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Reportage Die Völkischen von nebenan

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Das Jahrmarkttheater im niedersächsischen Bostelwiebeck: Hier treffen sich Menschen aus verschiedenen Regionen, die völkische Nachbar:innen haben.
Das Jahrmarkttheater im niedersächsischen Bostelwiebeck: Hier treffen sich Menschen aus verschiedenen Regionen, die völkische Nachbar:innen haben. (Quelle: Nicholas Potter)

Die 60-jährige Frau aus der ostniedersächsischen Provinz möchte weder ihren Namen in einer Reportage lesen noch den Namen ihres Dorfes. Das hat gute Gründe: Denn ihre Nachbar:innen sind völkische Siedler:innen. Schon an der ungewöhnlichen Kleidung musste die 60-Jährige schnell feststellen, dass sie keine normalen Nachbar:innen hat. „Sie sind sehr auffällig gewesen“, sagt sie. „Sie laufen mit Zöpfen und diesen Trachtenkleidern durch die Gegend, die Männer haben Knickerbocker oder Dreiviertellederhosen an“.

Schon seit 20 Jahren wohnt die völkische Familie im Dorf, damals hatte die Nachbarin von dem Phänomen noch nie etwas gehört. „Mir ist aufgefallen, dass bekannte Rechtsextreme aus dem Landkreis mit ihnen durch das Dorf gelaufen sind. Somit war mir klar: Die gehören irgendwie dazu“. Dann wurde eines Tages eine rechtsextreme Fahne im Garten gehisst. Die Nachbarin fragte nach ihrer Bedeutung. Das sei von ihrer Vereinigung, antworteten die völkischen Siedler:innen vage und ausweichend. Und ausgerechnet am 20. April, dem Datum von Hitlers Geburtstag, feierte die Familie ein Fest auf dem Hof. „Dann war es mir klar: Das sind Nazis“.

Ostniedersachsen ist, neben Mecklenburg-Vorpommern, eine Hochburg der völkischen Rechtsextremen. Besonders alarmierend: Dort gibt es auch so viele Waffenscheine wie sonst nirgendwo in der Bundesrepublik. Manche Familien wohnen bereits über viele Generationen in Dörfern, andere ziehen hinzu. Der Traum: Ein ökologisches Leben ohne „Multikulti“, Andersdenkende und staatliche Kontrolle, dafür mit völkischem Denken, altgermanischen Traditionen und in „Sippen“ organisiert, wie die Völkischen ihre Familien nennen. Oder anders formuliert: Ein Leben für weiße Deutsche unter weißen Deutschen. Durch strategische „Raumgreifungsversuche“, Immobilienkäufe und Versteigerungen versuchen sie, im ländlichen Raum Fuß zu fassen. Ein Plan, der zur Zeit aufgeht.

Zu den wichtigsten Gruppen der Bewegung zählen der „Sturmvogel – deutscher Jugendbund“, dessen Wurzeln in der verbotenen „Wiking-Jugend“ liegen, der „Bund für Gotterkenntnis – die Ludendorffer“ und die „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ um den Neonazi Jens Bauer, bei dem der NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wohnte. Auch bei der ebenfalls verbotenen neonazistischen Organisation „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) gibt es enge familiäre Verbindungen in die völkische Szene.

Forscher:innen schätzen bundesweit mindestens einige Hundert bis Tausend Akteur:innen der Szene, doch offizielle Zahlen von Sicherheitsbehörden gibt es nicht. Erst zum zweiten Mal überhaupt erwähnt der niedersächsische Verfassungsschutz völkische Siedler:innen in seinem Jahresbericht für 2020. Zu wenig, zu spät warnen Beobachter:innen der Szene – wie Anna Weers, eine Expertin für Rechtsextremismus im ländlichen Raum von der Amadeu Antonio Stiftung. Weers recherchiert seit Jahren zu rechten Siedlungsbewegungen – und warnt vor deren wachsendem Einfluss in ländlichen Regionen. „Völkische Rechtsextreme siedeln sich bundesweit in ländlichen Räumen an und leben ihre Ideologie im Kleinen aus“, so Weers im Gespräch mit Belltower.News. „Damit sind sie nicht nur eine Bedrohung für Menschen vor Ort, die ihrem Weltbild nicht entsprechen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft“. Insbesondere die Ausbreitung und Vernetzung der Anhänger:innen der Anastasia-Bücher, einer rechtsesoterischen Siedlungsbewegung, sei nicht zu unterschätzen, betont Weers (Belltower.News berichtete).

