Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Reichsbürgerprozess Bobstadt „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Von|
Der Prozess gegen den „Reichsbürger“ Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) findet vor dem Oberlandesgericht Stuttgart statt. (Quelle: Timo Büchner)

Montag, 10. Juli 2023: Eine Zeugin wird um 9:17 Uhr in den Sitzungssaal begleitet. Sie ist Ende 20, trägt einen blonden Pferdeschwanz und ein hellblaues Hemd. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und begrüßt die Zeugin – eine Polizeioberkommissarin im LKA Baden-Württemberg. Die Zeugin hat die Transaktionen zwischen Ingo K. und insgesamt vier Waffenshops untersucht. Sie hat Auskunftsersuchen an die Firmen gestellt, um Näheres über die Transaktionen zu erfahren. Im ersten Shop sind acht Bestellungen getätigt worden. Oftmals Munition, aber auch ein „Zweibein“. Das ist eine Zielhilfe für Langwaffen. Im zweiten Shop sind sechs Bestellungen, im dritten und vierten jeweils eine Bestellung getätigt worden. Neben Magazinen auch ein Tragegurt für Magazine. Um 10:16 Uhr wird die Zeugin entlassen.

Eine Kammer voller Waffen

Ein Zeuge betritt den Saal. Dunkelgraues Kurzhaar, ein grünweißes Hemd. Der Zeuge ist Ende 50 und Kriminalkommissar im Polizeipräsidium Heilbronn (Baden-Württemberg). Er sagt aus, er habe die Kleidung des SEK-Beamten Nr. 10, der im Einsatz verletzt wurde, im Krankenhaus abgeholt. Neben der Kleidung habe er die drei Geschossteile, die in einer OP entfernt wurden, erhalten. Auf der Dienststelle habe der Zeuge die Geschossteile und den „blutdurchtränkten“ Overall fotografiert. Um 10:25 Uhr wird der Zeuge entlassen. Dann wird ein Zeuge in den Saal begleitet. Der Zeuge ist Mitte 50, trägt einen Bart, grauweißes Haar, ein hellblaues Hemd. Er ist Kriminalhauptkommissar im LKA Baden-Württemberg und hat die Waffen, die nach der Tat entdeckt wurden, dokumentiert. Der Zeuge sagt, man habe eine „Waffenkammer“ entdeckt. An den Wänden sei eine Maschinenpistole und eine Langwaffe Repetierer gehangen. Auf einem Tisch sei eine Pistole, auf dem Boden eines Standregals seien zwei Maschinenpistolen gelegen. Außerdem: Etliche Magazine und Munition. Der Zeuge wird um 10:54 Uhr entlassen.

Es kommt ein Waffensachverständiger des LKA Baden-Württemberg, der bereits am 10. Prozesstag im Prozess aussagte, in den Saal. Er trägt eine Brille, dunkles Kurzhaar, einen Anzug. Der Vorsitzende Richter sagt, es seien einige Fragen aufgekommen. So fragt er, wie das Umschalten vom Einzel- auf Dauerfeuer des Maschinengewehrs M53 Zastava funktioniere. Das Gewehr ist die Tatwaffe. Der Sachverständige antwortet, es gebe einen Hebel. In der mittleren Position des Hebels werde vollautomatisch, in der unteren Position halbautomatisch gefeuert. Das Umschalten dauere zwei Sekunden. Rechtsanwalt Seifert fragt später, ob das Umschalten auch versehentlich möglich sei. Der Sachverständige antwortet: „Vollständig ausschließen kann ich’s nicht.“ Ihm wird ein Teil des Videos vom SEK-Einsatz gezeigt. Er vermutet, es sei teils halb-, teils vollautomatisch geschossen worden. Der Zeuge wird um 12:36 Uhr entlassen.

„Ich lasse mich ungern für dumm verkaufen“

Rechtsanwalt Seifert gibt eine Erklärung seines Mandanten ab. Es heißt, Ingo K. verzichte auf seine Magazine und Magazingurte. Am 3. Prozesstag verzichtete er bereits auf seine Waffen und Munition. Nach einer Mittagspause betritt eine Zeugin den Saal. Annett van H. ist Anfang 50, hat blondes, gelocktes Haar. Sie trägt eine Kette und einen blauen, langen Rock. Die Zeugin erzählt, Anfang der 1990er-Jahre habe sie mit Ingo K. im Raum Schwäbisch Hall (Baden-Württemberg) gewohnt. Zwar sei die Beziehung zerbrochen, aber sie habe stets einen guten Kontakt zu seiner Mutter gehabt. Mit der Erkrankung der Mutter habe der Kontakt zu Ingo K. zugenommen. Sie habe ihn mehrfach pro Jahr besucht. Man sei gemeinsam in die Stadt, mit dem Hund in die Natur. „Er war die Ruhe“, schwärmt sie. Über welche Themen die beiden gesprochen haben? Arbeit, Wetter. Über das Thema Waffen? „Kann ich nichts sagen.“ Dann fragt der Vorsitzende Richter, ob Ingo K. im Schützenverein war. Die Zeugin sagt, er sei Vereinsmitglied gewesen. Sie sei mit Ingo K. zum Schießstand gegangen, um mit seiner Waffe zu schießen.

