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Reichsbürgerprozess Bobstadt „Dankbar, dass niemand sein Leben verloren hat“

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Der Angeklagte im Gerichtssaal
Dem Angeklagten Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) wird 14-facher Mordversuch vorgeworfen. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart findet derzeit der Prozess gegen den „Reichsbürger“ statt. (Quelle: picture alliance / EPA | THOMAS NIEDERMUELLER / POOL)

Montag, 24. Juli 2023: Um 9:32 Uhr wird ein Zeuge in den Sitzungssaal 2 begleitet, Mitte 30 und Polizeioberkommissar im LKA Baden-Württemberg. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und der Polizist schildert, wie er am 22. April 2022, also zwei Tage nach der Tat, das Wohnhaus durchsucht habe. Zunächst das Unter-, dann das Erd-, später das Obergeschoss. Im Erdgeschoss wohnte der Angeklagte Ingo K. mit seinem Sohn Marco S., im Obergeschoss die Familie A. um Vermieter Heiko A.

Der Zeuge erläutert die Funde im Büro des Untergeschosses. Auf dem Schreibtisch von Heiko A. seien „Reichsbürger“-Schreiben und Notizzettel mit den Titeln „Sprengstoff“ und „SHAEF-Feindesliste“ gefunden worden. „SHAEF“, einst das Oberkommando der Alliierten in Mitteleuropa, ist ein zentrales Feindbild der „Reichsbürger“-Szene. In Schubladen des Schreibtisches lagen eine geladene Pistole und mehrere Jagdmesser. Der Vorsitzende Richter zeigt Fotos zahlreicher Fundstücke.

Der Zeuge berichtet, es habe „deutliche Brandspuren“ im Erdgeschoss gegeben. In der Küche hing ein Tomahawk, eine Art Beil, und auf der Küchenzeile stand eine verschlossene, auf dem Esstisch eine geöffnete Munitionsschachtel. Dazwischen: eine Gasmaske, ein offenes Klappmesser, eine scharfe Patrone. Es lagen Behördenschreiben mit „Reichsbürger“-Vokabular und ein Zwangsvollstreckungsbescheid des Gerichtsvollziehers im Küchenschrank. Der Vorsitzende Richter zeigt Fotos der Waffenkammer. Daraufhin erläutert der Zeuge, man habe neben Messern und Patronen einen Doppeltresor sichergestellt. Darin: Bargeld, Schießbuch, Waffenschein.

Der Vorsitzende Richter ergänzt, die Schusswaffen seien schon am Vortag aus der Waffenkammer herausgetragen worden. Das Obergeschoss sei, so der Zeuge, „vollständig abgebrannt“. Aber man habe ein Shirt mit der Aufschrift „Kameradschaft“ und eine „Dose mit Hakenkreuzorden“ gefunden. Der Zeuge wird um 11:47 Uhr entlassen.

„Gezielt“ und „vorbereitet“

Nach der Mittagspause kündigt Rechtsanwalt Seifert eine Erklärung seines Mandanten für den nächsten Prozesstag an. Anschließend ruft der Vorsitzende Richter einen Zeugen in den Saal, einen Polizeioberkommissar im LKA Baden-Württemberg. Er hat vier SEK-Beamt*innen die im Einsatz waren, vernommen. Der Zeuge sagt aus, der SEK-Beamte Nr. 10 habe erst den Grundstückszaun, dann die Terrassentür mit einem Trennschleifer geöffnet. Als er zum Entglasungswerkzeug gegriffen habe, sei der erste Schuss gefallen. Der zweite und dritte Schuss habe ihn getroffen. Der Zeuge betont, Nr. 10 gehe von einem „gezielten“, „vorbereiteten“ Beschuss aus.

Der SEK-Beamte Nr. 15 habe im SUV vor dem Wohnhaus gesessen und das Blaulicht und Martinshorn vor der Öffnung des Zauns gestartet. Sein Kollege Nr. 8 habe aus der Luke geschaut. Mit dem Beschuss des SUV habe Nr. 8 die Luke geschlossen. Laut Zeuge gehe Nr. 15 von einem „gezielten Beschuss“ aus.

Als der Rollladen geöffnet wurde, habe Nr. 16 den Schutzschild getragen und den ersten Schuss am Tiefschutz gespürt. Zunächst seien Einzelschüsse, später Dauerschüsse gefallen. Aus dem Inneren sei gerufen worden: „Verpisst Euch, ihr [unverständlich]!“ Auf die Frage eines Richters, ob Nr. 16 von einem oder mehreren Schützen ausgegangen sei, antwortet der Zeuge, er sei von mehreren Schütz*innen ausgegangen. Der Richter zitiert aus der Vernehmung, er habe vermutet, Max A. – der Sohn des Vermieters – habe geholfen. Später habe Nr. 16 die beiden „empfangen“. Ingo K. und Max A. hätten „gelassen“ gewirkt und „flapsige Sprüche und Kommentare“ abgegeben.

