Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt kam es bereits im November 2017 in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz zu einer Personalie, die zunächst unspektakulär scheint, bei näherer Betrachtung aber sehr nachdenklich stimmt. Erst eineinhalb Jahre nach der Landtagswahl vom März 2016 kam es am 29. November 2017 zur konstituierenden Sitzung des Kuratoriums der Landeszentrale für politische Bildung in Rheinland-Pfalz (vgl. Rheinpfalz). Dieses 16-köpfige Gremium setzt sich aus acht Mitgliedern des Landtags und acht von diesen vorgeschlagenen Personen aus dem öffentlichen und wissenschaftlichen Leben zusammen und kommt drei- bis viermal im Jahr zusammen, um über die politische Ausgewogenheit der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) zu wachen. Der Grund für die ungewöhnliche Verzögerung von eineinhalb Jahren zwischen Landtagswahl und Konstituierung des Kuratoriums waren letztlich erfolglose Versuche insbesondere der Grünen, eine Personalentscheidung zu verhindern. Stein des Anstoßes war der auf Vorschlag der AfD ernannte Historiker Dr. Stefan Scheil, der im Landesvorstand der AfD sitzt und 2017 für diese Partei erfolglos als Direktkandidat bei der Bundestagswahl antrat. Dass dieser Widerstand nicht unbegründet war, zeigt sich bei näherer Betrachtung.
Ein Vertreter politisierter Geschichtswissenschaft
Der freiberufliche Historiker und Publizist Stefan Scheil forscht und schreibt vor allem über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Seine Thesen zu dieser Epoche sind in der Fachwelt allerdings hoch umstritten und werden fast durchweg als politisch motivierte und selektive Geschichtswissenschaft abgelehnt. So gehört er zu den wenigen Historikern, die heute noch den Überfall-Charakter des deutschen Angriffs auf Polen 1939 bestreiten und den deutschen Angriffskrieg von 1941 gegen die Sowjetunion („Operation Barbarossa“) zu einem Präventivkrieg umzudeuten versuchen. Sein Hauptanliegen dabei ist, die deutsche Kriegsschuld zu relativieren, indem er den Zweiten Weltkrieg als das Ergebnis einer Eskalation darstellt, für die das Machtstreben und das diplomatische Versagen der europäischen Großmächte und Polens sowie die hegemonialen Ambitionen der USA und der Sowjetunion genauso verantwortlich gewesen sein sollen wie die deutsche Nazidiktatur. In diesem Zusammenhang unterstellt er dem britischen Premierminister Winston Churchill sogar gezielte Kriegstreiberei.
Mit diesen Thesen stellt Scheil sich außerhalb der seriösen Geschichtswissenschaft, die Urteile seiner Fachkolleg*innen fallen dementsprechend vernichtend aus. Ihm werden neben mangelnden Archivstudien eine selektive Auswahl und voreingenommene Interpretation von Quellen und Sekundärliteratur vorgeworfen. Der Historiker Wolfgang Michalka wirft ihm vor, an Quellen nur das zu berücksichtigen, „was seinem Verständnis von Geschichte entspricht“, und sein Kollege Lothar Kettenacker urteilt über Scheils Biografie zu Ribbentrop, dass dort „das ganze Spektrum nationalistischer Geschichtsklitterung aufgefächert“ wird. Über Scheils Churchill-Buch, in dem dem britischen Premier ein Gutteil der Kriegsschuld angedichtet wird, schreibt Rainer F. Schmidt, dass die Lektüre zu einem „Ärgernis“ wird, wenn der Autor „disparat von einem Handlungsstrang zum nächsten springt, Behauptungen aufstellt, die auf Situationen projiziert werden, die von anderen Parametern bestimmt wurden, und objektive Tatsachen ausblendet.“ Besonders deutlich in seinem Urteil ist Hans-Adolf Jacobsen, für den Scheil „einer jener schwer Belehrbaren [ist], die vor allem Hitler und seine Helfershelfer exkulpieren und etwas von der drückenden Hypothek der Deutschen nach 1945 abtragen wollen.“ Wolfgang Benz, ehemaliger langjähriger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und einer der angesehensten Kenner der Geschichte des Dritten Reichs, fasst diese Kritik 2014 zusammen: Stefan Scheil sei ein Historiker, dem „Geschichte nur als Rohstoff für weltanschauliche Konstrukte“ diene. Sein „eigentliches Metier“ im Dienste geschichtspolitisch motivierter Umdeutungen sei die „Spekulation im Gewande von Geschichtsphilosophie. Mit steilen Thesen, die mühsam aus Quellen erarbeitete und belegte Erkenntnisse der zünftigen Geschichtswissenschaft rechts überholen, lassen sich Sehnsüchte eines national gesinnten Publikums befriedigen und Beifall am Stammtisch gewinnen.“
