Der folgende Text ist in einer ausführlicheren Version zuerst bei hagalil erschienen.
Gleich im Vorwort – „Denken in Zeiten pathischer Normalität“- streicht Bittermann die Besonderheit, die radikale Eigenheit von Pohrts polemisch-kämpferischen Schriften und Büchern hervor: Pohrt habe seine Analysen stets mit „Schärfe, Klugheit und Eleganz“ (S. 9) vertreten, habe in einer Mischung aus Witz und Sarkasmus eine „Überzeugungskraft“ entfaltet. Diese richtete sich über Jahrzehnte jedoch vor allem gegen die „eigene“ linke Szene. Ihr wollte der fleißige Konkret-Schreiber Pohrt bald nicht mehr angehören. Und er ließ in eindrücklicher Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit nicht davon ab, die eigene „Szene“ einer scharfen Analyse und Kritik zu unterziehen. Dies bezeichnete er als „Ideologiekritik“. Später sollte Pohrt, der anfangs noch RAF-Positionen insofern verteidigte, als er deren Vertreter nicht aus dem linken Diskurs ausschließen wollte, seine scharfe Kritik ab den 1980er Jahren gegen die Grünen und die „Friedensbewegung“ richten. Später wendete er seine Ideologiekritik auch auf Hausbesetzer, am Ende sogar gegen gewisse Vertreter der Antisemitismuskritik an.
Wenn Pohrts Kritiker – von denen es Zahllose gab – in seinen eloquenten, sarkastischen, scharfsinnigen Kommentaren Hass oder Selbsthass aufspüren, ihn gar für einen gefühlskalten Egomanen wahrnehmen würden, so sei dies ein Missverständnis, schreibt Bittermann. Seine Texte und Interventionen seien seiner Weigerung geschuldet, „still dazusitzen, wenn wie in Rostock-Lichtenhagen Ausländer attackiert werden, ohne dass staatliche Organe eingriffen.“
Pohrt wurde am 5. Mai 1945 in Torgau, Sachsen geboren; zehn Tage zuvor hatten sich dort amerikanische und russische Truppen getroffen. Seine Mutter zog mit ihm und seiner 12 Jahre älteren Halbschwester nach Dommitzsch, eine – so Bittermann – „öde Landschaft westlich der Elbe.“ 1950 ging es weiter nach Bad Krozingen, wo Pohrt von 1952 – 1956 die Grundschule besuchte. Pohrt und seine Familie fühlten sich aus Ausgestoßene, sie wurden beschimpft, was er 1984 in seinem Beitrag „Heimat“ aussprechen sollte. Das setzte sich fort, als er 1962 auf das Freiburger Rotteckgymnasium wechselte. Als Kind einer „unehelichen Mutter“ blieb er sozial geächtet. Ressentiments, Verachtung spürte er früh und intensiv. Für Bittermann bildete diese Erfahrung eine günstige, wenn auch schmerzhafte Grundlage, um gesellschaftliche Ressentiments und Ausschließungsprozesse zu verstehen.
Ausführlicher wird von Bittermann die Atmosphäre von 1968 und einige ihrer Epigonen beschrieben, insbesondere der früh und unglücklich verstorbene Hans-Jürgen Krahl. Pohrt selbst scheint keine zentrale Rolle in dieser seltsamen egomanischen Szene angestrebt zu haben. Später sollte er schreiben dass er sich abgestoßen gefühlt habe „vom knallharten Geschäft, in der Frankfurter Szene einen der heiß umkämpften Sitzplätze zu erobern.“
Pohrt geriet bei den zahlreichen, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen jener Jahre in Kontakt mit der Polizei: Auf einem Zeitungsfoto der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1969 ist Pohrt zu sehen, der anonymisiert als einer der „Rädelsführer“ bezeichnet wird, die von der Polizei festgenommen wurden. Pohrt besorgte sich vom Fotografen weitere Fotos seiner Festnahme, auf denen dokumentiert wird, wie Pohrt von der Polizei verprügelt wurde. Die Gewalterfahrung war für den 24-Jährigen so bedeutsam, dass er sie in seinen Unterlagen verwahrte.
In der ausgezeichnet geschriebenen, aber wegen ihrer Materialienfülle nicht immer leicht zu lesenden Werkbiografie Bittermanns werden immer wieder wichtige Grundlagentexte von Pohrt materialgesättigt eingearbeitet. Also Texte, die seinerzeit zwar größtenteils verstreut irgendwo erschienen, aber erst Jahrzehnte später durch Wiederabdrucke in den zahlreichen Büchern Pohrts wirklich greifbar wurden. Immer wieder ist das Motiv der Selbstvergewisserung Pohrts spürbar, aber auch der Versuch, bereits vergessene Lebensgefühle schreibend in Erinnerung zu rufen. Etwa seine 1972 verfasste marxistische Studie „Arbeiter und Kleinbürger“, welche zwei Jahre später unter einem Pseudonym in der Frankfurter Studentenzeitung erschien. Diese wurde erst 27 Jahre später, 2011, von Pohrt in seinem Band „Kapitalismus Forever“ unter seinem eigenen Namen publiziert.
