Um 9:17 Uhr geht die hellbraune Tür im Sitzungssaal 2 des Prozessgebäudes auf: Zwei Polizisten bringen den Angeklagten Ingo K. mit Fesseln in den Saal. Die Handfessel ist an einen der beiden Polizisten gebunden. So bleibt dem Angeklagten keine Chance zur Flucht. In seinen Fesseln bleibt er einige Minuten stehen. Erst, nachdem der Staatsschutzsenat den Saal betreten hat, nimmt ein Polizist die Fesseln ab.
Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung vom 3. Mai 2023. Nach einführenden Worten ruft er den ersten Zeugen des Prozesses in den Saal. Der Erste Kriminalhauptkommissar des LKA Baden-Württemberg stellt den „Kriminaltechnischen Bericht“ vor. Ein zentrales Dokument: Der Bericht enthält die „Tatortbefundaufnahme“ und den „Spurensicherungsbericht“. Der Kommissar berichtet über den Morgen des 20. April 2022: Um 7 Uhr habe er die Nachricht vom Brand und von den Schüssen erhalten. Um 9:50 Uhr sei er mit seinen Kolleg*innen am Tatort eingetroffen. Im Zuge des Schusswechsels zwischen Polizei und „Reichsbürger“ ist ein Brand im Gebäude ausgebrochen. Erst nachmittags sei der Tatort zugänglich gewesen, erklärt der Zeuge.
„Konnte niemand ahnen“
Der Kommissar spricht über den Anlass des SEK-Einsatzes: Eine Waffe, eventuell mehrere sollten eingezogen werden. Auf den Hinweis des Vorsitzenden Richters, dass lediglich eine Waffe eingezogen werden sollte, sagt der Zeuge, man müsse – so sein „Erfahrungswert“ – mit mehreren Waffen rechnen. Aber den Einsatzverlauf „konnte niemand ahnen“. Die lokale Polizei wurde durch Beamt*innen der Polizeipräsidien Heidelberg und Mannheim unterstützt.
Die Arbeit am Tatort dauerte drei Tage. Man musste, so der Kommissar, „Schwerstarbeit leisten“. Es gab zwar weder Niederschläge noch starke Winde. Aber die Decke sei einsturzgefährdet gewesen. Auf den Leinwänden des Sitzungssaals zeigt der Vorsitzende Richter ein Luftbild des Grundstücks, eine „Hofanlage“ mit drei Gebäuden. Das Gebäude, das Ingo K. mit seinem Sohn im Erdgeschoss bewohnt hatte, ist das „Brandobjekt“. Die „Hofanlage“ war laut Bericht „quasi vollständig eingezäunt“. Teils mit Holz-, teils mit Maschendrahtzaun. Im Bericht steht: Eine „grüne Planbespannung“ diente dem „Sichtschutz“. Zwischen Gebäude und Zaun standen ein Auto und ein Radlader. Die Fahrzeuge wurden durch den Brand zerstört. Anschließend zeigt der Vorsitzende Richter einen Grundrissplan der „Hofanlage“ und Grundrisspläne der einzelnen Stockwerke im „Brandobjekt“.
DDR-Fahne und Maschinenpistolen
Das Untergeschoss: Büro, Heizraum, Keller, ein „provisorischer Stall“. Später wird klar: Im Büro ist eine Kurzwaffe deponiert. Das Erdgeschoss: zwei Wohnbereiche, ein Schlafzimmer, eine „Abstellkammer“ – und eine „Waffenkammer“. Letztere war einzig über das Schlafzimmer zu erreichen. Der Zeuge berichtet, die „meisten Hülsen“ (39 Stück) seien im Wohnzimmer, „einige Hülsen“ (13 Stück) im Schlafzimmer gefunden worden. Auf der Bettkante und der Fensterbank hätten Munitionsschachteln gestanden. Es heißt im Bericht: „Das Erdgeschoss ist vollständig durch den Brand in Mitleidenschaft gezogen worden und unbewohnbar.“ Weiter: „In allen Räumen liegt Brandschutt mit durchschnittlich ca. 30 cm Höhe auf dem Boden.“ Der Zeuge ergänzt, man habe die Hülsen „aus dem Dreck rausziehen müssen“.
