Antisemitismus ist Alltag. Ob in der Schule, im Beruf, auf der Straße oder im Internet: Jüdinnen*Juden sind täglich damit konfrontiert. Die Kampagne zu den diesjährigen Aktionswochen gegen Antisemitismus machte genau darauf aufmerksam. Denn jeden Tag müssen jüdische Einrichtungen geschützt werden, jeden Tag müssen sich Jüdinnen*Juden fragen, ob es sicher ist, mit Davidstern-Kette oder Kippa aus dem Haus zu gehen.
Am 7. Oktober verschärfte sich die Situation noch zusätzlich. Die Terrororganisation Hamas griff Israel an, tötete mehr als 1.200 Menschen und verschleppte über 240 in den Gazastreifen. Seitdem kommt es weltweit, auch in Deutschland, vermehrt zu antisemitischen Vorfällen.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) veröffentlichte Ende November einen Bericht zu antisemitischen Vorfällen zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November 2023. Deutschlandweit wurden von RIAS fast 1.000 Vorfälle aufgenommen und verifiziert. Das stellt einen enormen Anstieg dar.
„Rechnerisch ereigneten sich in den ersten 34 Tagen seit Kriegsbeginn 29 antisemitische Vorfälle pro Tag in Deutschland. Im Vergleich: 2022 waren es im Jahresdurchschnitt knapp sieben Vorfälle pro Tag. Somit liegt die Zahl im Berichtszeitraum um 320 % höher als im Jahresdurchschnitt 2022.”
Die Vorfälle, die von den Meldestellen aufgenommen werden, clustern sich in verschiedene Vorfallstypen. „So sind unter den 994 verifizierten antisemitischen Vorfällen 3 Fälle extremer Gewalt, 29 Angriffe, 72 gezielte Sachbeschädigungen, 32 Bedrohungen, 4 Massenzuschrift und 854 Fälle verletzenden Verhaltens (davon sind 177 Fälle antisemitische Versammlungen).”
Die Aktionswochen gegen Antisemitismus führen ebenfalls eine Chronik zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland, um dafür eine Öffentlichkeit und ein Bewusstsein zu schaffen. Die Chronik hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist somit auch nicht repräsentativ. Dennoch beobachten auch die Aktionswochen einen Anstieg. Die folgenden Vorfälle sind dafür nur Beispiele:
12. Oktober 2023, Cottbus
Vor einem Gymnasium in Cottbus hat eine Gruppe von vier bis fünf Jugendlichen andere Jugendliche nach ihrer politischen Einstellung befragt und rechte Sticker verteilt. Dabei fielen auch immer wieder antisemitische Äußerungen wie „Juden abstechen” und „Geht zurück auf eure Judendisko”.
20. Oktober 2023, Gelsenkirchen
Nach einer Palästina-solidarischen Demonstration in Gelsenkirchen griffen Teilnehmende eine Person mit einer Fahnenstange und Reizgas an.
26. Oktober 2023, Hannover
In der Gedenkstätte Ahlem in Hannover waren zahlreiche rechte und antisemitische Sticker zu finden. Unter anderem klebten einige der Sticker an der „Wand der Namen”, wo die Namen von Verfolgten eingraviert wurden.
29. Oktober 2023, Nürnberg
An die Fassade eines israelischen Restaurants wurde ein knapp zwei Quadratmeter großer Davidstern und eine beleidigende Formulierung gesprüht.
9. November 2023, Mainz
In Mainz beschmierten Unbekannte drei Stolpersteine, die an Opfer der Shoah erinnern, mit schwarzer Farbe. In Gedenken an die Novemberpogrome lagen Blumen neben den Steinen, die die Unbekannten zusätzlich stahlen.
13. November 2023, Gommern
Unbekannte schändeten den jüdischen Friedhof in Gommern bei Magdeburg. Am Eingangstor beschmierten die Täter Davidsterne mit antisemitischen Schriftzügen. Außerdem fand die Polizei eine an einen Gedenkstein angelehnte Schreckschusswaffe.
23. November 2023, Gera
Der Stolperstein, der an einen NS-Gegner und katholischen Priester erinnert, wurde mit einem Hakenkreuz beschmiert. Da Stolpersteine größtenteils als Erinnerungszeichen für Jüdinnen*Juden, die während der Shoah verfolgt und vernichtet wurden, wahrgenommen werden, werten wir diesen Vorfall als antisemitisch.
Viele Vorfälle nehmen die aktuelle Situation zum Anlass, zum Beispiel wenn israelische Fahnen vor Rathäusern oder die Plakate der Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt wurden, abgerissen und beschmiert werden. Außerdem zeigen die Vorfälle exemplarisch, wie sich Antisemitismus seit dem 7. Oktober auswirkt und machen deutlich, dass sich diese Angriffe konkret gegen Jüdinnen*Juden, den Staat Israel oder die Erinnerung an die Shoah richten. All dies sind klassische Erscheinungsformen von Antisemitismus, die gerade Tag für Tag mehr werden. Das alles geschieht in einem Klima, in dem die Erinnerungskultur ohnehin bereits unter Beschuss steht, schon lange von Rechtsextremen, in jüngerer Zeit auch immer wieder von antikolonialer Seite. „Free Gaza from german guilt”, heißt es jetzt auf Demonstrationen und in Hörsälen.
Im Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus #12, das die Aktionswochen gegen Antisemitismus am 7. November veröffentlichten, geht es um diese „Angriffe auf die Erinnerung”. Also um die Rufe nach einem Schlussstrich, die sowohl von der extremen Rechten als auch von antizionistischen Historiker*innen verbreitet werden. Im Lagebild werden diese Rufe aufgezeigt, analysiert und problematisiert. Es zeigt sich: Jede Form von Antisemitismus enthält den Ruf nach dem Schlussstrich , sichtbar wird das unter anderem bei den zahlreichen Angriffen auf Gedenkstätten und weitere Erinnerungsorte.
Auch im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus, die im gleichen Zeitraum wie der Bericht von RIAS stattfanden, zeigte sich die Zunahme von und die Angst vor antisemitischen Vorfällen. Veranstaltungen, die im Rahmen der Aktionswochen stattfinden sollten, mussten abgesagt oder verschoben werden. Einige Veranstaltungen fanden auf Wunsch nur noch ohne Ankündigung oder Veranstaltungswerbung oder unter Polizeischutz statt. Auch in Bezug auf die Kampagne der Aktionswochen zeigte sich Hass auf Jüdinnen*Juden und auf Israel: Etliche Plakate, selbst die ohne direkten Bezug zu Israel, wurden abgerissen oder beschmiert.
Die Lage ist desaströs: für Jüdinnen*Juden und auch für alle, die sich gegen Antisemitismus engagieren und ihn bekämpfen wollen.
Gerade in der aktuellen Situation und den fast 1.000 verifizierten antisemitischen Vorfällen seit dem 7. Oktober in Deutschland bleibt es enorm wichtig, sich gegen Antisemitismus zu engagieren und sich solidarisch mit Jüdinnen*Juden weltweit zu verhalten. Das bedeutet auch, antisemitische Vorfälle bei RIAS zu melden. Für die Veröffentlichung eines realistischen Bildes von antisemitischen Vorfällen ist es für die Meldestellen von großer Bedeutung, mit Betroffenen oder Zeug*innen zusammenzuarbeiten.
Antisemitismus ist vor dem 7. Oktober schon alltäglich gewesen und zeigt sich nun noch einmal stärker. Dagegen müssen alle an 365 Tagen im Jahr aktiv werden. Diese Verantwortung tragen wir gemeinsam.