Der Vorsitzende Richter sagt, Ingo K. habe am 20. April 2022 an die Zeugin geschrieben: „Wir werden von den Bullen gestürmt.“ Auf die Frage, was Ingo K. über die Polizei denke, behauptet die Zeugin, sie wisse es nicht. Eine Richterin fragt, worüber sie mit Ingo K. gechattet habe. Über „alles Mögliche“. Sie habe meist Nachrichten weitergeleitet. Die Richterin hält der Zeugin eine weitergeleitete Nachricht von der rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“ vor. Später kommentiert der Staatsanwalt: „Wenn man Ihren Verlauf anschaut, könnte man meinen, das ist die Chatgruppe von Attila Hildmann!“ Er betont, sie müsse die Wahrheit sagen. „Ich lasse mich ungern für dumm verkaufen“, fügt er hinzu. Der Vorsitzende Richter unterbricht die Sitzung, um der Zeugin eine Bedenkzeit zu geben. Sie behauptet auch danach, sie könne nichts über sein Weltbild sagen. Annett van H. wird entlassen und die Sitzung um 15:36 Uhr beendet.

Alles „nicht erwähnenswert“?

Mittwoch, 12. Juli 2023: Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung um 9:22 Uhr. Er ruft den Zeugen Achim G. in den Sitzungssaal 2. Der Zeuge ist Anfang 50, hat einen geflochtenen Kinnbart und trägt ein schwarzes Shirt. Er berichtet, ihn verbinde mit Ingo K. eine „gute Freundschaft“. So habe er geholfen, seine Wohnung in Bobstadt zu renovieren. Der Vorsitzende Richter fragt, ob er die politischen Überzeugungen von Ingo K. teile. „Teilweise ja“, antwortet er. Man habe überlegt, ob die Bundesrepublik „rechtens oder nicht rechtens“ sei. Ingo K. sei überzeugt, „dass die BRD nicht rechtens ist“. Man habe mehrere Demonstrationen besucht. Der Zeuge sagt über die Waffen des Angeklagten, er habe nicht nur von der Pistole, sondern auch vom Maschinengewehr gewusst. Ingo K. habe, wenn er Bekannte besuchte, eine Waffe mitgenommen. „Ab und zu“, „privat“. Die Waffe sei „nicht erwähnenswert“, „kein großes Thema“ gewesen. Was der Zeuge über die Tat dachte? Er könne sich nicht vorstellen, dass Ingo K. das Feuer eröffnet hat. Daher habe er sich die Frage gestellt, ob er bloß zurückgeschossen hat. „Man macht sich halt Gedanken.“ Der Zeuge wird um 11:36 Uhr entlassen.

Dann tritt eine Zeugin in den Saal. Sie ist Ende 50, trägt schwarzes Haar und ein rosanes Shirt. Ulrike H. ist Geschäftsführerin eines Sicherheitsdienstes und war bis März 2022 die Arbeitgeberin des Angeklagten. Sechs Wochen später fielen in Bobstadt die Schüsse.  Die Zeugin sagt, anfangs habe Ingo K. einen „guten Eindruck“ gemacht, später sei er „unzuverlässig – weil: „nicht erreichbar“ – gewesen. Der Vorsitzende Richter fragt, ob die Zeugin mit Ingo K. über Waffen gesprochen habe. Ulrike H. erzählt, sie habe gewusst, dass er eine Waffe besitzt. Man habe überlegt, den Sicherheitsdienst um eine Abteilung zum Personenschutz zu erweitern. Zwar sei Ingo K. aufgrund seines Waffenscheins in Frage gekommen, die Abteilung zu unterstützen. Aber: Sie habe nie ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt bekommen. Die Zeugin wird um 12:37 Uhr entlassen.

