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Reichsbürgerprozess Bobstadt Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

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Nachdem der mutmaßliche Schütze Ingo K. um Hilfe gerufen hatte, fuhr Robert Vogelmann – ein Rechtsextremer aus der Region – nach Bobstadt. (Quelle: Nicholas Potter)

Montag, 17. Juli 2023: Um 9:26 Uhr wird der Angeklagte Ingo K. mit Fesseln in den Sitzungssaal 2 geführt. Er zwinkert einer Frau – der Mutter des gemeinsamen Sohnes – im Publikum zu. Das erste Mal seit der Anklageverlesung nimmt eine enge Vertraute an einem Prozesstag teil. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und bittet den Zeugen Gernot B. in den Saal. Der Zeuge ist Anfang 60, trägt Oberlippenbart und graues Kurzhaar, ein Hawaiihemd mit Bananen und kurze Hose. Er arbeitete zum Tatzeitpunkt in der Waffenbehörde im Landratsamt Main-Tauber (Baden-Württemberg). Vor Gericht schildert der Zeuge, Ingo K. sollte aufgrund seiner Vorstrafen die Waffenbesitzerlaubnis entzogen werden. In einer Anhörung, die am 21. Juni 2021 – also: fast ein Jahr vor der Tat – in der Waffenbehörde stattfand, habe der Zeuge erklärt, Ingo K. könne die Waffe entweder an eine Person mit einer Erlaubnis weitergeben oder in der Waffenbehörde zur Verschrottung abgeben. Mache er weder das eine noch das andere, werde ein „Widerrufsverfahren“ eingeleitet und letzten Endes eine „vollstreckende Maßnahme“ durchgeführt. Die Anhörung sei „relativ unauffällig“ gewesen. Allerdings sei zwischen den Zeilen eine Nähe zur „Reichsbürger“-Szene deutlich geworden.

„Weil alle unter einer Decke stecken“

Der Vorsitzende Richter zitiert aus der polizeilichen Vernehmung des Zeugen. In der Vernehmung berichtete der Zeuge, er habe Ingo K. angeboten, Rechtsmittel gegen den Widerruf der Waffenbesitzerlaubnis einzulegen. Daraufhin habe er geantwortet, das mache „keinen Sinn, weil alle unter einer Decke stecken“. Die „ganze Gesetzgebung“ sei „nur Makulatur“. Vor Gericht sagt der Zeuge, die Anhörung sei erfolglos beendet worden. Eine Woche später, am 19. Juni 2021, habe Ingo K. angerufen, er wolle seine Waffe „hinterlegen“. Zwar habe der Zeuge betont, man könne die Waffe nur verschrotten lassen. Aber am Ende des Telefonats sei Ingo K. bereit gewesen, die Waffe abzugeben. Daher habe er einen Vermerk mit Bitte um Rücksendung geschickt. Die Rücksendung blieb aus. Nun sei die Sicherstellung der Waffe mit einem Durchsuchungsbeschluss veranlasst worden. Ohne Beschluss bestehe das Risiko, dass die Polizei am Eingang stehe und Ingo K. die Abgabe der Waffe verweigere. Später betont der Zeuge, es habe keinen Versuch des Angeklagten gegeben, seine Waffe abzugeben. Wer in die Behörde komme, dürfe die Waffe abgeben. Niemand werde mit der Waffe weggeschickt. Außer, man verweigere die Unterzeichnung des Eigentumsverzichts. Aber das sei noch nie passiert. Der Zeuge wird um 10:45 Uhr entlassen.