Der Haushistoriker der völkischen Kreise von Schnellroda
Dieses national gesinnte Publikum, das seine revisionistischen Thesen begierig aufnimmt, findet Scheil im publizistischen Umfeld des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek aus dem thüringischen Schnellroda. In dessen „Antaios“-Verlag erscheinen seine Bücher, im hauseigenen rechtsintellektuellen Theorieorgan „Sezession“ veröffentlicht Scheil regelmäßig Artikel und in den mittlerweile gut besuchten Akademien des Instituts für Staatpolitik (IfS) tritt er regelmäßig als Referent auf, das nächste Mal bereits am 18. November dieses Jahres. Kritische Einwände braucht er in diesen völkisch-nationalistischen Kreisen, in denen man die liberale Demokratie für die Wurzel allen Übels hält und von einer deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg nichts wissen will, nicht zu fürchten. In einem Interview in der Onlineausgabe der „Sezession“ von 2014, das er mit niemand Geringerem als Kubitschek persönlich geführt hat, geriert Scheil sich als integren Kämpfer für die historische Wahrheit, der „auch unbequeme und vielleicht sogar unerwünschte historische Tatsachen“ aufdecke. Von diesen gebe es noch viele, da ja die Historikerzunft in der Bundesrepublik nicht in der Lage sei, „ein zutreffendes Bild über die Weltkriegsära zu entwickeln.“ Mit diesem anmaßenden Gestus werden dann Kritiker seiner fragwürdigen Präventivkriegsthese auch mal als „Stalins westliche Apologeten“ diffamiert.
Dieses seltsam entrückte, fast schon bizarr anmutende rechthaberische Gehabe eines Publizisten, den außerhalb der völkischen Filterblasen ohnehin kaum jemand ernst nimmt, wäre nicht weiter von Belang, wenn dieser Mann nicht dank der AfD als Mitglied des Kuratoriums der LpB Rheinland Pfalz Einfluss auf die politische Bildung dort nehmen würde. Aus den auf seiner Website veröffentlichten „Anmerkungen zum Tätigkeitsbericht der Landeszentrale für politische Bildung in Rheinland-Pfalz für 2017“ geht sehr anschaulich hervor, dass er seine revisionistische Grundhaltung mit Elan in seine Kuratoriumstätigkeit einbringt und fleißig darum bemüht ist, seinen Teil an der Diskursverschiebung nach rechts beizutragen. So sei etwa der semantisch präzise Oberbegriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit lediglich ein „linkspopulistischer Agitationsbegriff“, EU und UNO arbeiteten an einer „ethnischen Neustrukturierung des Kontinents“ – was nichts anderes als eine gehobenere Umformulierung des rechtsextremen Kampfbegriffs der „Umvolkung“ ist – und der Islam sei selbstredend eine gefährliche „Ideologie“, deren Anhänger „eine schleichende Form der Verfassungsgefährdung“ darstellten. Der Vorwurf des antimuslimischen Rassismus sei dementsprechend untauglich, da der Islam eine Bekenntnis-, keine Abstammungsgemeinschaft sei – dass es sich dabei um einen kulturalisierten Rassismus handelt, der sich hinter einer Kritik an religiösen und kulturellen Praktiken versteckt, aber auf Menschen anderer Hautfarbe abzielt, wird von ihm unterschlagen. Das allein disqualifiziert ihn eigentlich schon für eine Tätigkeit im Bereich der politischen Bildung. Allerdings wird dieses typische AfD-Framing noch durch Aussagen überboten, die im Zusammenhang mit den erinnerungspolitischen Aufgaben einer LpB nicht anders denn als skandalös bezeichnet werden können.
