Die Verschwörungsideologie, die in den vergangenen Jahren zur Grundlage von Putins und Russlands politischem Handeln geworden ist, ist die: Die Vereinigten Staaten von Amerika hätten ein einziges Ziel: Russland zu vernichten, oder es zumindest zu destabilisieren, es auszurauben, es bedeutungslos zu machen. Die USA, so die Erzählung, stecke hinter dem Maidan, sie stecken hinter der Vergiftung Alexej Navalnys, ebenso hinter den Protesten in Belarus. Die aktuelle Regierung der Ukraine sei genauso durch die USA gelenkt wie die gesamte EU – diese Erzählung wird verbreitet von den staatlich kontrollierten Medien, und auch durch amtierende Politiker wie Wladimir Putin, Dmitrij Medvedev oder Sergej Lavrov. Das Narrativ erfüllt alle Merkmale von Verschwörungsideologien: Es projiziert alles Schlechte und Böse auf einen als moralisch degeneriert und gleichzeitig überragend mächtig vorgestellten Feind (die USA), es stellt die offizielle Version von politischen Institutionen infrage (etwa dass die EU, einzelne EU-Staaten und sogar einzelne Politiker:innen ausschließlich durch die USA gelenkte Entscheidungen treffen) und es “verbindet die Punkte” (so ein beliebter Verschwörungsgläubigen-Satz) – es bringt zusammen, was nicht zusammen gehört.
Verschwörungsideologische „Begründung“: Die USA sei an allem Schuld
Mit dieser Verschwörungsideologie hat die aktuelle Aggression von Putins Russland in der Ukraine angefangen und so wird sie auch nach wie vor erklärt: Nicht Russland greift an, sondern Russland wird angegriffen, und zwar von den USA, die wie Puppenspieler die Fäden bei diesem Krieg zögen. So beschreibt die Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei, Nina Ostanina, im Interview mit TV Rain (Dozhd’) am 27. Februar 2022 die Ereignisse: “Es war unsere Fraktion, die die Anfrage an den Präsidenten initiiert hat, die Donetzker und Luhanser Volksrepubliken anzuerkennen. Wie dem auch sei, es war eine Chance für die andere Seite. Ich meine nicht nur die Ukraine, sondern auch all die, die heute die Puppenspieler von Präsident Zelenskij sind. […] Wir können nicht zulassen, dass NATO-Stützpunkte nicht nur neben, sondern auf unserer Grenze stationiert werden und uns alle gezielt einnehmen.”
Ähnlich äußert sich ein Abgeordneter von „Einiges Russland“, Nikolaj Alekseenko: “Das wichtigste ist es jetzt, zu einem Verhandlungsprozess zu kommen, zu einem Frieden. Dabei muss man eine einfache Sache verstehen – wer von dieser Geschichte profitiert. Von ihr profitieren nicht das russische Volk und auch nicht das ukrainische Volk, auch die europäischen Länder profitieren nicht davon. Von ihr profitiert im Großen und Ganzen ein einzelner Staat, und der befindet sich auf der anderen Seite des Ozeans.”
Die vermeintliche Kontrolle der Welt
Verschwörungsideologie funktioniert nicht ganz genauso wie Falschnachrichten. Es gibt vielmehr Falschnachrichten, die auf einem verschwörungsideologischen Weltbild beruhen. Dieses Weltbild beinhaltet eine bestimmte Vorstellung von der Welt: Dass die Welt sich in ein “Die“ und ein “Wir“ teilt, dass “Die“ eine bösartige, gierige, perverse Macht sind, die für alles Schlechte in der Welt zuständig ist und die “Uns“, die Guten, die Moralischen, die “Normalen“, zerstören will. In der Verschwörungsideologie ist “die böse Macht“ so verkommen wie allmächtig, sie kontrolliert die gesamte Welt – eine Vorstellung, in der die Idee steckt, die Welt sei überhaupt kontrollierbar. Wer glaubt, „die Welt“ könnte kontrolliert werden, der möchte es selbst gern tun. Im Moment, so die Verschwörungsideologie, kontrollieren „die Bösen“ die Welt, aber wenn “Wir“, die Guten, sie besiegen, dann können auch “Wir“ die Welt kontrollieren, und sie wird wieder so, wie “Wir“ sie uns vorstellen.
Dieses verschwörungsideologische Weltbild verbreiten heute nicht nur führende Politiker:innen Russlands, vielmehr wird es auch von einem Teil der Bevölkerung geteilt. Verlässliche Zahlen zu Verschwörungsmentalität in der russischen Bevölkerung gibt es nicht, aber eine Umfrage vom Levada Center aus dem Jahr 2020 bietet erste Anhaltspunkte. Darin sagen 80% der Russ:innen, sie glaubten, Russland hätte Feinde, 70 % davon sagen, dieser Feind seien die USA. In den russischsprachigen Communities in Deutschland – immerhin leben hierzulande fast drei Millionen russisch sprechende Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge – ist ein ähnlicher Effekt beobachtbar.
