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Selfies in Auschwitz Der Holocaust auf Social Media

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Eine beliebte Selfiekulisse: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.
Eine beliebte Selfiekulisse: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. (Quelle: Picture Alliance/dpa/Wolfram Steinberg)

Als vor 76 Jahren, am 27. Januar 1945, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit wurde, fotografierten Soldaten, was sie dort vorfanden: Ungefähr 7000 Häftlinge waren noch im Lager, der Rest wurde ermordet oder zum Todesmarsch Richtung Westen geschickt. Die schwarz-weißen Bilder von ausgehungerten Insassen in gestreiften Uniformen, von Haufen aus Brillen und Prothesen, von Massengräbern und Stacheldraht gingen damals um die Welt. Heute sind die Wachtürme und Bahngleise des Lagers eine beliebte Selfie-Kulisse auf Instagram. Die Erinnerungskultur befindet sich in der Zwickmühle unseres digitalen Zeitalters. Doch die Dokumentation der Shoah auf Social Media ist eine wichtige Aufgabe. Und eine Herausforderung.

Bereits nach Kriegsende setzte sich der spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, damals noch hochrangiger General der Armee, dafür ein, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Lagern filmisch und fotografisch dokumentiert wurden. Über seinen Besuch eines KZ soll Eisenhower in einem Brief berühmterweise geschrieben haben, dass das nötig gewesen sei, sollte sich in Zukunft eine Tendenz entwickeln, die Beschuldigungen gegen das NS-Regime als „Propaganda“ abzutun. So könne er aus erster Hand darüber berichten, was er gesehen habe.

Viele sehen in Eisenhowers Worten eine Vorwegnahme der Holocaustleugnung. Doch seine Worte sind auch aus einem anderen Grund interessant: Die Überlebenden der Shoah werden jedes Jahr weniger, wir verlieren damit lebendiges Wissen über den Holocaust. Ein Problem. Denn einer Studie der „Jewish Claims Conference“ zufolge wissen fast zwei Drittel junger US-Amerikaner*innen nicht, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden während des Holocaust ermordet wurden. Fast die Hälfte der Befragten 18- bis 39-Jährigen konnte kein einziges KZ oder Ghetto nennen. Fast ein Viertel glaubte, der Holocaust sei ein Mythos oder zumindest übertrieben worden. Zwölf Prozent hatten entweder vom Holocaust nicht gehört oder waren sich nicht sicher. Und elf Prozent glaubten, dass Jüdinnen und Juden den Holocaust selber verursacht hätten.

In Deutschland ist das Problem nur marginal besser: Einer CNN-Umfrage aus dem Jahr 2018 zufolge gaben rund 40 Prozent der befragten Deutschen zwischen 18 und 34 Jahren an, „wenig“ oder „gar nichts“ über den Holocaust zu wissen. Jede*r 20. Europäer*in hatte noch nie etwas über die systematische Vernichtung der Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus gehört. In Frankreich war es jeder Fünfte.

Der Holocaust als Hologramm

Ein alarmierender Trend, der sich angesichts der schwindenden Zahl an Zeitzeug*innen in den kommenden Jahrzehnten tendenziell eher verschlechtern könnte. Für Eva Berendsen, Kommunikationsleiterin der „Bildungsstätte Anne Frank“ in Frankfurt am Main, ist das allerdings kein neues Problem: „In der Bildungsarbeit wird seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten die Frage gestellt: Was ist, wenn die Zeitzeugen sich verabschieden? Wie kann man die Geschichten authentisch aus erster Hand vermitteln?“ Es sei aber nie der Fall gewesen, dass jede Schulklasse in jeder Generation ein Zeitzeugengespräch erlebt habe, betont Berendsen. „Man schiebt damit auch die gesamte Verantwortung für die Erinnerungspolitik auf die Schultern der wenigen Überlebenden.“

Dennoch gibt es bereits digitale Lösungen gegen diesen Trend: 2018 eröffnete die interaktive Ausstellung „Survivor Stories Experience“ im „Take a Stand Center“ des Illinois Holocaust Museum & Education Center in Chicago. Dort erzählen 3D-Hologramme von Holocaustüberlebenden ihre Geschichten für kommende Generationen. Besucher*innen könnten den Hologrammen Fragen stellen, die auf bestimmte Schlagwörter reagieren und entsprechend antworten.

Die Ausstellung basiert auf der Technologie des Projekts „Dimensions in Testimony“ der „Shoa Foundation“. Die Stiftung wurde 1994 vom Regisseur Steven Spielberg im Zug der Dreharbeiten zu „Schindlers Liste“ gegründet und gehört mittlerweile zur University of Southern California. Mittlerweile hat sie 52.000 Interviews mit Überlebenden aufgenommen. In Europa sind ihre Hologramme aktuell in Schweden im Rahmen der Wanderausstellung „Speaking Memories – The Last Witnesses of the Holocaust“ zu sehen.

Doch die Digitalisierung des Holocaust birgt auch viele Herausforderungen: Wie lässt sich Erinnerungskultur im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf Social Media angemessen gestalten? „Da kann sehr viel schief gehen“, räumt Berendsen ein. Sie hat recht: Im Internet sind viele problematische Beispiele von digitaler Erinnerungsarbeit zu finden.

Geschminkt und verkleidet

Im Sommer 2020 sorgte ein Trend auf dem Videoportal TikTok für Schlagzeilen: Als „Holocaust Challenge“ inszenierten sich Nutzer*innen der unter Jugendlichen beliebten Plattform als jüdische Opfer der Shoah. In kurzen Videos treten vor allem Mädchen und junge Frauen mit geschminkten Prellungen und vermeintlich „jüdischer Kleidung“ zu trauriger Geigenmusik auf. Sie mimen ihre erfundenen KZ-Geschichten in die Kamera, die von Text-Einblendungen ergänzt werden. Sie berichten vom Jenseits, aus dem Himmel über ihren vermeintlichen Tod während des Holocaust: Eine Userin sei in den Gaskammern in Auschwitz gestorben, eine andere habe einen Eintopf gekocht, als die Nazis ihre Tür aufbrachen und sie ins KZ deportierten.

