In der Nacht zum 6. Dezember 2020 schießt ein Täter auf mehrere Männer in der Nürnberger Straße in Berlin-Charlottenburg. Verletzt wird niemand. Die Männer waren in zwei Autos angekommen und trafen sich auf der Straße. Während sie sich noch begrüßten, schoss ein Mann von der anderen Straßenseite auf sie und flüchtete danach. Die Betroffenen konnten keine Angaben zur Identität des Schützen machen. Nur die wenigsten Berichte über den Vorfall kommen ohne das Wort „Clankriminalität“ aus. Deutschlands größte Boulevardzeitung Bild fragt: „Schüsse in Berlin – wieder Streit unter Clans?“ und auch der Berliner Kurier berichtet, dass die Polizei dem Verdacht nachgehe, „ob es sich um eine erneute Auseinandersetzung zwischen Verbrecher-Clans handelte“. Generell ist die Zusammenarbeit der Behörden und der Boulevardmedien beim Thema „Clans“ sehr gut. Zu Razzien werden Pressevertreter*innen eingeladen und umfassend informiert.
Die Tat in Charlottenburg sieht aber sehr schnell anders aus. Am 7. Januar stellt sich ein 26-jähriger Mann, laut Medienberichten mit dem Vornamen Chris, auf der Hamburger Davidwache, gesteht die Tat und wird festgenommen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung hätte es „neue Anhaltspunkte“ gegeben. Der Berliner Zeitung sagte eine Behördensprecherin, „eine fremdenfeindliche Motivation [sei] sehr wahrscheinlich.“ Mittlerweile hat der Staatsschutz die Ermittlungen übernommen.
Ein womöglich rassistisch und rechtsextrem motivierter Anschlag wird unsichtbar gemacht und zum Lieblingsthema „Clankriminalität“ umfunktioniert.
Dabei gibt es spektakuläre Fälle, wie den Überfall auf das Nobelkaufhaus KaDeWe, das Bode Museum oder das Grüne Gewölbe in Dresden. Viele der Razzien treffen aber Unbeteiligte, etwa Ladenbetreiber auf der Neuköllner Sonnenallee. Ein Betroffener berichtet darüber im Interview mit der ZEIT: „2019 gab es auf der Sonnenallee ständig Razzien, auch bei mir. Sechsmal war die Polizei bei mir, sie hat aber nichts gefunden. Die Medien waren dabei, haben darüber berichtet, zusammen mit dem Foto meiner Bar. Ich habe sie verklagt, habe verloren, bin vor das Landgericht Berlin gezogen, habe wieder verloren. ‚Freie Meinungsäußerung‘ hieß es dann. Dabei wurde ich nach den Berichten gehasst. Mein Ruf war ruiniert.“
Die Neuköllner Initiative „Kein Generalverdacht“ berichtet ähnliches über eine Razzia im September: „Was war los? Eine Gewerbekontrolle fand statt. Dass es aber eine Gewerbekontrolle war, hätte kein Umstehender gedacht – denn mal wieder sah es aus, als würde die Polizei hier gerade den Drogendeal des Jahres auffliegen lassen“. Auch hier wurde zum wiederholten Mal kontrolliert und laut dem Bericht der Initiative wenig gefunden: Zwei Spielautomaten wurden mitgenommen und ein in der Nähe falsch geparkter Kleinwagen abgeschleppt. Begleitet wurde der Einsatz von einem Kamerateam.
Kritik am Vorgehen der Polizei gibt es seit langem. Für den Neuköllner Linken-Politiker Ahmed Abed geht es dabei um „reine Show“, wie er der taz im Interview sagt: „Diese Razzien vermitteln ja den Eindruck, halb Neukölln sei kriminell – und nicht, dass die meisten Leute einfach ihrer Arbeit nachgehen“. Immer wieder würden die gleichen Läden durchsucht: „Aber man kann doch nicht dreimal mit Dutzenden Polizisten dieselben Lokale durchsuchen – ohne Ergebnis, außer vielleicht zu viel Kohlenmonoxid – und immer noch sagen, wir gehen hier gegen organisierte Kriminalität vor“. Tatsächlich entsprechen die Zahlen nicht dem Horrorszenario, das Behörden und Medien gerne an die Wand malen. „Clankriminalität“ – ohnehin bereits ein umstrittener Begriff, der an Racial Profiling erinnert – wird der Organisierten Kriminalität zugerechnet und macht im Bundeslagebild nur 7,8 Prozent davon aus. In Berlin gab es 2019 382 Einsätze im Zusammenhang „Clankriminalität“. 972 Strafanzeigen, davon 428 Drogendelikte, 100 Verkehrsstrafen, 55 Verstöße gegen das Waffengesetz. Vor allem gab es aber Ordnungswidrigkeiten: 5.908. Die meisten davon wegen Verkehrsdelikten, 499 wegen Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz, der Preisangabenverordnung oder dem Gaststättengesetz. Schwere Straftaten konnten in den fast 400 Einsätzen nur wenige festgestellt werden: zweimal Raub, zwei Sexualdelikte, zwölf Eigentumsdelikte, dreimal Betrug und dreimal Bedrohung.
Strittig ist auch, was diesen Zahlen überhaupt zugeordnet wird. Im April 2017 wurde auf der Bundesautobahn 2, nahe Hannover ein Hochzeitskonvoi gestoppt. Das Vergehen: „Fahren mit einer Geschwindigkeit von circa 20 Kilometer pro Stunde auf allen drei Fahrstreifen über einen Zeitraum von circa zehn Minuten.“ Die 13 Fahrer tragen den gleichen türkischen Nachnamen, der zu einer Großfamilie gehört und damit gab es 13 neue Einträge in die niedersächsische Statistik zur Clankriminalität.
Für Medien und Behörden funktionieren reißerische Geschichten über angebliche „Clans“ hervorragend und sind Garant für Aufmerksamkeit. Dabei zeichnen sie ein rassistisches Bild, das nur wenig mit der Realität zu tun hat. Im aktuellen Fall aus Berlin-Charlottenburg hat das Rassismus auf magische Weise verschwinden lassen und Betroffene zu Tätern umgemünzt.
Foto: Flickr / kris krüg / CC BY-SA 2.0