Moosgrüne Parteifahnen wehen im Wind, Rechtsrock dröhnt aus zwei Lautsprechern, die durch eine leichte Böe am sonst sonnigen Tag umfallen. Es ist der 1. Mai in Zwickau und die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ will demonstrieren. Auf einem abgeriegelten Parkplatz nördlich der Altstadt versammeln sich knapp 300 Partei-Kader mit Bockwurst auf Bierbänken. „Nazi Bande“ steht auf dem T-Shirt eines Rechtsextremen. Ein bekannter Neonazi trägt ein Tattoo von KZ-Häftlingen. Auch Bezüge zu rechtsextremen Gruppen in der Ukraine wie „Asow“ oder „Misanthropic Division“ sind zu sehen.
Schon vor dem rechtsextremen Aufmarsch wird der Tag von Gewalt überschattet. Bei der Anreise werden Gegendemonstrant:innen in Chemnitz und Glauchau von Neonazis mit Steinen und Flaschen attackiert, zwei werden dabei leicht, eine Person wird schwer verletzt. Ein uniformierter „III. Weg“-Anhänger zeigt den Hitlergruß. Erst später rückt die Polizei an und nimmt nach eigenen Angaben 37 Rechtsextreme in Gewahrsam. Ein Teil der Angreifergruppe darf aber offenbar nach Zwickau weiterreisen und am Aufmarsch teilnehmen. Später wird die Polizei Sachsen in einer Pressemitteilung schreiben, es sei lediglich „zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen Personen aus verschiedenen politischen Lagern“ gekommen.
„Wir fühlten uns total bedroht und hatten damals wenig Vertrauen in die Polizei“
Die Angriffe am 1. Mai reihen sich ein in eine erschreckend lange Liste rechtsextremer Gewalttaten in Sachsen seit der Wende. Einer, der diese Gewalt am eigenen Leib zu spüren bekommen hat, ist Sebastian Reißig aus Pirna. Als die Mauer fällt, ist er zwölf. Die Jahre, die folgen, werden später als „Baseballschlägerjahre“ in die Geschichte eingehen. „Das war schon krass“, erinnert sich Reißig an diese Zeit zurück: „Natürlich gab es nach der Wende eine Aufbruchsstimmung. Aber auf der anderen Seite gab es in den 1990er Jahren in Sachsen auch sehr viel rechte Gewalt“. Pirna war damals ein Hotspot.
Reißig sitzt an der Elbe, die Sonne scheint, ein Dampfer fährt vorbei. Nicht weit von dieser Stelle am Ufer saß er Ende der Neunziger mit Freunden, bevor eine Gruppe von rund 15 Skinheads aus der Neonazi-Szene sie zusammenschlug. Ein gezielter Überfall, der seinen Freundeskreis lange beschäftigte. „Wir fühlten uns total bedroht und hatten damals wenig Vertrauen in die Polizei“, erzählt er. Rechtsextreme Gewalt mündete ab Ende der 1990er Jahre auch in parlamentarischen Erfolgen, 2004 gewann die NPD bei den Landtagswahlen in diesem Wahlkreis 11,8 Prozent. „Es blieben damals nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir machen hier was oder wir ziehen weg.“
Viele sind weggezogen, doch Reißig ist geblieben. Dass sich die Lage in Pirna über die Jahre zum Teil verbessert hat, ist auch seiner Arbeit in der „Aktion Zivilcourage“ zu verdanken. 1998 gründete er den Demokratieverein mit Freunden, heute ist er Geschäftsführer. Das Team bietet gesellschaftspolitische Bildungsarbeit an, gibt Workshops für Kommunen, Schulen und Polizei zu Themen wie Rechtsextremismus und Hass im Netz. Mit Schulklassen organisieren sie auch Besuche bei der NS-Gedenkstätte in Pirna, die an die Euthanasie-Verbrechen erinnert. Eine Stelle für ein Freiwilliges Soziales Jahr, die von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird, ermöglicht den Einstieg in Demokratiearbeit für die nächste Generation. Dabei gibt es noch einiges zu tun: Rechtsextreme Gewalt mag hier laut Reißig zwar rückläufig sein, bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in Pirna mit knapp 30 Prozent jedoch stärkste Partei. Im Umland holte sie teilweise mehr als 40 Prozent. Im Juni finden in Sachsen Landratswahlen statt. Das rund 60 Kilometer entfernte Bautzen könnte dann den ersten AfD-Landrat Deutschlands bekommen.
Ein Schlaglicht auf die Zustände der Region werfen
Einen Tag nach dem „III. Weg“-Aufmarsch in Zwickau taucht einer der Angreifer vom Bahngleis in Glauchau an anderer Stelle wieder auf: Im etwa 200 Kilometer Luftlinie entfernten Görlitz betreut er einen Stand der neuen rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“, am Rande der wöchentlichen Demonstration der Coronaleugner:innen. Demokratiefeind:innen unter sich. Er ist ein bekannter Neonazi aus Döbeln und war bis 2019 Stadtrat für die NPD. Am Parteistand trägt er dieselbe Kleidung, die er beim Angriff anhatte. So sicher fühlt er sich offenbar in Sachsen. „It’s just another magic Monday“ plärrt aus einem Lautsprecher, als mehrere Hundert Menschen durch die malerische Stadt laufen – ein „Spaziergang“ gegen „Zwangsimpfung“ und „Coronadiktatur“.
