Am 27. August 2018 kam es in der Chemnitzer Innenstadt zu einer offenen antisemitischen Gewalttat, die erst mit Verzögerung bundesweit für Schlagzeilen sorgte. An jenem Montagabend wurde Uwe Dziuballa im Windschatten bundesweiter völkischer Mobilisierungen in die sächsische Stadt aus einer Gruppe von zehn bis 12 Angreifer:innen heraus mit Steinen beworfen, antisemitische Parolen wurden gegrölt. Ein Stein traf Dziuballa an der Schulter und verletzte ihn durch Glück nur leicht. Andere richteten Schäden an Fassade und Fenster seines Restaurants an. Da das Glas wegen vorheriger antisemitischer Angriffe – wie bei so vielen jüdischen Geschäften und Einrichtungen in diesem Land – gesichert ist, wurden größere Zerstörungen verhindert.
Erst Tage nach der Tat äußerten sich Lokalpolitik und Polizei zum Angriff, nachdem der betroffene jüdische Betreiber des Restaurants Schalom, sich entschloss, die Tat selber publik zu machen. Danach war die bundesweite Empörung groß.
Nach dreijährigen Ermittlungen wurde Anfang September der 30-jährige Kevin A. für seine Beteiligung an diesem Angriff wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch zu einem Jahr Freiheitsstrafe, die zu drei Jahren auf Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Der Vorsitzende Richter Dominik Börner sah es als erwiesen an, dass der einschlägig vorbestrafte A. am Angriff beteiligt war. Zuvor hatte der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Thomas Fischer eine Haftstrafe ohne Bewährung gefordert. Der Verteidiger Jan-Hendrik Herms plädierte auf Freispruch.
Antisemitischer Alltag
Dziuballas koscheres Restaurant Schalom ist in Chemnitz bekannt und oft gut besucht. Hin und wieder dient es an Ruhetagen auch als Veranstaltungsort für den gleichnamigen jüdischen Bildungs- und Kulturverein, so auch an dem Abend im August 2021. Die meisten Gäste hatten das Lokal bereits verlassen, als der Angriff erfolgte. Nur noch ein Referent, Dziuballa selbst und ein weiteres Vorstandsmitglied des Vereins waren vor Ort.
Der völkischen Rechten dient das Restaurant schon lange als Ziel. Seit der Eröffnung im Jahr 2000 ist es immer wieder antisemitischen Sachbeschädigungen und Angriffen ausgesetzt, erklärt Dziuballa am Telefon. Er habe zwischenzeitlich aufgehört, Anzeige zu erstatten, auch weil ihm das Gefühl vermittelt wurde, er würde die Polizei stören. Oft habe er sich von den ermittelnden Beamten nicht ernst genommen gefühlt.
Der unabhängigen Meldestelle für antisemitische Vorfälle RIAS zufolge gab es seit Eröffnung des Restaurants im Jahr 2000 mehr als 3.300 Anrufe, in denen Dziuballa oder sein Team antisemitisch beledigt wurden. Hinzu kamen Beleidigungen vor Ort, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. Doch nie war es so bedrohlich, wie an jenem Abend, erklärt Dziuballa. Er erstattete Anzeige.
Offensichtlich geplant
Nach dem kurzen Angriff verließen die Täter:innen den Tatort, auch weil Dziuballa, so rekonstruiert es die Polizei vor Gericht, mit einem Baseballschläger in der Hand und filmend nach draußen gegangen sei. Doch der Rückzug verlief offenbar keineswegs fluchtartig, wie Dziuballa vor Gericht schilderte. Vielmehr scheint die Gruppe planmäßig vorgegangen zu sein.
Obwohl die Polizei schon nach wenigen Minuten vor Ort war, gelang es ihr nicht, die dunkel gekleidete Gruppe, die sich für den Angriff vermummt hatte, zu fassen. Der ermittelnde Polizeibeamte begründete dies vor Gericht unter anderem damit, dass die Lage an dem Wochenende ohnehin unübersichtlich gewesen sei, die Einsatzkräfte waren überfordert von den Ereignissen.
Völkisches Fanal
Zu einem „Fanal“ hatte die völkische Rechte im Spätsommer 2018 bundesweit nach Chemnitz mobilisiert. So bezeichnen der Journalist Johannes Grunert und der Soziologe Johannes Kiess vom Leipziger Else-Frenkel-Brunswik Institut die völkischen Ausschreitungen im August und September des Jahres 2018 in einem Hintergrundpapier zu extrem rechten Strukturen in der Stadt. Ihnen zufolge konnte die Mobilisierung einerseits auf organisierte Strukturen vor Ort zurückgreifen und hatte zugleich einen verstärkenden Effekt auf völkische Akteur:innen in der Region.
