In Sachsen werden 2022 viele Bürgermeister:innen gewählt — im Juni etwa in 140 Ortschaften und Städten. In Delitzsch ist es schon im Mai so weit. Am 29. wählt die Stadt eine neue Oberbürgermeister:in. Mindestens einer der Kandidaten ist bestens in der Verschwörüngsszene vernetzt: Hagen Grell. Der rechtsextreme Verschwörungsunternehmer ist in der Vergangenheit nicht nur immer wieder mit menschenverachtenden Positionen aufgefallen, sondern ist auch als Spendensammler für meistens wenig erfolgreiche Projekte bekannt geworden. Grell dürfte aber nicht der einzige Rechtsaußen-Kandidat sein, der für ein Amt in Sachsen kandidiert. Die rechtsextreme Partei „Freie Sachsen“ ruft ihre Anhänger:innen ebenfalls zur Kandidatur auf.
Außerhalb der Verschwörungsszene wurde Grell 2016 bekannt. Nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln veröffentlichte er ein YouTube-Video, das schnell Kreise außerhalb der Besorgtbürger-Blasen zog. Gefilmt im heimischen Badezimmer, vor einer Duschkabine, über der ein gestreiftes Badetuch trocknet, steht Grell damals im schwarzen Unterhemd und mit Kassengestell auf der Nase und spricht direkt die „deutschen Frauen“ an. An Belästigungen, Vergewaltigungen und Diskriminierungen seien die nämlich eigentlich selbst schuld, weil sie durch Feminismus und Gleichberechtigung die deutschen Männer, die „zu den größten, stärksten und edelsten der Welt“ gehörten, verweichlicht hätten. Das Machwerk voller Antifeminismus und Rassismus, das vor „kulturfremden Männern“ warnte, sorgte außerhalb von Grells Zielgruppe vor allem für Heiterkeit.
Obwohl das Video dazu führte, dass das Verschwörungsprojekt „Nuoviso“ die Zusammenarbeit mit Grell — zumindest seinen Angaben nach — einstellte, wurde Grell im Rechtsaußenmilieu immer bekannter und schaffte es im Laufe der Zeit immer wieder, rechtsextreme Politiker:innen und andere Szenegröße zu treffen und für seinen YouTube-Kanal zu interviewen. So traf er etwa Björn Höcke zum „großen Sommer-Interview“, die ehemalige Pegida-Aktivistin Kathrin Oertel, den mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilten Autor Akif Pirinçci, Verschwörungsguru Heiko Schrang, den österreichischen Kopf der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ Martin Sellner oder den Neonazi-Aktivisten Nikolai Nerling aka „Volkslehrer“. Im August 2018 war Grell sogar einer der Redner:innen auf der „Antizensurkonferenz“ der Schweizer Fundamentalistensekte OCG („Organische Christus Generation“) und ihres Chefs Ivo Sasek.
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Jetzt will Grell als Kandidat der Initiative „Wir für Delitzsch“ Oberbürgermeister der Stadt mit knapp 25.000 Einwohner:innen werden. Von seinen rechtsextremen Gesprächspartner:innen ist jetzt nichts mehr zu hören. Auf der Website zu seiner Kandidatur werden nur die einigermaßen seriösen Gesprächspartner aufgelistet. Einige Passagen nähern sich der Realsatire. Etwa wenn Grell sich an seine Jugend erinnert: „Es waren einfachere Zeiten Anfang der Neunziger. Wir träumten von einer optimistischen Zukunft in Wohlstand und Sicherheit, in der wir unsere Träume verwirklichen wollten.“ Kein Wort über grassierenden Rechtsextremismus, Gewalt gegen Andersdenkende und Minderheiten in den sogenannten „Baseballschlägerjahren“.
„Als Informatiker und Unternehmer hat er das wirtschaftliche Verständnis und die Ingenieursdenkweise, um große Probleme auch sparsam mit geringen Mitteln zu lösen“, heißt es auf der Website der Initiative. Eine eher euphemistische Beschreibung für Grell, der sogar in der realitätsfernen Verschwörungsszene ziemlich umstritten ist.
Nachdem YouTube und andere Plattformen anfingen, Inhalte und Kanäle zu löschen, die Rassismus, Antisemitismus und Verschwörüngserzählungen verbreiteten, kündigte Grell 2018 ein neues Projekt an: „zensursicher und innovativ“ sollte die Plattform sein, Rechtsschutz sollte sie bieten und eine „alternative Tagesschau“, moderiert von Stars der Szene. Und das alles für günstige 50.000 Euro. Mit ungezählten Spendenaufrufen schaffte der Verschwörungsguru es schließlich sogar, 70.0000 Euro zu sammeln. Doch es passierte erstmal gar nichts. Erst im Juli 2019 startet seine neue Website, erfüllte aber keine der Versprechungen. Obwohl Grell behauptet, weitere 70.000 Euro investiert zu haben, ist aus der „Tagesschau“ nichts geworden und tatsächlich zeigt die Seite nur eingebundene YouTube-Videos und solche von anderen Plattformen. Also nicht das, was sich die Fans unter „zensursicher“ vorstellen. Die sind auch alles andere als begeistert. Die rechtsextremen „Anonymousnews“ sprechen von einem „dreisten Betrug“ und einer „technisch unterirdischen“ Plattform. „Wikimannia“, eine Plattform von Rechtsaußen-Männerrechtlern, verleiht Grell gar das „Prädikat ‚besonders kriminell‘“. Seine Kritker:innen behaupten, Grell hätte die Spenden statt für die Entwicklung seiner Seite vielmehr zur Begleichung von privaten Schulden benutzt. Grell äußerte sich höchstens beleidigt zu den Vorwürfen und drohte seinen Kritiker:innen mit Klagen.