Die Zeugin Mareike W. wird in den Saal gerufen. Sie ist Anfang 30, trägt eine Brille und braunes, langes Haar. Die Zeugin arbeitet in der Waffenbehörde und berichtet, sie habe zwei Mal mit Ingo K. in Kontakt gestanden. Es ging 2018 um die Verlängerung des Waffenscheins, 2021 um ein Schreiben zum Ablauf des Waffenscheins. Er sei gebeten worden, sich zu melden. Gemeldet habe er sich nicht. Um 10:57 Uhr ist die Vernehmung beendet. Im Anschluss kommt die Zeugin Sibylle B. in den Saal. Sie ist Ende 50 und hat hellbraunes, lockiges Haar. Die Zeugin arbeitet in der Waffenbehörde und hatte einen persönlichen Kontakt mit dem Angeklagten. Ingo K. sei in die Behörde gekommen, um mit Gernot B. über die Anhörung zu sprechen. Aber B. sei im Urlaub gewesen. Die Zeugin berichtet, Ingo K. sei mit dem Schreiben „überhaupt nicht einverstanden“ gewesen und habe „keine Ambitionen“ gezeigt, seine Waffe abzugeben. Die Zeugin wird um 11:25 Uhr entlassen. Nach einer Mittagspause spricht die Zeugin Agnes L. Sie ist Anfang 60, trägt grauweißes Haar und ein weißes Kleid. Die Zeugin arbeitet am Empfang des Landratsamtes und erklärt vor Gericht, wie die Abgabe einer Waffe funktioniert. Die Vernehmung ist um 13:45 Uhr beendet. Dann tritt die Zeugin Claudia M., 50 Jahre alt, in den Saal. Sie trägt ein blondiertes Langhaar und ein grünes Kleid. Wie Agnes L. arbeitet die Zeugin am Empfang des Landratsamtes und erklärt das Prozedere einer Waffenabgabe. Die Frage des Vorsitzenden Richters, ob die Zeugin den Angeklagten kennt, verneint sie. Selbst, wenn der Angeklagte im Raum sei, würde sie ihn nicht erkennen. Es ist ein deutliches Grinsen von Ingo K. zu vernehmen. Mit auffälligem Winken macht er auf sich aufmerksam. Die Zeugin wird um 13:54 Uhr entlassen.

Ein Anruf und eine Autofahrt

Anschließend kommt der Zeuge Robert Vogelmann in den Saal. Er ist Ende 50, trägt einen Bart, grauweißes Kurzhaar, ein blaues Hemd, eine schwarze Hose. Vogelmann ist ein Rechtsextremer aus Schwäbisch Hall (Baden-Württemberg). Seit Jahren sucht er mit dem rassistischen „Mahnmal gegen das Vergessen“ die Öffentlichkeit. Vogelmann ist ein enger Vertrauter des Angeklagten. Vor Gericht sagt er, er kenne Ingo K. seit rund 30 Jahren. Man sei Motorrad gefahren, habe im Fitnessstudio trainiert. Er habe Ingo K. „nach längerer Zeit“, in der die beiden keinen Kontakt hatten, auf einer Demonstration getroffen. Es sei um das Thema „Migration“ gegangen. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob sie gegen Migration demonstrierten, antwortet der Zeuge, man habe bloß gegen Kriminalität demonstriert. Der Zeuge erklärt später, er habe Ingo K. „öfter“ und „immer wieder mal“ im Rahmen von Demonstrationen gesehen. Der Vorsitzende Richter thematisiert die Waffen des Angeklagten. Vogelmann berichtet, er habe gewusst, dass Ingo K. eine Waffe besitzt. Die beiden seien „vor Jahren“ zum Schießstand gegangen. Nicht nur Ingo K., auch er selbst habe mit der Waffe geschossen. Vogelmann sagt aus, Ingo K. habe ihm gegen Ende 2021 vom Umzug nach Bobstadt geschrieben. Anfang 2022 habe ein Besuch in der neuen Wohnung stattgefunden. Der Zeuge betont, Ingo K. habe, weil sein Sohn in der Wohnung lebte, „extrem glücklich gewirkt“.

Der Vorsitzende Richter thematisiert den 20. April 2022. Der Zeuge schildert, am frühen Morgen habe eine unbekannte Handynummer angerufen. Es sei Ingo K. gewesen, er habe „hektisch gewirkt“ und gesagt: „Wir werden gestürmt!“ Der Zeuge solle „vorbeikommen“ und die Geschehnisse „dokumentieren“. Und: Er solle die Botschaft teilen, alle sollten nach Bobstadt kommen. „Ich wusste nicht, was ich machen soll“, sagt der Zeuge. Er habe zwei Vertraute angerufen und sei nach Bobstadt gefahren. Vor Ort sei „schon alles dicht“ gewesen. Abgesperrte Straßen, Umleitungen. Ein Richter fragt, welchen Eindruck der Zeuge von den Geschehnissen hatte. „Geschockt“, sagt der Zeuge, „weil ich mit sowas nicht gerechnet hätte“. Ein Tag später habe er einen Anruf bekommen und sei gebeten worden, nach Bobstadt zu kommen, um die (angeblich) falsche Berichterstattung klarzustellen und das Ausmaß der Zerstörung zu dokumentieren. Der Zeuge vermutet, der Anrufer sei Max A. gewesen. Der Sohn des Vermieters sei „aufgeregt“ gewesen, habe mit einer „schnellen Stimme“ gesprochen. Seine Bitte habe Vogelmann abgelehnt. Zuletzt fragt Rechtsanwältin Combé, ob Ingo K. zur „Reichsbürger“-Szene gehöre. Plötzlich lacht der Zeuge. Ingo K. sei „eher ein Esoteriker“ – der „teilweise sogar linke Tendenzen entwickelt“ habe. Linke Tendenzen? Er sei „weltoffen“ und wolle „leben und leben lassen“. Um 14:55 Uhr wird der Zeuge entlassen und die Sitzung beendet.

