Birgit Lohmeyer wirkt erstaunlich gefasst. Dabei beginnt in wenigen Minuten ein Festival mit rund 2.500 Besucher*innen vor ihrer Haustür, außerdem ist ihr Grundstück von gewaltbereiten Neonazis geradezu umzingelt. Aber nach 15 Jahren ist sie gut geübt: Jedes Jahr organisiert die inzwischen 63-jährige Schriftstellerin zusammen mit ihrem Ehemann Horst das Festival „Jamel rockt den Förster“ – eine zweitägige Veranstaltung, die dem rechtsextremen Konsens im Dorf etwas entgegensetzen will. Denn leider lässt sich von Jamel zu Recht sagen: Es ist ein Nazidorf. Fast komplett, zumindest.
Trotz der letzten Vorbereitungen findet Lohmeyer Zeit für ein Interview. Denn was an diesem Wochenende in Jamel passiert, will sie der Welt zeigen: „Dass wir mehr sind. Und dass wir rechtsextreme Gewalt nicht tolerieren werden“. Das Festival macht den Lohmeyers Mut, gibt ihnen Hoffnung: „Diese zwei Tage im Jahr sind eine emotionale Kraftpumpe für uns“, sagt sie. „Und das Festival zeigt uns: Wir sind nicht allein. Mitnichten.“
2004 sind die Lohmeyers von Hamburg nach Jamel gezogen, eine 40-Seelen-Sackgasse im tiefsten Mecklenburg-Vorpommern. Das Dorf hat nur elf Häuser – und in fast allen wohnen inzwischen Neonazis. Ein Rundgang ist heute nur unter Polizeischutz möglich, Festival-Besucher*innen wird geraten, „Tourismus“ auf die andere Dorfseite ganz zu vermeiden. Im Wind weht eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge. Prominent an der Dorfwiese in der Ortsmitte ist ein Gemälde im NS-Stil aufgemalt – mit einer arischen Familie. Früher stand darauf „Dorfgemeinschaft Jamel. Frei, sozial, national“ in Frakturschrift. Heute lautet der Schriftzug „Treu sind Mecklenburger Herzen – von Freiheit singt der Wind“.
Auch der Gemeinde-Schaukasten untermauert Jamels Status als „Nazidorf“. Dort ist ein Sammelsurium von Beschreibungen heidnischer Rituale, patriotischer Angaben zur Lokalgeschichte und vor allem rechtsextremer Propaganda zu finden. „Kein Mensch braucht Zecken“, steht auf einem Aufkleber. Nebenan: Zitate von Ian Stuart Donaldson, Sänger der Neonazi-Band Skrewdriver, sowie Albert Leo Schlageter, Freikorps-Angehöriger und Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation „Großdeutsche Arbeiterpartei“. Auf einem Flyer steht unter der Überschrift „Europe. What it should look like“ vermeintlich akzeptable Augen- und Haarfarben. Laut Polizei musste vor ein paar Jahren ein Plakat entfernt werden, das den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß verehrt.
Jamel hat seinen rechtsextremen Ruf vor allem einem Mann zu verdanken: Sven Krüger, Jahrgang 1974, mehrfach vorbestraft, Ex-NPD-Landesvorstand. Ein Mann mit einer dicken Polizeiakte. Behörden schätzen ihn als „Führungsperson der Hammerskins in Mecklenburg-Vorpommern“ ein – ein klandestines und gewaltbereites Neonazi-Netzwerk, das sich als „Elite“ der Szene versteht. 2011 stellten Spezialeinheiten der Polizei eine Maschinenpistole mit 200 Schuss Munition auf dem Gelände sicher, die er illegal besaß. Das war einer der Gründe für die Verurteilung im selben Jahr zu vier Jahren und drei Monaten Gefängnis.
Auf Krügers Anwesen weht die Reichsflagge – eine nagelneue sogar, pünktlich zum Festivalauftakt, um die alte, zerfetzte zu ersetzen. Auch eine schwarze Fahne mit weißem Pflug und rotem Schwert flattert im Wind – die Flagge der völkischen „Landvolkbewegung“, ein Wegbereiter der NSDAP. Am Zaun hängen Tierschädel mit Stahlhelmen. Von Jamel aus betreibt Krüger auch eine Abrissfirma. „Wir sind die Jungs für’s Grobe“, lautet der Unternehmensspruch. In einem bis vor ein paar Jahren noch verwendeten Emblem der Abrissfirma zerschlägt ein Mann offenbar einen Davidstern.
Es dauert nicht lange, bevor Krüger herauskommt, demonstrativ vor seinem Haus steht und grimmig in die Kamera guckt. Glatzköpfig mit langem grauem Bart trägt er ein schwarzes Tanktop mit dem Logo der „Hammerskins“. Auch er hat Pläne dieses Wochenende. Er lädt jährlich Neonazis aus ganz Deutschland zu einer Gegenveranstaltung auf seinem Grundstück ein, „Grillen gegen links“. Die Polizei geht von rund 50 Teilnehmenden aus, heißt es auf Anfrage.