Doch nicht alle im Dorf der 60-jährigen Frau teilen diese Einschätzung. Denn die völkischen Nachbar:innen machten sich im Dorf rasch beliebt – und bestreiten, irgendetwas mit rechtsextremer Ideologie oder Nationalsozialismus zu tun zu haben. „Sie waren schnell vernetzt, spielten den freundlichen Nachbar, waren immer nett und hilfsbereit, sind in die freiwillige Feuerwehr eingetreten, haben bei Dorffesten geholfen“, berichtet sie. Inzwischen seien weitere völkische Familien zugezogen, jetzt wohnten vier völkische Haushalte im Dorf. Vor ein paar Jahren sei zum Beispiel ein großer Gutshof im Dorf an eine völkische Familie verkauft worden. Dazu kommen noch zahlreiche Kinder, denn die Familien wachsen schnell – und somit auch die völkische Ideologie.

Eine Entwicklung, die die Nachbarin alarmiert. Allerdings ist das Dorf in diesem Thema gespalten – und die völkischen Siedler:innen bleiben vorsichtig, zurückhaltend, geschickt. „Die sind nicht doof“, sagt sie. Und auf ihre Kleidung passten die Familien inzwischen auf, tauschten Trachtenkleider gegen Miniröcke, Lederhosen gegen Shorts – aus Imagegründen.

Das Netzwerk Südheide zeigt Flagge: Eine Initiative gegen Rechtsextremismus in Niedersachsen.

Wer angesichts dieses Trends nicht bloß zusehen will, kann sich mit Gleichgesinnten vernetzen, sich mit anderen Nachbar:innen austauschen und etwas dagegen tun. Ein Anlass dafür bietet eine Veranstaltung im Jahrmarkttheater in der ostniedersächsischen Gemeinde Altenmedingen bei Uelzen mit dem Titel „Perspektiven: Vielfältig – Was tun gegen völkische Landnahme?“, organisiert von der Amadeu Antonio Stiftung und der lokalen Initiative „beherzt“ aus dem Raum Uelzen.

Doro Schneider vom Verein „Augen auf e.V.“ aus dem sächsischen Zittau, ein Projekt gegen Rechtsextremismus in der Region.

Ein sonniger Samstag Anfang September, er fühlt sich an wie der letzte Tag des Sommers. Das Jahrmarktheater liegt in Bostelwiebeck, ein Dorf so klein, das es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag hat. Der Kulturhof mit Scheune, Grünfläche und Bühne ist ein Ort für Performances, Konzerte und Diskussionen fernab der großstädtischen Hektik. Hier führen weit und breit keine Autobahnen vorbei. Auf der schmalen Landstraße, die ins Dorf führt, sind pink-gelbe Holzkreuze von der Initiative „beherzt“ zu sehen, mit der Aufschrift: „Kreuz ohne Haken – fuer Vielfalt“ – ein Zeichen gegen Rechtsextremismus im Umkreis Uelzen.

Ein wichtiges, nötiges Zeichen: Denn auch hier gibt es seit Jahrzehnten ein Problem mit Rechtsextremen. So schaltete 24 Anwohner:innen anlässlich des Todes von Rudolf Heß im Jahr 1987 eine ganzseitige Anzeige in der Lokalzeitung, in Trauer um den verstorbenen Hitler-Stellvertreter. „Wir werden ihm das Denkmal setzen, das seine Feinde ihm verwehren wollen. Wir sind vielleicht die letzten von gestern, aber wir sind auch die ersten von morgen“, stand da. Die Nachbar:innen würden Rudolf Heß „in alle Zukunft“ tragen, heißt es weiter. In großen Buchstaben: „Niemand kann uns hindern!“.

Heute zeigt das Dorf aber sein anderes Gesicht: Zwischen gackernden Hühnern und schlafenden Schweinen treffen sich 60 Menschen aus verschiedenen Regionen auf dem Kulturhof des Jahrmarkttheaters. Was sie vereint: Sie haben völkische Nachbar:innen, sind besorgt, wollen sich informieren, ihr solidarisches Netzwerk ausbauen. Doch so einfach ist das nicht, sich hier zu vernetzen: Die Einlasskontrolle ist gründlich, der Besuch nur mit Voranmeldung möglich. Ein schwarzbekleidetes Security-Team mit Sonnenbrillen patrouilliert das Gelände. Denn immer wieder versuchen völkische Rechtsextreme, solche Veranstaltungen zu stören: Sie mischen sich unter das Publikum, schüchtern Teilnehmende ein, stechen Autoreifen platt. Die Botschaft ist klar: Niemand soll über sie berichten, sie bleiben lieber im Verborgenen.

