Ob im Familien-Chat auf WhatsApp, in Posts von Freund*innen auf Facebook oder in Tweets von Politiker*innen – vielerorts kursiert derzeit eine erschreckende Kosten-Nutzen-Rechnung bezüglich der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus.
Wie lange können wir am Prinzip der sozialen Distanz festhalten, bis die Wirtschaft zu sehr leide, diskutieren beispielsweise deutsche Politiker*innen. Und eine Wirtschaftskorrespondentin fragte in ihrem Text „Geld oder Leben“ in der FAZ: „Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“
In eine ähnliche Kerbe schlägt der texanische Vizegouverneur Dan Patrick. Er forderte jüngst in einem TV-Beitrag, dass die Alten sich besser “opfern”, als dass der Corona-Lockdown die heimische Wirtschaft weiter belastet. Der Republikaner sei jedenfalls bereit sein Leben zu geben, wenn dafür diese furchtbaren Beschränkungen wieder aufhörten. Schließlich habe er sechs Enkel, argumentierte der überzeugte Evangelikale. Größtenteils ältere Menschen haben schwere Covid-19-Symptome, aber auch Menschen mit Vorerkrankungen sind stärker gefährdet, einen schweren Krankheitsverlauf zu bekommen.
Liegt es nicht einfach in der Natur der Dinge, dass ältere Menschen sterben, fragen andere Menschen unteranderem auf Twitter. Mit Corona sterben eben ein paar mehr Ältere ein bisschen schneller als ohnehin, so diese Überlegung. Gleichzeitig würde man vielleicht das Problem der globalen Überbevölkerung in den Griff bekommen. Ein Bericht fragt, ob Corona tatsächlich nur böse sei, wo doch Viren meist auch einen regulierenden Effekt auf die Natur hätten. (Hätten dann auch Krebs und tödliche Verkehrsunfälle einen positiven Effekt?)
“Humans are the virus, Corona is the cure”
Ähnlich argumentieren momentan einige Ökoaktivist*innen und Tierrechtler*innen. Wer sich in den sozialen Medien bewegt, kommt wohl nicht um das Schlagwort „The Earth is healing“ herum und um Beiträge, zur neuerdings klaren Luft über China und den sauberen Kanälen in Venedig. Das ist natürlich eine gute Nachricht.
Ein Ableger der Klimaschutzbewegungvon Extinction Rebellion veröffentlichte auf Twitter Bilder eines Aufklebers mit der Aufschrift: „Corona is the cure. Humans are the disease“. Laut der Ökobewegung stehen hinter dem fraglichen Posting rechte Gruppen, die die Bewegung diskreditieren wollten. Ähnliche Aussagen finden sich allerdings in den sozialen Medien immer wieder.
Trotzdem bleibt die Annahme, Menschen seien der wahre Virus und Corona sei die Medizin, inhuman. Die Grenzen zwischen fehlgeleiteten Idealismus, Öko-Faschismus und Eugenik sind hier nur allzu fließend.
Kaum von sozialdarwinistischen Positionen zu unterscheiden
All diese Ansichten zu Corona haben ein gemeinsame Fundament: Sozialdarwinismus.
Diese Position meint auch die menschliche Gesellschaft sei eine Folge natürlicher Selektion. Sie sei also das Resultat eines „Kampf ums Dasein“ und des „Überlebens des Stärkeren“, in dem nur die Besten, die Stärksten oder Erfolgreichsten überleben (survival of the fittest).
Und wer sind in unserer modernen Gesellschaft die Schwachen? Es sind die Alten, die Kranken, die Armen. Sozialdarwinistisch gesehen sind sie eine Belastung für das Sozialsystem. Gesellschaft diene nicht dem Schutz der Schwachen vor den Starken, sondern der Auslese der Starken. Sozialdarwinismus ist eine menschenverachtende Perspektive auf Randgruppen der Gesellschaft und sozial Schwächere.
Historisch ist der Begriff „Sozialdarwinismus“ zuerst Anfang der 1870er Jahre nachweisbar. Er wird oft als Übertragung der Darwinschen Evolutionstheorie auf menschliche Gesellschaften definiert.
Als Begründer des Sozialdarwinismus gilt der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer (1820-1903), der eine umfassende Gesellschaftstheorie, Ethik und Wissenschaftstheorie auf die Idee der Evolution gründete. Spencer prägte die Begriffe „struggle for existence“ und „survival of the fittest“, bezog diese aber nicht auf die Natur, sondern wandte sie auf den Menschen an: die „fittesten“ sind nach Spencer diejenigen, die an die Anforderungen des Marktes und des sozialen Lebens am besten angepasst sind.
Der deutsche Biologe Ernst Haeckel (1834-1919) war der Meinung, Evolution lehre, dass überall stets nur eine bevorzugte Minderheit existieren und blühen könne, die Mehrheit dagegen verurteilt sei, vorzeitig zugrunde zu gehen. Ein Prozess, der notwendig sei für die „Vervollkommnung“ der Menschheit, damit eine Elite hervorkommen kann.
Wegbereiter der Eugenik und „Rassenhygiene“ der Nazis
Aufgrund seiner Überlegungen zur „künstlichen Züchtung“ des Menschen in modernen Gesellschaften gilt Haeckel als Wegbereiter der Eugenik und „Rassenhygiene“ in Deutschland. Nationalsozialistische Ideologen zogen Ausschnitte seiner Aussagen später als Begründung für ihren Rassismus und Sozialdarwinismus heran. Die Überlegung, Kranke und Behinderte würde die „Rasse“ zurückwerfen, „Erbkranke“ müssten sterilisiert werden, „lebenswertes“ müsse von „lebensunwertem Leben“ getrennt werden, wurde im Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin. Vom „Gnadentod“ ist zynisch die Rede, tatsächlich jedoch wurden von den Nazis über 200.000 Menschen ermordet – durch Medikamente, Nahrungsentzug oder quälende medizinische Tests.
Sozialdarwinismus aktuell
Der Begriff Sozialdarwinismus wird heute zur Bezeichnung von Positionen verwendet, die gesellschaftliche Randgruppen, wie zum Beispiel Wohnungslose, Sozialhilfeempfänger*innen oder Menschen mit Behinderungen als „minderwertig“ und Überflüssige betrachtet. In einer Kosten-Nutzen-Rechnung, würden eben jene Menschen der Gesellschaft lediglich Kosten verursachen, ohne ihr zu nutzen.
Neben Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Antipluralismus betrachtet der deutsche Verfassungsschutz Sozialdarwinismus als wesentliches ideologisches Element der Neonazi-Szene. Wie in ihrem historischen Vorbild, dem Nationalsozialismus, gehe es um eine „Volksgemeinschaft“, die Schwächere ebenso ausschließt, wie Menschen anderer Kulturen.
Wie weit ein solcher Sozialdarwinismus jenseits expliziter politischer Parteinahmen in der Gesellschaft verbreitet ist, sehen wir anhand anhaltender Debatten und solcher Überlegungen, alte und kranke Menschen doch einfach sterben zu lassen, wenn die jungen Menschen dafür endlich wieder in die Bars dürfen und die Wirtschaft wieder hochgefahren wird. Wir müssen uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und ob Menschenleben darin tatsächlich einen finanziellen Wert haben. Statt auf einen Kampf „Jeder gegen Jeden“ und das Recht des Stärkeren zu setzen, sollten wir uns eher auf unsere Solidarität besinnen.