Diesem Fanal war ein Mord am 26. August am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz vorausgegangen. Aus weiterhin unbekannten Gründen gerieten zwei Personengruppen aneinander. Im Verlauf des Streites sollen ein damals 22-jähriger und ein 23-jähriger Mann mit mehreren Messerstichen auf das spätere Todesopfer Daniel H. eingestochen haben. Der 35-Jährige erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Da es sich bei den zum Zeitpunkt der Mobilisierungen Tatverdächtigen um zwei Geflüchtete aus dem Irak und Syrien handelte und der Haftbefehl auf Social-Media-Kanälen verbreitet wurde, nutzte die extreme Rechte den Fall für ihre rassistische Mobilisierung gegen Asyl- und Migrationsrechte. Dass der inzwischen verstorbene Daniel H. selber Rassismuserfahrungen gemacht hatte und Freund:innen und Angehörige sich gegen die völkische Instrumentalisierung aussprachen, war dagegen kein Thema
Rassistische Hetzjagden
Bereits am Nachmittag des 26. Augusts versammelten sich nach Einschätzungen der Polizei knapp 800 Menschen am Karl-Marx-Monument in der Stadt zu einer rassistischen Demonstration. Laut Recherchen von Spiegel Online befanden sich darunter zahlreiche Anhänger extrem rechter Hooligangruppen und der Bewegung Pro Chemnitz. Dieses Spektrum sollte die Ausschreitungen auch in den Folgetagen maßgeblich prägen, noch unterstützt durch Öffentlichkeitsarbeit der AfD.
Die einsetzende Mobilisierung erfolgte im Kern über Social-Media-Kanäle, in denen offenkundige Falschmeldungen kolportiert wurden. Danach sei etwa der Ausgangspunkt des Streites eine sexuelle Belästigung durch die Tatverdächtigen gewesen. Dies aktivierte rassistische Projektionen einer männlichen Wehrhaftigkeit, die ‚die eigenen Frauen‘ vor ‚invasiven Ausländern‘ schützt. Es ist ein zentrales Motiv in der männerbündischen Propaganda der völkischen Rechten. Sie drängt darauf, in Gewalt umzuschlagen.
So kam es im Zuge der Demonstrationen am Sonntag zu ersten Ausschreitungen und rassistischen Hetzjagden durch die Stadt, die der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz und heutige Rechtsaußen der CDU Hans-Georg Maaßen leugnete.
Männerbündische Affektmobilisierung
Aufgrund der Zusammensetzung, den männerbündischen Mythen, auf denen die völkischen Mobilisierungen fußten, und der Affekte, die sie bei den überwiegend männlichen Teilnehmenden der Demo auslösten, sprachen die Politikwissenschaftlerin Judith Goetz und die Sozialwissenschaftlerin Eike Sanders von einer Mobilisierung ‚toxischer Männlichkeit’ in Chemnitz. Sie sehen darin einen Kern der völkischen Dynamik.
Zu den Mythen, die im Zuge dieser Dynamik abgerufen werden, gehört immer auch der Männerbund mit seiner Aura der Verschworenheit: Die Bruderschaft, die sich in einem Überlebenskampf gegen eine ihrerseits phantasierte mächtige verschworene Gruppe befindet, ist ein wirkmächtiges Motiv. Für viele Männer stellt es einen stets verfügbaren Fluchtpunkt dar, um die eigene Männlichkeit im Kampf zu inszenieren. Nicht selten kulminiert diese Phantasie in offen antisemitische Aggression. So auch im Spätsommer des Jahres 2018.
Für den Abend nach den ersten Ausschreitungen mobilisierte die extrem rechte Gruppierung Pro Chemnitz, die sich über Jahre fest in der Chemnitzer Stadtgesellschaft verankert hat, zu einer weiteren Demonstration. Auch hierfür wurde überregional in der extremen Rechten mobilisiert, erneut kam es zu gewaltsamen Übergriffen. An jenem Abend fand am Rande der Proteste auch der antisemitische Angriff auf das Restaurant Schalom statt, an dem Kevin A. beteiligt war.
Spuren in die gewaltbereite Neonaziszene
Die Ermittlungen gegen die zehn bis 12 Tatbeteiligten verliefen schleppend. Lange Zeit schien es, als könnte der Fall nicht aufgeklärt werden. Es wurden zwar DNA-Spuren auf Gegenständen und Steinen gefunden. Doch diese konnten zunächst nicht zugeordnet werden. Über Monate tappte die Polizei bei ihren Ermittlungen im Dunkeln.
Überführt wurde A. letztlich, weil in einem anderen Fall seine DNA-Spuren in die Datenbank der Polizei einflossen. Er war im Jahr 2019 verhaftet und verurteilt worden, weil er auf einem Festival mit synthetischen Drogen gehandelt hatte. Ein Abgleich seiner DNA-Spuren aus diesem Fall mit der Datenbank führte zu einen Match mit den DNA-Proben aus Chemnitz. Daraufhin durchsuchte die Polizei seine Wohnung bei Stade in der Nähe von Hamburg.
Während der Durchsuchung wurden auf seinem Handy Bezüge zur männerbündischen, nationalsozialistischen SA gefunden sowie eine schwarz-weiß-rote Hasskappe – die Farben sind in der Neonaziszene beliebt, weil sie an das deutsche Kaiserreich vor 1918 angelehnt sind. A. war während der Durchsuchung nicht Zuhause. Als Zeuge trat ein einschlägig vorbestrafter Neonazi aus Tostedt auf, den A. kurzerhand um Hilfe gebeten hatte.
Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass A. einen Großteil seiner Handydaten gelöscht hatte, er nutzte verschlüsselte Chatdienste, sodass es für die Ermittler:innen schwer war, in dem Fall voranzukommen. So konnten bis zum Prozessbeginn keine direkten Belege für seine Teilnahme an den Ausschreitungen in Chemnitz gefunden werden.
Verabredung im Dunkeln
Allerdings wurde ein zwar gelöschter, aber technisch rekonstruierbarer Austausch mit Leon R., einem einschlägig vorbestraften Aktivisten der extremen Rechten aus Eisenach und Betreiber der rechten Szenekneipe ‚Bulls Eye’, gefunden. Darin verabredeten sich die beiden für die Proteste in Chemnitz. Die Vermutung liegt nahe, dass sie gemeinsam unterwegs waren. Auf Videoaufnahmen der Demonstrationen am Montag waren R. und A. nicht zu sehen.
Anzunehmen ist, dass das gemeinschaftliche Vorgehen an dem Abend also geplant war und es scheint sehr wahrscheinlich, dass hierfür auch A.s Kontakte in die Gruppierung ‚Rechtes Plenum‘ aus Chemnitz eine Rolle gespielt haben. Vor dem 27. August 2018 war A. mehrfach in der Stadt, um an Propagandaaktionen der Gruppierung teilzunehmen. Die inzwischen aufgelöste Gruppe versuchte im Stadtteil Sonnenberg in Chemnitz nach dem Dortmunder Modell in Dorstfeld eine sogenannte ‚National befreite Zone‘ zu errichten. Auch darum reiste A., wie vor Gericht deutlich wurde, etwa zur Beerdigung der verstorbenen Mary-Ann R. In Chemnitz, eines der Kader dieses extrem rechten Netzwerkes.
Die Generalanwaltschaft in Dresden bestätigte auf Anfrage, dass ihr zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bekannt gewesen sei, dass Kevin A. in die Netzwerke der gewaltbereiten extremen Rechten in Deutschland eingebunden ist. Doch im Verfahren spielte dies lediglich eine untergeordnete Rolle. Bei der Verurteilung und anschließenden Strafzumessung scheint dieser Umstand kein besonderes Gewicht gehabt zu haben.
Fragezeichen vor Gericht
Die in der Verhandlung vorgetragenen Ermittlungsergebnisse waren so dünn, dass auch am Ende nicht zweifelsfrei bewiesen wurde, dass A. am antisemitischen Angriff beteiligt war. Das Gericht verurteilte A. nach nur einem Prozesstag nicht für schweren Landfriedensbruch, sondern für einfachen Landfriedensbruch.
Zudem ist unklar, warum die Generalstaatsanwaltschaft kurz vor dem ursprünglich angesetzten Prozessbeginn am 5. Juli noch ein Video in die Beweisaufnahme eingeführt hat und damit zu einer Verzögerung des Prozessbeginns beitrug, obwohl keines der vor Gericht vorgestellten Videos Kevin A. zeigte.
Ebenfalls stellt sich die Frage nach der Rolle von Leon R. Warum wurde R. nicht als Zeuge geladen? Die Generalstaatsanwaltschaft sagt hierzu auf Anfrage: „Aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft ließ sich die Täterschaft des Angeklagten bereits mit den in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen nachweisen“ – offensichtlich aber nur in unzureichendem Maße.
Fauler Kompromiss
A. ist erheblich vorbestraft. Nicht nur, dass er bereits wegen des Betäubungsmitteldeliktes verurteilt worden war – dieses Urteil wurde in die Strafzumessung einbezogen. Er ist ebenfalls wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung in einem anderen Fall belangt worden.
Doch das Urteil scheint in keinem Verhältnis zu Vorstrafenregister von A. und Schwere der Tat zu stehen. Dies wäre vermutlich auf Basis der dünnen Beweislast wenig aussichtsreich gewesen. Nun ist aufgrund der DNA-Spur kaum zu bestreiten, dass A. am Tattag in der Nähe des Restaurants war und einen Stein in der Hand gehalten hat. Zweifelsfrei bewiesen ist aber keineswegs, dass er Teil der Gruppe war, die das Restaurant angriff und damit einen schweren Landfriedensbruch beging.
Ein schärferes Urteil wollte der vorsitzende Richter offenbar nicht riskieren. Er entschied sich vor dem Hintergrund der dünnen Beweislast und der gleichzeitigen politischen Brisanz des Verfahrens offenbar für einen Kompromiss. Wenig überraschend nahm A. das Urteil sichtlich erleichtert und zufrieden zur Kenntnis.
Die Generalstaatsanwaltschaft legte indes dagegen Berufung ein, wie sie auf Anfrage mitteilte. Von den anderen Tatbeteiligten fehlt weiterhin jede Spur. Die Ermittlungen gegen Unbekannt laufen weiter. Ob darunter auch Leon R. ist und ob er als Zeuge im Berufungsverfahren geladen wird, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.