Die Aufarbeitung historischer Verbrechen kritisiert er als „Belästigung“
Scheils Ausführungen unter dem Stichwort „Gedenkarbeit“ lesen sich praktisch wie die Ausformulierung von Björn Höckes berühmt-berüchtigter Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad.“ So kritisiert er die Konzentration der Tätigkeit der LpB auf die Aufarbeitung der durch Deutschland begangenen historischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gerade mit Blick auf die Gedenkarbeit im schulischen Kontext mit Jugendlichen und verweist dazu auf deren Recht, „nicht im Anklagemodus von vergangenen Verbrechensgeschichten belästigt zu werden, mit denen weder sie, noch – zumal in Migrationszeiten – oft genug ihre Vorfahren etwas zu tun haben.“ In diesem Zusammenhang fordert er allen Ernstes, dem Grundsatz des „friedewirkenden Vergessens“, das ein völkerrechtliches Prinzip des 17. bis 19. Jahrhunderts war und etwa bei Friedensschlüssen zur Anwendung kam, wieder mehr Beachtung zu schenken. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Der Historiker Stefan Scheil, Mitglied im Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung in Rheinland-Pfalz, sieht im „Grundsatz des Vergessens“ ein „unverzichtbares Element europäischer Erinnerungskultur“ und warnt vor einem „Übermaß an Konfrontation mit der Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus“, weil dies gerade mit Blick auf die jüngeren Generationen nicht nur eine „Belästigung“, sondern auch „der Herausbildung politischen Selbstbewusstseins nicht förderlich“ sei.
Dass Scheil im von deutschem Boden ausgegangenen Menschheitsverbrechen des Holocaust nur ein historisches Unrecht neben anderen sieht und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hinsichtlich ihrer erinnerungspolitischen Relevanz mit anderen antiliberalen und autoritären Ideologien der Vergangenheit und Gegenwart auf eine Stufe stellt, geht auch aus einem offenen Brief vom 19. Juni 2018 hervor. Dort spricht er von der „heutigen politischen Schieflage, die sich am Nationalsozialismus auf alle denkbaren Arten abarbeitet, gegenüber sämtlichen anderen Formen antidemokratischen Denkens in linksextremistischer oder auch muslimisch-religiöser Form aber weitgehend indifferent ist.“ Die Fokussierung auf die Verbrechen der Nazizeit ist für Scheil nicht etwa Ausdruck einer besonderen Verantwortung Deutschlands für seine historischen Verbrechen, sondern Folge einer „bedauerlichen“ gesellschaftlichen Fehlentwicklung, deren Beginn er in die 1970er Jahre datiert. Auf diese Weise relativiert er diese Verantwortung, auch wenn er zuvor betont, dass die AfD „selbstverständlich“ zu dieser Verantwortung stehe. Als Beleg dafür dient ihm ausgerechnet die geschichtspolitisch entlarvende Rede von Alexander Gauland vom 2. Juni 2018, in der dieses (aus Gaulands Mund ohnehin unglaubwürdige) Bekenntnis sofort relativiert wird durch die geschichtsvergessene Bemerkung, „Hitler und die Nazis“ seien lediglich ein „Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Offensichtlich arbeitet Scheil daran, dieses unsägliche Diktum Gaulands in erinnerungspolitische Realität umzusetzen.
Wehret den Anfängen!
Der tatsächliche Einfluss des Kuratoriumsmitglieds Stefan Scheil ist letztlich (glücklicherweise) sehr begrenzt. Dennoch sollte man den Symbolwert dieser Personalie nicht unterschätzen. Einmal mehr zeigt sich hier die Scharnierfunktion, die die AfD für die extreme Rechte in Deutschland ausübt. Bereits im Januar 2018 wurde bekannt wurde, dass der Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik, Erik Lehnert, Büromitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten ist (vgl. BTN). Mit Scheil hat auf Vorschlag der AfD nun ein weiterer Vertreter dieses völkischen Thinktanks, der sich als neurechte Avantgarde versteht, unmittelbaren Zugang zu sensiblen staatlichen Institutionen erhalten. Von einem drohenden „Marsch durch die Institutionen“ zu sprechen, wäre in diesem Zusammenhang verfrüht – man würde den Völkischen mehr Bedeutung beimessen, als ihnen zukommt. Wenn aber ein Geschichtsklitterer wie Scheil, der ernsthaft für das Vergessen von Deutschland verantworteter historischer Verbrechen eintritt, mit Fragen der politischen Bildung betraut wird, müssen die Alarmglocken der demokratischen Zivilgesellschaft läuten. Es bleibt zu hoffen, dass dieser veritable Skandal die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient.
(Aktualisiert am 20.11.2018)