Der SEK-Beamte Nr. 17 habe den Eingang und Hof gesichert. Er habe die ersten Schüsse wahrgenommen, aber nicht gewusst, woher sie kamen. Später sei Nr. 17 von einem „gezielten Beschuss“ und aufgrund der unterschiedlichen Schusspositionen von mehreren Schütz*innen ausgegangen. Der Zeuge wird um 14:07 Uhr entlassen.

„Dann komme ich persönlich vorbei“

Der Zeuge Dominik W., Anfang 20, wird in den Saal begleitet. Der Vorsitzende Richter erläutert, der Zeuge wohne schräg gegenüber vom Tatort. Der Zeuge schätzt, es sei rund 100 Meter entfernt. Er sei vom Trennschleifer aufgewacht und habe Blaulicht, Martinshorn, „Polizei!“-Rufe wahrgenommen. Polizist*innen mit Helmen und Westen seien im Einsatz gewesen. Es habe geknallt, der Hund habe gebellt. Kurze Zeit später seien Schüsse gefallen. Als Rauch aufstieg, sei sein Piepser der Freiwilligen Feuerwehr losgegangen. Er sei zum Einsatz ausgerückt.

Der Vorsitzende Richter fragt nach Familie A. Er kenne die Familie „nur vom Sehen“, sie habe „abgeschottet“ gelebt, berichtet der Zeuge. Einmal habe er beobachtet, wie Ingo K. und Max A. mit Softairpistolen schossen. Der Zeuge wird um 14:37 Uhr entlassen, als nächstes tritt seine Mutter, ebenfalls Nachbarin des Tatorts, in den Zeugenstad und berichtet, Blaulicht und Martinshorn sowie den Lärm des Trennschleifers und der Schüsse wahrgenommen zu haben. An ihrem Wohnhaus seien Schussbeschädigungen festgestellt worden.

Der Zeuge André H. ist Mitte 20 und arbeitet im Finanzamt Tauberbischofsheim. Am 8. April 2022, rund zwei Wochen vor der Tat, habe er mit Ingo K. bezüglich einer Pfändungsverfügung telefoniert. K. habe angerufen und geklagt, die Pfändung sei „nicht rechtens“. Er sei „aufbrausend“ gewesen. Der Zeuge sei ein „Idiot“, habe „nicht mehr alle Latten am Zaun“. Er habe dem Zeugen gedroht: „Schicken Sie mir noch ein Schreiben, dann komme ich persönlich vorbei!“ Nach der Tat stellte seine Chefin einen Strafantrag wegen Bedrohung. Der Vorsitzende Richter verliest den Antrag. Der Zeuge wird entlassen und die Sitzung beendet.

„Verwirrung“ und „Bedauern“

Mittwoch, 26. Juli 2023: Der Angeklagte Ingo K. wird um 9:22 Uhr in den Sitzungssaal 2 geführt. Der Vorsitzende Richter bittet Rechtsanwalt Seifert, die angekündigte Erklärung seines Mandanten zu verlesen. Die Erklärung beginnt mit biografischen Ergänzungen zum 2. Prozesstag: Seine Mutter habe Ingo K. geprägt. Sie sei „gewaltfrei“ gewesen, mit der DDR „nicht zurechtgekommen“. Daraus habe er gelernt, niemals blind einer Ideologie zu folgen. Nach seiner Ausreise habe er die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik genossen. Er habe keinen Grund gehabt, den Staat abzulehnen.

Während der Corona-Pandemie habe seine „Nachdenklichkeit“ gegenüber der Bundesrepublik eingesetzt. Er habe Impfung und Maske kritisch gesehen. Über seine Teilnahme an migrationsfeindlichen Protesten heißt es, er habe sich nur seinem engen Vertrauten Robert Vogelmann verbunden gefühlt. Der Rechtsextreme hetzt seit Jahren gegen Asyl und Migration. Die Teilnahme an den Protesten gegen die Corona- und Migrationspolitik habe nichts mit einer „Fundamentalablehnung“ des Staates zu tun. Er wolle bloß seine Heimat, „wie ich sie nach der DDR kennengelernt habe“, erhalten.