Lesenswert sind Pohrts Ausführungen aus den 1970er Jahren über „Ohnmacht, Apathie und Wahn“, in denen er Texte über den Kleinbürger als Revolutionär verfasste. Konsequent verweigerte Pohrt jede Form von institutioneller oder gruppenförmiger Zugehörigkeit zu einem politischen Lager. Vor allem verweigerte er sich der Unsitte, irgendwelche politischen „Appelle“ zu unterschreiben. Auch der seinerzeit häufig politisch begründete Rückzug in Landkommunen oder in Wohngemeinschaften, im Sinne einer „Ablehnung“ der Welt, erschien ihm immer als äußerst befremdlich. Als er 1980, da war er 35, die Uni Lüneburg verließ verabschiedete er sich zugleich von eigenen Texten über die Revolution oder den Revolutionär. Pohrt habe ab diesem Zeitpunkt, so Bittermann, seinen Lesern keine Hoffnung mehr vermitteln wollen: Sein Resümee „lässt niemandem einen Ausweg. Seine Analyse ist existentiell und zudem pessimistisch“ konstatiert Bittermann. Nun sei seine Aufgabe, zu zeigen, „was falsch läuft, worin das falsche Bewusstsein, die Ideologie besteht.“
Immer wieder bindet Bittermann Auszüge aus Pohrts teils lebendigen, teils anstrengenden Texten in den Lesefluss ein, besonders jene, in denen Pohrt offenkundig auch eigene autobiografische Erfahrungen in direkter Weise einfließen lässt. Pohrt zweifelte mehr als andere, war unzufrieden, und sehnte sich doch noch ein wenig zurück in die wilden Zeiten der politischen Aktion – als die politische und soziale „Kritik“ vor allem „Wut über die Unmöglichkeit, menschenwürdig zu leben“ zum Ausdruck brachte, um hierdurch „die Bürger das Fürchten“ zu lehren.
Auf 60 Seiten zeichnet Klaus Bittermann in einem eigenen Kapitel die 1970er Jahre nach. Wirklich lesenswert ist hierbei die Schilderung von Pohrts Freundschaft mit Eike Geisel. Beide lehrten in Lüneburg, als „junge Wilde“, die rasch ihre Liebe zu Israel entdeckten. Es war der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“. Entgegen dem, was man heute über Eike Geisel zu wissen meint, war Geisel anfangs keineswegs ein „Freund“ oder zumindest Sympathisant des jüdischen Staates der Überlebenden. Im Gegenteil: Für Eike Geisel war der traditionelle „linke“ Antiimperialismus ein von ihm akzeptierter Erklärungsansatz, Israel erschien nun als ein imperialistischer, unterdrückender Staat.
Geisels damalige Position hierzu habe bei der Freundschaft zwischen den beiden allein schon deshalb keine Rolle gespielt, vermutet Bittermann, „weil Pohrt damals vermutlich ähnlich dachte.“ Springers Bild-Zeitung und „die Regierung“ gaben sich pro-israelisch, insofern musste dies per se zuerst einmal falsch sein, dachte ein Großteil der aufbegehrenden linken Söhne und Töchter der Nazi-Generation, Eike Geisel eingeschlossen. Mit der Nazizeit hatten sie nichts zu tun, vor allem nicht familiär.
Erst 1982 zeichnete Geisel seinen Erkenntnisprozessdetailreich nach und attackierte nun den „neuen“ Antisemitismus eines Großteils der Linken aufs Schärfste. Die von vielen Linken – bis heute – idealisierte PLO war für ihn nun wahrlich keine „Befreiungsbewegung“ mehr; diese war zuvörderst von nationalen Interessen gesteuert. Die Ernüchterung über „die“ Befreiungsbewegungen und das, was man innerhalb der Linken projektiv hiermit phantasierte und verleugnete, war bei Geisel und Pohrt riesig.
In den 1980er Jahren wurden Wolfgang Pohrts Bücher jeweils nach ihrem Erscheinen prominent in Tages- und Wochenzeitungen besprochen – mit sehr unterschiedlichen Urteilen. Seine Brillanz in der polemischen Zuspitzung wurde ihm hierbei nirgends abgesprochen. Auf ablehnende Buchbesprechungen reagierte er mit beißendem Spott. Pohrt verfügte über ein außergewöhnliches Talent, sich lebenslange Feinde zu schaffen. Selbst Bittermann konzediert bei einem geharnischten Angriff Pohrts im Jahr 1980 gegen das linke Magazin Kursbuch „das Motiv der Rache“.
