Gegenstand ist ein verformtes Geschoss, Kaliber .38 Special. Abgefeuert aus nächster Nähe, durchschlug es beinahe horizontal Schädel und Gehirn, blieb stecken und war wohl sofort tödlich.
Erst später wird klar: Es war ein Attentat. Es war der erste rechtsextreme Mord an einem hohen Beamten und Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Rechter Terror.
Rechter Terror: Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, 304 Seiten, 18,00 Euro, Rohwolt, ISBN 978-3-499-00599-2. Hier bestellen.