Ein „emotionaler Ausbruch“

Nach einer Pause kommt eine Zeugin – eine Kriminalhauptkommissarin des Polizeipräsidiums Heilbronn – in den Saal. Sie ist Anfang 40, trägt eine Bluse und ein schwarzes Sakko. Die Zeugin sagt, sie sei am Morgen der Tat informiert worden, dass Ingo K. – kurz nach den Schüssen – über den Notruf einen „Verhandler“ forderte, damit die Hunde aus dem brennenden Haus evakuiert werden. Als die Zeugin mit Ingo K. telefonierte, habe er seine Forderung, die Hunde zu evakuieren, sofort wiederholt. Er habe präzisiert, Bianca A. – die bereits festgenommen wurde und im SEK-Transporter saß – solle die Hunde holen. Dann habe er angekündigt, mit Max A. das Haus zu verlassen. Um 8:12 Uhr sei die Festnahme erfolgt.

Die Zeugin berichtet, Ingo K. habe einen „ruhigen“ Eindruck gewesen. Der psychiatrische Sachverständige hakt nach, ob das eine „normale“ Ruhe gewesen sei. „Unnatürlich ruhig“, sagt sie. Ein Richter spielt die drei Notrufe, die im Vorfeld des Telefonats eingingen, ab. „Schönen guten Tag, K. mein Name“, beginnt der erste Notruf um 7:20 Uhr. Ingo K. wirkt entspannt, freundlich. Als im Hintergrund zu hören ist, „der Reichsbürger“ sei am Telefon, lacht Ingo K. lauthals. Die Zeugin kommentiert, es sei der einzige „emotionale Ausbruch“ gewesen. Der zweite Notruf ist um 7:35 Uhr, der dritte um 7:46 Uhr erfolgt. Am Ende wirkt Ingo K. ungeduldig. Mit Blick auf die Evakuierung der Hunde fragt er: „Wie lange dauert das?“

Weder Nazi noch „Reichsbürger“?

Der Vorsitzende Richter setzt mit der Vernehmung, welche die Zeugin mit Ingo K. nach der Festnahme durchführte, fort. Die Zeugin sagt, Ingo K. sei gegen 13:30 Uhr ins Vernehmungszimmer gebracht und belehrt worden. Er habe um einen Rechtsanwalt gebeten. Obwohl der Anwalt noch nicht eingetroffen war, habe Ingo K. über die Tat gesprochen. Er habe kein Blaulicht, kein Martinshorn wahrgenommen. Stattdessen sei er durch die Explosionen aufgewacht und habe seinen Sohn Marco S. gesehen. „Auf dem Boden, wimmernd.“ Er habe sich „gefühlt, als sei er im Krieg und wollte seinen Sohn beschützen“. Ab dann habe er einen „Blackout“. Auf die Frage des psychiatrischen Sachverständigen, ob Ingo K. seine Handlungen bedauerte, antwortet sie, sie sei unsicher, ob der Angeklagte das Ausmaß der Geschehnisse realisiert habe.

Der Vorsitzende Richter zeigt das Video der 27-minütigen Vernehmung. Im Zentrum: Ingo K. Daneben: sein Rechtsanwalt. Die Aufzeichnung beginnt um 15:58 Uhr. Ingo K. sagt, es habe Explosionen und Schüsse gegeben. Er habe eine Waffe gegriffen, „aus einer Reflexhaltung heraus“. Und: „Dann habe ich geschossen.“ Der Grund: Er „wollte einfach die Leute fernhalten, wer auch immer es ist“. Wie zuvor spricht Ingo K. vom „Blackout“. Vom „Filmriss“. Angst, Panik, keine Erinnerungen, kein Zeitgefühl. Er gesteht: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt.“ Und: „Es war mir scheißegal, wer da ist, ich wollte nur meinen Sohn beschützen.“ Er betont, dass er keine Komplizen habe und keiner Gruppierung angehöre. Mehr noch: Er habe gar keine politische Gesinnung. Er sei kein Nazi und kein „Reichsbürger“. Er habe bloß frei und in Ruhe leben wollen. Kurze Zeit später endet das Video der Vernehmung. Um 15:10 Uhr wird die Zeugin entlassen und die Sitzung beendet.

 

Die vorigen Prozessberichte finden Sie hier:

 

Weiterlesen

2014-10-10-reichsbuerger

Reichsbürger/innen Skurril – und gefährlich

Sie zahlen keine Steuern und denken sich Fantasiekönigreiche aus: Auf den ersten Blick wirken „Reichsbürger_innen“ schlicht skurril. Doch hinter der…

Von|
Eine Plattform der