Zu Beginn der Coronapandemie springt Grell Wenig überraschend auf den „Querdenken“-Zug auf, in seinem Telegramkanal (heute fast 12.000 Abonnent:innen) teilt er die die üblichen Verschwörungserzählungen und Falschnachrichten der Szene. Doch dann wird es still um Grell. Fast ein Jahr verschwindet er fast völlig von der Bildfläche. Am 1. Januar 2022 veröffentlicht er ein Video und kündigt sein Comeback an. Obwohl seine Website immer noch den großen Versprechungen hinterherhinkt, und die Videos nur von wenigen Fans angeschaut werden, soll 2022 alles besser werden, denn seit Herbst 2021 hätten er und sein „Progammier-Partner“ die Seite „endlich auf den Stand gebracht, den ich 2018 versprochen hatte, und diesen sogar übertroffen.“
In einem anderen Video unterschreibt Grell eine „Unabhängigkeitserklärung“ — offenbar eine Reaktion auf die vielen Vorwürfe aus der Szene – und bestätigt, nicht mit Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. Unter anderem heißt es in der Erklärung: „Ich bin kein formelles, informelles oder beratendes Mitglied von Geheimbünden oder Geheimorganisationen, oder elitären nicht-geheimen Gruppierungen, deren Ziel die politische, wirtschaftliche oder kulturelle Transformation von Gesellschaften, oder Gemeinschaften ist.“ Oder auch: „Ich bin kein Mitglied von Freimaurer-Logen, Logen oder Organisationen, die der Freimaurerei nahestehen, wie z.B. Rotary Club, Lions Club, Rosenkreuzer oder Charismatiker.“ Sollte das alles doch nicht stimmen, müsste Grell eine Strafe zahlen: 100.000 Euro: „zahlbar sofort in Bar oder Edelmetallen“.
Wo der Bürgermeisterkandidat ideologisch steht, wird schon in den ersten Sätzen eines Videos deutlich, in dem er seine Kandidatur ankündigt. Er bedankt sich nicht nur be der rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“, sondern auch bei dem wegen Volksverhetzung verurteilten Neonazi-Aktivisten Nikolai Nerling — der sich offenbar nach Brasilien abgesetzt hat — und Matthäus Westfal, aka „Aktivist Mann“, einem verschwörungsgläubigen YouTuber mit Sektenhintergrund.
Ein Blick auf einige ältere Videos von Grell wirft die Frage auf, wieso er überhaupt ein öffentliches Amt bekleiden will. Mit einigen Institutionen des Staates hat er demnach nämlich einige Schwierigkeiten. Zum Beispiel mit dem Finanzamt, das er in einem mittlerweile gelöschten Video als „Diebstahlsamt“ bezeichnet. Grell schreit und regt sich auf, hin und wieder macht er dabei Affengeräusche, während er davon erzählt, dass die Behörde einen Einzug von seinem Konto veranlasst hat. Von dem Video distanzierte sich der YouTuber später wieder. Von anderen Video nicht. Etwa als er 2018 über den „Holocaust an den Deutschen“ spricht: „Holocaust von den Juden verglichen zum Holocaust mit den Deutschen, ist der deutsche Holocaust mindestens genauso grausam, wenn nicht viel höher.“
Besonders die „Freien Sachsen“ dürften bei Grells Kandidatur eine Rolle gespielt haben. Die Gruppierung, die als neues Sammelbecken der rechtsextremen und verschwörungsideologischen Szene in Sachsen fungiert und ein zentraler Akteur bei der Organisation der „Spaziergänge“ gegen die Coronamaßnahmen im Freistaat ist, ruft ihre Anhänger:innen schon seit Wochen dazu auf, als Bürgermeister:innen zu kandidieren und so Einfluss auf die Politik in Kommunen und Städten zu nehmen.
Die Partei hat angekündigt, entweder selbst Kandidat:innen für die Wahlen aufzustellen oder Parteilose — wie Grell einer ist — zu unterstützen. Im Telegram-Kanal Kanal der Partei mit 147.000 Abonennt:innen wird schon für den Kandidaten als „Opposition zu den Kandidaten des Parteienkartells“ geworben: „Solche Antritte sind unterstützenswert und sollten auch andere ermutigen“, heißt es.
Die Partei, die einen „Säxit“ anstrebt und aus dem Freistaat eine Monarchie machen will, hat eine eigene Website mit Informationen zu den Wahlen eingerichtet. Die Seite liefert Informationen zu Fristen und Formalitäten. Dabei wird deutlich, dass es der Partei darum geht, grundlegend Einfluss auf die Kommunen und Städte zu nehmen, bis hin zur Ebene der Verwaltung und ihren Mitarbeiter:innen. So hätte das Stadtoberhaupt großen Einfluss darauf, „[w]er bei der Stadtverwaltung eingestellt wird, der bürokratische Speichellecker oder der wirklich engagierte Bürger“. Die Gesellschaft soll von „unten nach oben“ erneuert werden, schreibt die rechtsextreme Partei.
Die Kandidatur von Hagen Grell macht deutlich, wer damit angesprochen werden soll. Für die demokratische Zivilgesellschaft vor Ort ist das ein gefährliches Signal. Wenn die Bürgermeister:innen entweder selbst aus dem rechtsextremen Milieu stammen oder sich davon unterstützen lassen, verschiebt sich die Stimmung in Sachsen noch weiter. Minderheiten werden unter noch größerem Druck stehen und demokratische Projekte werden gefährdet. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Demokrat:innen im Freistaat diese Machtübernahme von unten nicht gefallen lassen und aktiv gegen die Unterwanderung vorgehen.