Der Vorsitzende Richter zeigt Fotos der „Waffenkammer“. An einer Wand hängt eine Maschinenpistole der Marke Uzi. Im Bericht steht: Das Magazin ist gefüllt, die Pistole geladen. Der Zeuge kommentiert, die Halterung sei „wie eine Garderobe“ gewesen. Ein zweites Foto: Hinter Waffen ist eine DDR-Fahne drapiert. Der Angeklagte ist in Plauen, einer Stadt in der ehemaligen DDR, geboren. Ein drittes Foto: Auf dem oberen Boden eines Regals liegen zwei vollautomatische Maschinenpistolen der Marke Shpugin. Der Zeuge resümiert, in sämtlichen Regalen und Schränken seien Waffen gewesen. Der Bericht dokumentiert unzählige Fotos. „Beleuchtbare Zeichen, mutmaßlich Runen“
Ein Foto zeigt Originalverpackungen der Munition. Der Zeuge sagt aus, man habe eine „Sardinenbüchse“ mit 1.250 Patronen entdeckt. Die Büchse musste aufgeschweißt werden. Auf der „Hofanlage“ seien knapp 13.000 Patronen sichergestellt worden. Der Zeuge erklärt, nicht nur die Waffe, auch sämtliche Munition sei untersucht worden. Man habe durch Fingerabdrücke ermitteln wollen, wer die einzelnen Waffen beladen hat.
Das Obergeschoss: ausgebrannt. Der Zeuge schildert, der Brandschutt sei „sukzessive abgetragen“ worden. Man habe eine Schusswaffe und ein Schwert gefunden. Es folgen Fotos vom Obergeschoss, Fotos vom zweiten und vom dritten Gebäude. Im Bericht steht zur Fassade des zweiten Gebäudes: „An der Giebelseite nach Süden sind beleuchtbare Zeichen, mutmaßlich Runen, deutlich sichtbar angebracht.“ Im zweiten Gebäude wurde eine „Btm-Anlage“ [Betäubungsmittel, TB] und eine „Waffenkammer“ entdeckt. Das Gebäude wird Heiko A., dem Vermieter von Ingo K., zugerechnet. Fotos zeigen vier Einschusslöcher in einem Nachbargebäude sowie zahlreiche Einschusslöcher in den Fahrzeugen der Polizei sowie in der Kleidung und Ausrüstung der Polizist*innen.
Kalaschnikow und Schrotpatronen
Nach einer kurzen Pause thematisiert der Vorsitzende Richter die Fundorte und Namen der Waffen. Zum Beispiel wird der Eingangsbereich des „Brandobjekts“ ins Blickfeld genommen: Auf und vor der Kühltruhe, die im Eingang stand, lagen zahlreiche Waffen und Patronen: auf der Truhe eine Kalaschnikow AK-47, vor der Truhe eine Heckler & Koch G3. Nach der Thematisierung der Waffen stellt die Verteidigung einige Fragen an den Zeugen.
Nun bekommt der Angeklagte die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Ingo K. wirkt überrumpelt. Er räuspert sich, überlegt und verneint. Nach kurzer Absprache mit seinen Rechtsanwält*innen schiebt er die Frage nach, an welchen Orten die Schrotpatronen gefunden wurden. Der Zeuge überlegt, ein paar seien im Treppenhaus des „Brandobjekts“, viele seien in den Munitionsschachteln gefunden worden. Der Angeklagte widerspricht. In den Schachteln seien keine Schrotpatronen gewesen. Ingo K. will wissen, wo die Büchse gefunden wurde. Er könne nachschauen, sagt der Zeuge, und holt einen Aktenordner aus seinem Rucksack. Er blättert im Ordner und urteilt, die Büchse sei im Nebengebäude des „Brandobjekts“ gefunden worden.