Es sei Heiko A.s Idee gewesen, „Reichsbürger“-Schreiben zu verschicken. Ingo K. sei „im Ergebnis“ mit den Schreiben „einverstanden“ gewesen. Aber die Haltung, die darin zum Ausdruck kam, sei „nicht meine Gesinnung“. Er habe lediglich eine „Neigung zum Provozieren“. In der Erklärung heißt es, er sei „naiv“ und „nicht in der Lage“ gewesen, die Einstellung von Heiko A. zu erfassen. Ein Beispiel seien die großen Runen an den Hauswänden gewesen.

K. habe nur Interesse an den Runen gezeigt, die Botschaft habe er nicht hinterfragt. Über die Tat sagt er: „Ich rechnete nicht mit einer Hausdurchsuchung.“ Am Morgen hätten die Nebelhandgranaten eine „absolute Verwirrung“ ausgelöst. Mit Blick auf Blaulicht, Martinshorn und „Polizei!“-Rufe sagt er, dass er unter Kurzsichtigkeit und einem „schweren Gehörschaden“ leide. Er äußert sein „aufrichtiges Bedauern“ für die Verletzungen und sei „dankbar, dass niemand sein Leben verloren hat“. Dann endet die Erklärung. Rechtsanwalt Seifert sagt, sein Mandant werde keine Nachfragen beantworten.

„Jetzt ist wohl etwas schiefgegangen“

Der Vorsitzende Richter ruft eine Zeugin in den Saal. Sie ist Anfang 30 und Polizeioberkommissarin im LKA Baden-Württemberg. Die Zeugin hat drei SEK-Beamten vernommen (Nr. 1, 3 und 16). Nr. 1 habe berichtet, drei Fahrzeuge seien an das Wohnhaus, er sei zum Sportheim gefahren. Ein Mann sei zur Polizei gelaufen und habe „zur Vorsicht gemahnt“. Ingo K. habe „nur auf die Polizei gewartet“. Der Mann sei der stellvertretende Ortsvorsteher von Bobstadt gewesen. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil der Mann in der Vergangenheit Black-Metal-Konzerte mit rechtsextremen Bands veranstaltete.

Die Zeugin berichtet, der SEK-Beamte Nr. 3 sei im Transporter vor dem Haus gewesen. Er habe Nr. 10 in den Transporter gebracht und medizinisch versorgt, ehe der Verletzte zum Notarzt transportiert wurde. Der SEK-Beamte Nr. 16. habe den SUV gefahren, Blaulicht und Martinshorn betätigt. Ein Kollege sei im SUV gesessen und habe aus der Luke geschaut. Als der SUV beschossen wurde, habe er die Luke geschlossen. Die Zeugin wird um 10:54 Uhr entlassen.

Der letzte Zeuge an diesem Tag ist Ende 50, trägt eine Polizeiuniform und arbeitet im Polizeirevier Lauda-Königshofen. Der Vorsitzende Richter sagt, er habe Informationen zu Ingo K. und zur Familie A. ermittelt. Weil Ingo K., Marco S. und Max A. in der Vergangenheit durch Gewalt in Erscheinung getreten seien, sei die Entscheidung gefallen, das SEK zur Unterstützung anzufordern, berichtet der Zeuge, der am Einsatztag vor Ort gewesen sei. Er habe am Ortseingang geparkt und auf grünes Licht des SEK gewartet. Als die Schüsse fielen, habe er gedacht: „Jetzt ist wohl etwas schiefgegangen.“ Der Zeuge wird um 12:02 Uhr entlassen.

Nach der Mittagspause fragt ein Richter den Verteidiger mit Blick auf die Erklärung, ob sein Mandant in augen- und ohrenärztlicher Behandlung sei und er eine Begutachtung seiner Sehkraft und seines Hörvermögens durchführen ließe. Nach einer Beratung stimmt Ingo K. zu. Um 13:10 Uhr wird die Sitzung beendet.

Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Weiterlesen

Timo Büchner

Reichsbürgerprozess Bobstadt „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart fand der 15. und 16. Prozesstag gegen Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) statt. Der „Reichsbürger“ soll am 20. April 2022 versucht haben, 14 Polizist*innen zu erschießen. In seiner Vernehmung, die nach der Festnahme durchgeführt wurde, hat er vom „Filmriss“ gesprochen und behauptet, er habe lediglich seinen Sohn beschützen wollen. Ein Prozessbericht.

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Nicholas Potter

Reichsbürgerprozess Bobstadt Die Schützenhilfe der Familie A.

Der „Reichsbürger“ Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) soll am 20. April 2022 versucht haben, 14 Polizist*innen zu erschießen. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart fand der 13. und 14. Prozesstag statt. Zeug*innen sprechen vom „Überfall“ und behaupten, das SEK habe das Feuer eröffnet und das Wohnhaus angezündet. Ein Prozessbericht.

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