Pohrt gewann und verlor parallel hierzu weitere prominente, leidlich zahlende Publikationsorte. Je treffsicherer er formulierte desto größer war die Sorge linker und liberaler Medien, ihn zu publizieren. Waschkörbeweise wurden die Redaktionen von erbosten Leserbriefen und teils auch Abokündigungen überrollt. 1982 blieb ihm fast nur noch die taz, die 1982 seine Analyse der deutschen Friedensbewegung – „Die Angst der Deutschen“ – publizierte. Pohrts Abrechnung mit dem christlich-jüdischen „Verbrüderungskitsch“ erschien in der taz, die Reaktionen fielen noch heftiger als zuvor aus. Die Zeitung ging auf Distanz. Wolfgang Pohrts scharfen Analyse und Boshaftigkeiten überschritten sogar die öffentlich verkündete taz-Liberalität und Toleranz.
Erst als 1991 der Golfkrieg begann, als prominente Friedensforscher die alliierten Luftangriffe als Verbrechen attackierten und junge sowie ins Alter gekommene Deutsche weiße Betttücher als Ausdruck ihrer Friedensbemühungen in ihre Fenster hängten, erwachte in Wolfgang Pohrt noch einmal kurzzeitig der alte Kampfgeist. Pohrt verfasste mehrere mehr als scharfe Beiträge, bei denen er kurzzeitig jede Kontrolle über seine Sprache verlor – was er wenig später bereuen sollte.
In einem offenen Brief beschrieb Pohrt das Lamentieren im „sicheren“ Deutschland über die eigene Angst, „während Israel von einem Gasangriff bedroht ist. Man faßt es einfach nicht, daß in Israel Auschwitzüberlebende mit der Gasmaske nachts unter Sirenenalarm in den Schutzraum flüchten müssen, während die Kinder und Enkel der Massenmörder von einst hier gemütlich über das Verhältnis von Erster und Vierter Welt räsonieren oder sich fröhlich auf der Bonner Hofgartenwiese tummeln und nicht die Verteidigung der bedrohten, sondern Frieden mit einem Aggressor fordern, der ohne jeden militärischen Sinn reine Bevölkerungszentren bombardiert, wie dies die Nazis in Rotterdam und Coventry taten.“ Der „Brief erschien in Konkret 3/91, und Pohrt erkannte ihn bereits kurz danach als einen Fehler, der ihm und „der Sache“ eindeutig schadete. Es soll danach zu 1000 Abokündigungen bei Konkret gekommen sein.
An Reemtsmas Hamburger Institut erhielt er einen speziell auf ihn zugeschnittenen Posten als „wissenschaftlicher Nomaden“ bzw. als „gesellschaftstheoretisierender Privatier“. Dem vorausgegangen war ein Briefwechsel mit Reemtsmas Mitarbeiter Uli Bielefeld, der einem „Arbeitskreis Sozialpsychologie“ vorstand. Pohrts Emotionen kochten angesichts des universitären Akademikers sogleich hoch. Pohrt ließ nichts unversucht, um das Projekt, das ihm seinen Lebensunterhalt sichern sollte, doch noch scheitern zu lasse: Ich will „Ihnen meinerseits ein kleines Geheimnis verraten“, schrieb er dem Soziologie-Hochschulforscher. „Forscher wird einer meist, wenn er im praktischen Leben so dämlich ist, dass er den Panzerschrank nicht mal dann aufbekäme, wenn man ihm die Kombination souffliert.“ Von solchen Leuten müsse er sich gründlich fernhalten, fügte er gegenüber dem Soziologen Bielefeld noch hinzu, „sonst brechen meine überwundenen Jugendtorheiten wieder durch und ich fange auf meine alten Tage nochmal an, im Chemie-Buch nachzulesen, wie man in der Heimküche Buttersäure und Schwarzpulver mischt.“
Die letzten 70 Seiten des Bandes sind Pohrts letzten 20 Jahren gewidmet. Hierbei gelang es dem das Abseits suchende und Beziehungen immer mehr einschränkenden genialen Stilisten sogar, sich auch noch mit seinem finanziellen Förderer Reemtsma zu überwerfen. Seine politischen Publikationen ließen immer mehr nach. Im Jahr 2000 bekam der 55-Jährige von der Fachhochschule Ludwigsburg für zwei Jahre einen Job als „Forscher in Sachen Wissensmanagement“, über den er lakonisch bemerkte, er wisse eigentlich nicht was er dort mache: „Vielleicht finde ich es nie heraus, aber es hetzt mich auch keiner.“
2016 wurde ihm von Ärzten eine unheilbare Krankheit offenbart, die Einsamkeit, „die ihn umgab, war fast körperlich zu spüren“, resümiert Bittermann . Seine Krankheit gewann die Macht über ihn. Ein Journalist spürte ihn in einem Pflegeheim auf. Freunde wie der Freiburger Joachim Bruhn kümmerten sich um ihn und feierten mit ihm das Erscheinen der ersten beiden Bände seiner Werkausgabe. Nach zwei Jahren fiel Wolfgang Pohrt – wie ja zuvor auch Eike Geisel – in ein Koma, Ende 2018 verstarb er.
Klaus Bittermann: Der Intellektuelle als Unruhestifter. Wolfgang Pohrt. Eine Biographie. Berlin: Edition Tiamat (Reihe Critica Diabolis) 2022, 678 S., hier bestellen.