Der Angeklagte spricht über eine Waffe mit Brandspuren. Die Waffe müsse im Obergeschoss gewesen sein. Schließlich habe seine Mietwohnung im Erdgeschoss nicht gebrannt. Er trägt seine Nachfrage recht vehement vor. Plötzlich greift Rechtsanwältin Combé ein: „Nicht so laut!“ Überrascht antwortet der Angeklagte: „Ich habe das nicht gemerkt, Entschuldigung!“ Zuletzt fragt er, an welchen Orten – außerhalb seiner Wohnung – Waffen gefunden wurden. Der Zeuge antwortet, im Unter- und Obergeschoss sowie im Nebengebäude des „Brandobjekts“. Der Angeklagte trotzig: „Also nicht das, das ich gemietet hatte“. Rechtsanwältin Combé betont, Ingo K. habe mit den Waffen, die außerhalb seiner Wohnung gefunden wurden, „nix zu tun“. Eine Richterin stellt klar, er sei wegen den Waffen und der Munition im Eingangsbereich seiner Wohnung und in seiner „Waffenkammer“ angeklagt. Ihm werde der Besitz von 5.000 Patronen – und nicht der Besitz der 13.000 Patronen – zur Last gelegt.
„Zum Liegen gekommen“
Nach einer Mittagspause spricht die zweite Zeugin. Sie ist Technische Amtsrätin im LKA Baden-Württemberg und arbeitet im Bereich der „3D-Vermessung und -Visualisierung“. Die Zeugin erklärt, ein 3D-Laser-Scanner taste die Oberfläche mit einem Laserstrahl ab, um Entfernungen messen zu können. Der Vorsitzende Richter zeigt einige Grafiken, die Zeugin erläutert sie. Eine Grafik zeigt die Entfernung zwischen dem „Brandobjekt“ und den Polizeifahrzeugen. Die Zeugin erklärt, mit einer „Full-Body-Scan-Anlage“ sei vermessen worden, wo Kleidung und Ausrüstung der Polizist*innen beschädigt wurden.
Der dritte Zeuge ist Polizeioberkommissar im LKA Baden-Württemberg und stellt den „Rekonstruktionsbericht“ vor. Er hat Videos der Drohnen und Helmkameras ausgewertet, um das Geschehen zu rekonstruieren: Wer hat wann geschossen? Der Vorsitzende Richter zeigt fünf Skizzen an den Leinwänden. Die erste Skizze veranschaulicht die Positionen der Polizist*innen und der Polizeifahrzeuge vor dem ersten Schuss. Der Zeuge erklärt, als Polizist Nr. 10 den Rollladen mit einer Flex öffnen wollte, sei ein Schuss gefallen. Der Polizist sei „zusammengesackt“ und „zum Liegen gekommen“. Zwei Polizist*innen trugen Schilder, um Schüsse abzuwehren, während drei Polizist*innen den Verletzten zum Polizeifahrzeug brachten.
Der Vorsitzende Richter sagt, laut Bericht seien 43 Schüsse gefallen, und fragt, wer wie häufig geschossen habe. Der Zeuge antwortet, ein Polizist habe 16 Mal, ein weiterer Polizist zwei Mal geschossen. Die fünfte und letzte Skizze stellt die Positionen der Polizist*innen und der Polizeifahrzeuge dar, als aus dem Hausinneren ein Dauerfeuer abgegeben wird: Erst fünf, dann vier Schüsse seien in den Videos der Helmkameras zu hören, berichtet der Zeuge. Die Schüsse seien „sehr schnell hintereinander“ gefallen. Rechtsanwalt Seifert will wissen, welche Geräusche er abseits der Schüsse gehört habe. Der Zeuge erklärt, er habe „Polizei!“-Rufe der SEK-Beamt*innen gehört. Zuletzt fragt der Rechtsanwalt nach dem ersten Geräusch. „Sirenen“, sagt der Zeuge nach kurzem Überlegen: „Das Martinshorn!“ Die Sitzung ist um 15:23 Uhr beendet.
Bisher erschienene Prozessberichte zum Reichsbürger-Prozess zu Bobstadt:
Reichsbürgerprozess Bobstadt: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“ (Tag 2)
Reichsbürgerprozess Bobstadt: Hobbys – Buddhismus und Waffen (Tag 3)
Reichsbürgerprozess Bobstadt: Eine Garderobe mit Waffen (Tag 4)
Reichsbürgerprozess Bobstadt Die Kurkuma-Verschwörung (Tag 5)