Auch Görlitz war früher ein Hotspot rechtsextremer Gewalt. „Bereits zu DDR-Zeiten haben wir Auseinandersetzungen mit Nazis gehabt“, erzählt Thomas, gebürtiger Görlitzer und früherer Punk, der eigentlich anders heißt und aus Sicherheitsgründen lieber anonym bleiben möchte. In den Jahren nach der Wende sei es fast jedes Wochenende zu Schlägereien mit Nazis gekommen, nicht nur in Görlitz, sondern auch in Zittau und Löbau: „Mit bis zu 50 Menschen, die mit Glasflaschen, Gaspistolen und Zaunlatten bewaffnet waren“, erinnert sich Thomas. Auf die Grenzöffnung zu Polen 1990 folgten in der Stadt rassistische Ausschreitungen. „Die Nazis haben immer wieder versucht, Polinnen und Polen anzugreifen“, sagt der heute 49-Jährige, als er eine Zigarette dreht. Laut einer Pressemeldung von damals versuchten 100 Rechtsextreme den Grenzübergang zu stürmen.
Der Vorfall ist der erste von bis heute fast 700 erfassten Fällen, dokumentiert in der Chronik von „15grad-research“. Thomas hat das von der Amadeu Antonio Stiftung geförderte Monitoring-Projekt 2021 mitinitiiert: „Wir wollen eine Zustandsbeschreibung von allen möglichen Ausgrenzungsformen journalistisch aufzeigen – seien sie rechtsextrem, rassistisch oder antisemitisch.“ Dafür wühlt sich das Team akribisch durch Zeitungsarchive und Polizeimeldungen, hinzu kommen Hintergrundartikel mit Analysen. So werfen sie ein wichtiges Schlaglicht auf die Zustände in der Region.
An diesem Montag, dem 2. Mai, laufen Rechtsextreme und Coronaleugner:innen nicht nur in Görlitz, sondern sachsenweit. Am Großen Garten in Dresden versammeln sich ebenfalls ein paar Hundert Menschen zum „Spaziergang“. Sie sind „Querdenker“, AfD-Funktionäre, Pegida-Anhänger:innen und Mitglieder der „Freien Sachsen“. An der Spitze der Demonstration: eine Leichenpuppe mit Spritzen im Bauch. Der Mann, der sie trägt, hat ein Valknut-Tattoo am Arm – ein beliebtes Symbol in der rechtsextremen Szene. Das Thema Coronavirus hat die seit 2014 immer montags stattfindenden Pegida-Aufmärsche inzwischen aus dem Demokalender verdrängt. Gewaltbereite Rechtsextreme gehören aber nach wie vor zur Stammklientel – wie heute etwa zwei Mitglieder der Telegram-Gruppe „Dresden Offline-Vernetzung“, in der Anleitungen für Terroranschläge und Sprengstoffbeschaffung geteilt wurden und die Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer geschmiedet haben soll.
„Weite Teile der Gesellschaft akzeptieren Rassismus, sie verbreiten Verschwörungsideologien“
Am Rande der Demonstration steht Annalena Schmidt mit einem Softeis. Die 35-jährige Historikerin kennt sich mit der extremen Rechten in Sachsen bestens aus. Ursprünglich aus Hessen zieht sie Ende 2015 nach Bautzen. Dort wird sie schnell mit den „sächsischen Verhältnissen“ konfrontiert: „Weite Teile der Gesellschaft akzeptieren Rassismus, sie verbreiten Verschwörungsideologien – und die demokratische Mehrheit schweigt. Dadurch bekommen rechtsextreme Gruppen Aufwind und ein Gefühl der Hegemonie – auf der Straße und im Netz.“
Das erlebt Schmidt aus erster Hand: Kurz nach ihrer Ankunft in Bautzen brennt es in einer Geflüchtetenunterkunft. Bis heute ist die Brandstiftung nicht aufgeklärt. Sie ist auch Zeugin, als eine Gruppe junger Geflüchteter von hunderten Neonazis durch die Stadt gejagt wird. Das nimmt Schmidt zum Anlass, sich politisch zu engagieren: beim Bündnis „Bautzen bleibt bunt“, in der Geflüchtetenhilfe und dann als parteilose Stadträtin auf der Liste der Grünen. Anfeindungen aus dem rechtsextremen Spektrum lassen nicht lange auf sich warten: Sie erhält eine Morddrohung, Neonazis posieren vor ihrem Wohnhaus und veröffentlichen die Fotos in den sozialen Medien. Gegen ihre Kandidatur als Stadträtin gibt es lautstarken Protest vom rechten Rand.
Schmidt wohnt mittlerweile in Dresden, dort behält sie die extreme Rechte weiterhin im Blick. Nicht ohne Gegenwind: Im Februar 2022 wird sie am Rande eines Gegenprotests gegen eine Montagsdemonstration aus der Coronaleugner-Szene von drei Männern aus dem Pegida-Umfeld mit Tritten und Schlägen attackiert. „Sie haben ihren Frust an mir ausgelassen wie an einem Boxsack“, erzählt sie überraschend gelassen. Einschüchtern lassen will sie sich aber nicht. Jetzt erst recht.