Das weiß Andrea Röpke, die einen Vortrag auf der Veranstaltung im Jahrmarkt hält, aus erster Hand: Sie berichtet von Einschüchterungsversuchen, von Anwaltsbriefen, von Unterlassungserklärungen – und mehr. Röpke wurde wegen ihrer journalistischen Arbeit gegen Rechtsextremismus bereits mehrfach von Nazis tätlich angegriffen. Alles vergeblich: Die Journalistin Röpke schreibt weiterhin regelmäßig über die Szene, 2019 veröffentlichte sie das Buch „Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos“ zusammen mit dem Journalisten Andreas Speit. In ihrem Vortrag berichtet Röpke, völkische Siedler:innen behaupteten, Röpke selbst hätte sich die „völkischen Siedler:innen“ ausgedacht – eine Erfindung ihrer Fantasie, die es in der Realität schlicht nicht gebe. Doch nicht ein einziger Punkt ihrer Berichterstattung über die Szene konnten die völkischen Rechtsextremen bislang widerlegen, so Röpke.

v. l. n. r.: Anna Weers, Doro Schneider, Wilfried Manneke und Martin Raabe.

In der anschließenden Podiumsdiskussion berichten Martin Raabe von der Initiative „beherzt“, Wilfried Manneke vom „Netzwerk Südheide“ und Doro Schneider vom Verein „Augen auf e.V.“ aus dem sächsischen Zittau von ihrer Arbeit gegen Nazis. Raabe engagiert sich als Pastor seit Jahrzehnten gegen rechtsextreme Umtriebe in der Gegend. Damals pflegten Rechtsextreme ein anderes Erscheinungsbild: Bomberjacke, Springerstiefel, Glatze. Die Zeiten ändern sich, Raabe ebenfalls, der mittlerweile pensioniert ist. Doch auch in Ruhestand bleibt er aktiv, aus Überzeugung und aus Not. „Wir haben hier Nachbarn, mit denen wir leben müssen“, sagt er verzweifelt und versöhnend zugleich. „Wir wollen nicht zurück ins Mittelalter“.

Eine besondere Herausforderung im Umgang mit völkischen Siedler:innen ist in den Diskussionen unter Teilnehmer:innen nach der Veranstaltung auf dem Hof oft zu hören: Die Kinder. Eltern berichten, dass völkische Siedler:innen ihre Kinder nicht in die Kita schicken. Laut Anna Weers von der Amadeu Antonio Stiftung wird das Problem in Zeiten der Covid-Pandemie nur noch schlimmer: „Derzeit wird sich stark zum Thema freie Schulen und sogenanntes ‚Freilernen‘ ausgetauscht – das betrifft die ländlichen als auch die städtischen Räume. Sie möchten den Kindern abseits staatlicher Kontrolle antimodernes und antidemokratisches Gedankengut vermitteln.“

Das sieht man exemplarisch an dem Interesse der völkischen Siedler:innen für Waldorf-Pädagogik. Eine Erzieherin in einem Waldorf-Kindergarten, die ihren Namen nicht veröffentlicht wissen möchte, berichtet gegenüber Belltower.News davon, dass immer mehr völkische Familien ihre Kinder in Waldorf-Einrichtungen einschulen. Diese Familien würden sich bereits kennen und fungieren als informelles Netzwerk von rechtsgesinnten Eltern in der Schule: „Wir sind erst wach geworden, nachdem die vierte Familie gekommen ist. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis uns klar geworden ist, was das bedeutet.“ Die völkische Kleidung falle im Waldorf-Kontext nicht besonders auf, so die Erzieherin. „Die Namen der Kinder waren aber komisch“.

Inzwischen hat der Kindergarten sich klar gegen völkische Siedler:innen positioniert, das habe aber gedauert, so die Erzieherin. Es gebe nun ein Aufnahmeverfahren, Familien würden genauer geprüft werden, die demokratische Haltung des Kindergartens werde im Vorfeld klar kommuniziert, erklärt sie. Waldorf-Einrichtungen sind trotzdem für völkische Rechtsextreme aus einigen Gründen eine attraktive Option: Sie sind ökologisch orientiert, nicht-staatlich und bieten einige Möglichkeiten, sich einzubringen und die Einrichtung mitzugestalten. Ein Teil der rechtsextremen Szene interessiert sich zudem für Esoterik und nicht-wissenschaftlich basierte pseudomedizinische Ansätze wie Homöopathie – und hat daher durchaus ideologische Anknüpfungspunkte an die Anthroposophie. „Ich glaube, dass es Schnittmengen gibt, auch mit der Öko-Szene“, räumt die Waldorf-Erzieherin ein. „Doch es gibt auch ganz krasse Gegensätze“.

Sonnenuntergang über den Wiesen der ostniedersächsichen Provinz, Ausklang eines regen Austausches: Eine Band spielt die antifaschistische Kampfhymne „Bella Ciao“ auf einer Wagonbühne, die restlichen Teilnehmende retten die letzten Kuchenstücken vom Buffet. Von Angst keine Spur, sondern von Entschlossenheit. „Ich werde nicht wegziehen“, sagt die 60-jährige Nachbarin. „Die Völkischen aber sicher auch nicht“.

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