Schon Krügers Vater lebte in Jamel und soll eine ähnliche politische Gesinnung wie sein Sohn gehabt haben. Krüger Junior will das Dorf zu einer „national befreiten Zone“ machen. Anfang der 2000er Jahre begann der umtriebige Neonazi, Immobilien in Jamel aufzukaufen. Kader aus der rechtsextremen Szene zogen ein – und verdrängten die früheren Dorfbewohner.
Die Lohmeyers blieben. Aber der Preis dafür ist hoch. „Es gibt permanent über das ganze Jahr hinweg immer wieder kleinere Straftaten gegen uns“, sagt Birgit Lohmeyer, „von Beleidigung über Bedrohung, Diebstähle und Sachbeschädigung.“ Die Neonazis haben Autoreifen zerstochen, eine tote Ratte in den Briefkasten gelegt, Mist auf die Einfahrt gekippt. Auch im Rahmen des Festivals kommt es fast jedes Jahr zu Zwischenfällen, so eine Sprecherin der Polizei. „Das ist leider täglich Brot bei uns hier im Dorf“, sagt Lohmeyer.
Ein trauriger Höhepunkt: 2015 brannte die Scheune der Lohmeyers nieder. Auch ihr Wohnhaus ging beinahe in Flammen auf. Damit wollten offenbar Rechtsextreme das kurz bevorstehende Festival verhindern. „Wir waren absolut traumatisiert“, so Lohmeyer. Sie spricht von einem Mordanschlag gegen sie und ihren Mann. Aber der Plan ging nach hinten los: Das Festival fand trotzdem statt – dank überregionalen Schlagzeilen nach dem Anschlag mit einem spontanen Überraschungsgast, den Toten Hosen.
Von je her ist der Überraschungsmoment ein Markenzeichen des Festivals. Das Programm bleibt bis zuletzt streng geheim. Erst wenn der Vorhang fällt, erfährt das Publikum, wer spielt. Auf der Bühne standen bereits einige der größten Namen der bundesrepublikanischen Musikszene wie Die Ärzte, Beatsteaks, Herbert Grönemeyer und Danger Dan. Sie alle spielen für die Sache, verzichten auf ihre üblichen Gagen. Dieses Jahr gehören Sportfreunde Stiller, Deichkind, Kreator, Thees Uhlmann und Haiyti zu den Headlinern.
„Es war uns wichtig, ein Zeichen zu setzen“, erklärt Kreator-Frontmann Miland „Mille“ Petrozza seine Teilnahme am Festival im Backstage-Bereich, dem Vorgarten der Lohmeyers. Es ist kurz vor Mitternacht am Freitagabend und er nippt an einem Wasser nach einem energischen Auftritt, der als Highlight des ersten Festivaltages gelten dürfte. Zum Höhepunkt teilt er das Publikum in zwei Teilen auf, wie ein Moses des Metal. Auf sein Zeichen stürmen die zwei Hälften aufeinander los. Jamel wird zum riesigen Moshpit.
Kreator ist die erste Metal-Band, die auf „Jamel rockt den Förster“ spielt. Und Mille fühlt sich gewissermaßen stellvertretend für seine Szene: „Es wird oft übersehen, dass im Metal auch ganz viele Bands gegen Rassismus ansingen“. Er selbst sei in der Hardcore-Punkszene politisiert worden, eine klare Haltung gegen Rassismus und Nazis sei für ihn immer selbstverständlich gewesen. „Ich halte das nicht für besonders heldenhaft“.
Auch die Newcomerin Mia Morgan will mit ihrem Auftritt in Jamel klare Kante zeigen. „Ich mache keine politische Mucke“, räumt die 28-jährige Sängerin ein, deren Single „Waveboy“ 2019 zum Underground-Hit wurde. Auf der Bühne singt sie über Sex, Partys und Drogen, aber auch Herzschmerz und Essstörungen. „Es ist mir jedoch wichtig, dass die Leute, die meine Musik hören, wissen, wo ich als Privatperson stehe“, so Morgan weiter. Die Gewalt und der Hass der vergangenen Jahre – online sowie offline – finde sie beängstigend. „Je lauter die werden, desto lauter muss man ja auch selber sein.“
Lauter ist das Festival an diesem Wochenende definitiv, besonders bei Deichkinds basslastigem Finale am Samstagabend. Stroboskoplicht und Sirenen verschlingen die Wiese, während die siebenköpfige Crew die Bühne beinahe demoliert. „Sehr geehrte Faschisten, da drüben im Dorf“, brüllen die Electropunker aus Hamburg. Doch das Dorf antwortet nicht. Und von Krügers „Grillen gegen links“ ist kein Mucks zu hören.
Mit dem Verlauf des Jubiläumsfestivals sei sie mehr als zufrieden, sagt Birgit Lohmeyer zum Schluss. Mit den Neonazis ist es auch zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen. Sie trägt eine Sonnenbrille und lächelt. Doch gleichzeitig räumt sie ein: „Wir sind nicht mehr die jüngsten, unsere Körper sind danach immer komplett am Arsch“. Ein Preis, den die Lohmeyers gerne zahlen, alle Jahre wieder. Ob sie nach 15 Jahren jemals ans Aufhören denkt? „Nein, nein. Auf gar keinen Fall“, sagt sie entschlossen, „wir machen hier weiter“. Sie lacht trotzig und will schon direkt im Anschluss in die Planung für nächstes Jahr einsteigen. Eine Lebensmission.