„Drecksbulle“ und „Polizei ist bescheuert“

Mittwoch, 19. Juli 2023: Der Vorsitzende eröffnet um 11:08 Uhr die Sitzung. Der erste Zeuge Joachim K. ist Anfang 60, trägt einen Bart, einen weißen Pferdeschwanz und ein weißes Polohemd. Er war bereits am 5. Prozesstag geladen, aber ferngeblieben. Der Zeuge berichtet, er sei Vorstand eines lokalen Schützenvereins. Ingo K. sei von Februar bis Oktober 2018 im Verein gewesen. Jedoch habe sein „Auftreten“ nicht zum Verein gepasst. Denn er habe „Armee- oder Tarnkleidung“, Kleidung mit einem „militärischen Touch“ getragen. Der Vorsitzende Richter zitiert aus seiner polizeilichen Vernehmung: Damals habe der Zeuge berichtet, er habe Ingo K. gesagt, „dass dies nicht in Ordnung ist“. Später habe Ingo K. einen Ausweis der „Reichsbürger“-Szene gezeigt. Der Zeuge wirkt unsicher: „Möglich.“ Es sei ein Ausweis gewesen, „den ich so noch nicht gesehen habe“. Ob das Zeigen des Ausweises nur ein Scherz war? „Möglich.“ Der Vorsitzende Richter fährt fort, der Zeuge habe ihm gesagt, damit wolle er nichts zu tun haben, und habe ihm die Vereinsmitgliedschaft gekündigt. Der Zeuge bestätigt vage. Die Gründe der Kündigung seien sowohl der Ausweis als auch die Tarnkleidung gewesen. Abschließend zeigt der Vorsitzende Richter das Schießbuch des Angeklagten. Der Zeuge schaut die fünf Einträge des Schießbuches an und stellt fest, der Vorfall mit Ausweis und Tarnkleidung sei wohl am 10. März 2018 gewesen. Der Zeuge wird um 12:12 Uhr entlassen.

Der Zeuge Carlo H. ist Mitte 20, trägt eine Glatze und ein hellblaues Hemd. Er arbeitet in der Waffenbehörde des Landratsamtes Main-Tauber und schildert, er habe am 14. April 2022 –nur wenige Tage vor der Tat – versucht, Ingo K. telefonisch zu erreichen. Denn er habe ihm die Gelegenheit geben wollen, die Waffe abzugeben. Da stets der Anrufbeantworter hingegangen sei, habe der Zeuge auf den Anrufbeantworter gesprochen. Im Vorfeld hatte der SEK-Einsatzplaner, der am 7. Prozesstag aussagte, den Zeugen dringend gebeten, die Anrufe zu tätigen. Der Zeuge berichtet, es habe keinerlei Reaktion von Ingo K. gegeben; dies habe Gernot B. dem Einsatzplaner gemeldet. Der Zeuge wird um 12:36 Uhr entlassen. Abschließend sagt eine Sachverständige aus. Sie ist 60 Jahre alt, trägt blondiertes, gelocktes Langhaar und eine hellbraune Weste mit bräunlichem Schal. Die Sachverständige arbeitet in der Forensischen Phonetik des BKA. Der Vorsitzende Richter erklärt, sie habe die Aufgabe gehabt, die Rufe aus dem Inneren des Wohnhauses zu analysieren („Phonetische Analyse“). Sie habe zwei Audiodateien erhalten. Das Original, aufgenommen von der Helmkamera eines SEK-Beamten, und eine bearbeitete Version des Originals. Im 10-sekündigen Original seien drei Sequenzen, die jeweils rund eine Sekunde dauerten, relevant gewesen. Erste Sequenz: „Polizei ist bescheuert“. Zweite: „geht nur um Waffe“. Dritte: „ihr Drecksbulle“. Man höre eine männliche Stimme. Allerdings sei die akustische Qualität „nicht ganz so günstig“. Dann spielt ein Richter die beiden Audiodateien ab. Die Sachverständige wird um 13:58 Uhr entlassen und die Sitzung beendet.

Die vorigen Prozessberichte finden Sie hier:

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

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