Feindbildkonstruktion
Autoritäre und antidemokratische Regime gehen häufig einher mit verschwörungsideologischen Weltbildern. Dieses bietet für ein autoritäres Regime handfeste Vorteile: Probleme, die auftauchen, haben keine komplexen Ursachen, sondern immer Schuldige, und diese Schuldigen sind immer die gleichen. Gut beobachten kann man dies an dem bis ins Absurde getriebenen Gesetz über die “Ausländischen Agenten“ – einen Titel, den sich Medien, NGOs und Privatpersonen geben müssen, wenn sie unabhängige Informationen vertreiben und durch Putins Regierung bezichtigt werden, ihr Geld im Ausland zu verdienen. Teilweise handelt es sich um wenige Euro oder Geldgeschenke von Freund:innen – egal. Wer nicht mit “uns“ ist, ist gegen “uns“, und wer gegen uns ist, ist mit “denen“, also den USA, also: ein ausländischer Agent. Eine eiserne, verschwörungsideologische Logik, die wir von der extremen Rechten aus Deutschland kennen: Pädophile Sexualstraftäter sind böse, wir sind gegen pädophile Sexualstraftäter – also sind wir die Guten, und wer gegen uns ist, ist böse, findet also pädophile Sexualstraftäter gut.
Extrem vereinfachtes, schematisches und dualistisches Weltbild
Mit dem extrem vereinfachten, schematischen und dualistischen Weltbild in der Verschwörungsideologie geht auch eine Konstruktion von homogener Identität einher: nicht nur die des Feindes, sondern auch die eigene. In Zeiten von sich auflösenden Zugehörigkeiten und festen Rollenbildern, bedient diese Form von Identitätskonstruktion den regressiven Wunsch nach Klarheit, Ordnung und Unveränderbarkeit. Komplexe und emanzipatorische Identifikationen werden durch die russische Staatsdoktrin abgelehnt: Die traditionelle Familie als höchster Wert wurde im vergangenen Jahr in die Verfassung geschrieben, Sensibilität gegenüber Gender-Identitäten und verschiedenen sexuellen Orientierungen wird als ein Phänomen des westlichen Verfalls gehandelt und abgelehnt. In Russland “dürfen noch alle normal sein“.
Diese Welt- und die Selbstkonstruktion sind in hohem Maße manipulativ, sie sprechen die Emotionen von Menschen an und machen sie manipulierbar. Nicht zuletzt – und das ist der überaus gefährliche Part – legitimiert Verschwörungsideologie Gewalt gegenüber dem als bösartig empfundenen Feind. Wer davon ausgeht, dass der Feind ihn zerstören will, der hält es auch für legitim, diesen Feind zu töten. Wenn also nun in der Ukraine Menschen durch die Waffen von russischen Soldaten sterben, dann wird es damit legitimiert, dass sie alle zugleich boshafte Nazis und Marionetten in den Händen des US-amerikanischen Aggressors seien.
Verschwörungsideologie ist sehr konsistent. Jede:r, der:die schon einmal mit einer Person zu diskutieren versucht hat, die Verschwörungsideologien vertritt, hat es selbst erlebt. Gegen Verschwörungsideologie helfen keine Fakten-Checks. Und spätestens, wenn die Ideologie menschenverachtend wird, Gewalt verherrlicht und zulässt, dass Menschen sterben, hat sie den Anspruch auf Toleranz verwirkt. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine angefangen hat, geht auf eine in der russischen Gesellschaft (in Russland, Deutschland und anderswo) wirkmächtige Verschwörungsideologie zurück. Wie lange dieser Krieg geht und wie weit er führt, das hängt auch davon ab, wie erfolgreich der Kampf gegen diese Verschwörungsideologie sein wird.
Politisch wird der Kampf gegen Putin und seine Armee mit Waffen, Sanktionen und Ausschlüssen geführt. Viel komplizierter ist es mit den Menschen, die das Weltbild teilen und damit das System stützen — der unmögliche Dialog mit einer Gesellschaft von Menschen, die Gewalt an anderen verschwörungsideologisch legitimieren wird zur Zerreißprobe für die Welt. Hoffen wir, dass wir bald einen Weg dafür finden, bevor es für immer mehr Menschen zu spät ist, die in diesem blutigen und sinnlosen Krieg ihr Leben lassen.