Viele Nutzer*innen wollten damit einen pädagogischen Beitrag zum Holocaust leisten. Ein Fehlschlag, der nach hinten losging: Die internationale Presse verurteilte die Aktion als geschmacklos. „Es ist wie Fasching“, kritisiert Berendsen. „Es kann in vielen Fällen gut gemeint sein. Doch ich fürchte, weder das Publikum noch die Jugendlichen kommen so den Opfern des Holocaust näher, in dem sie sich in einer lustvollen Art und Weise verkleiden“. Auch Nikolas Lelle, Projektleiter der „Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus“ der Amadeu Antonio Stiftung, hat große Bedenken: „Es ist eine Verhöhnung der Opfer des Holocaust. Es verklärt ihr Schicksal.“

Ein gelungeneres Beispiel von Erinnerungskultur auf Social Media finden Eva Berendsen und Nikolas Lelle die „Eva.Stories“, ein digitales Holocaust-Tagebuch auf Instagram und Snapchat, das die wahre Geschichte der 13-jährigen Ungarin Éva Heyman erzählt. Heyman wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihre Tagebücher wurden posthum von ihrer Mutter veröffentlicht. Durch Fotos, Videos und Hashtags wird Heymanns Schicksal nun für eine neue Generation auf Social Media zugänglich gemacht. „Ich finde es einen sehr spannenden Zugang“, lobt Eva Berendsen. „Es ist sehr aufwendig produziert. Aber obwohl es sich um eine wahre Geschichte handelt, gibt es auch viele fiktionale Momente in diesem Insta-Format.“ Auch Nikolas Lelle sieht das Projekt als Erfolg: „Es ist didaktisch durchdacht und versucht, die Botschaften von damals in ein neues Medium zu übersetzen. Es ist sehr wichtig, dass man den Holocaust auf diesen neuen sozialen Medien bearbeitet – und zwar innovativ.“

Lanciert wurde das Projekt im Mai 2019 von Mati Kochavi, einem israelischen Tech-Magnaten und Nachkommen von Opfern und Überlebenden des Holocaust, mithilfe seiner Tochter Maya Kochavi. 400 Mitarbeiter*innen und Schauspieler*innen arbeiteten an dem Projekt, das mit einem Budget von mehreren Millionen Euro ausgestattet wurde. Mittlerweile haben die „Eva.Stories“ mehr als 1,2 Millionen Follower auf Instagram und knapp 200.000 Abonnent*innen auf Snapchat. Doch das Projekt hat auch für Kritik gesorgt: In der israelischen Zeitung Haaretz schrieb der Musiker und Lehrer Yuval Mendelson von „schlechtem Geschmack“. Zudem könne die „Eva.Stories“ zu noch mehr Selfies vor den Toren von Auschwitz führen, befürchtet Mendelson.

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Auschwitz als Fotokulisse

Dass Konzentrationslager ein stets beliebtes Selfiemotiv sind, ist tatsächlich ein Problem. Eine besonders begehrte Fotokulisse: Die Bahngleise in Auschwitz-Birkenau, die sogenannte „Rampe“. Wie das „Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum“ auf Twitter erinnern musste: Es gibt bessere Orte, um zu lernen, wie man auf einem Schwebebalken läuft. Doch ein Fotoverbot fände das Museum nicht sinnvoll, denn es gibt auch positive Beispiele: Auf seiner Instagram-Seite sammelt das Auschwitz-Museum auch gelungene Besucher*innenfotos, die eine pädagogische Funktion haben. Wie das Museum schreibt: Ein Bild kann mehr als tausend Worte sagen.

Auschwitz auf Instagram: Die Gedenkstätte sammelt positive Fotobeispiele. (Quelle: Screenshot)

Auch das Holocaust-Mahnmal in Berlin wird für Selfies missbraucht. Das thematisierte der israelisch-deutsche Satiriker und Autor Shahak Shapira 2017 in seinem Online-Projekt „Yolocaust“, das mittlerweile wieder offline genommen wurde. Er kopierte die Protagonist*innen zwölf besonders geschmacksloser Fotos – wie beispielsweise eine Yoga-Praktizierende und einen Jongleur – in sehr grafische Szenen in Konzentrationslagern. Laut Shapira generierte die Webseite innerhalb kürzester Zeit über 2,5 Millionen Klicks, viele internationalen Medien berichteten darüber. Die Aktion löste eine große und wichtige Diskussion aus: Wie soll man sich an solchen Gedenkorten benehmen? Sind Selfies überhaupt angemessen? Doch es gab auch Kritik aus Teilen der jüdischen Community, die Shapira vorwarfen, die Bilder von Holocaust-Opfern angeeignet und instrumentalisiert zu haben.

„Es ist kompliziert“, resümiert Eva Berendsen. „Es gibt keine goldene Regel für den Umgang mit dem Holocaust auf Social Media. Und man kann ganz vielen Leuten, auch aus der eigenen Community, auf die Füße treten.“ Kann man also dem Thema Holocaust auf Social Media überhaupt gerecht werden? „Man muss“, sagt Berendsen entschlossen. „Oder man muss es zumindest versuchen“. Auf den Social-Media-Kanälen der „Bildungsstätte Anne Frank“, wo Berendsen die Kommunikationsabteilung leitet, finden sich informative Bilder zu geschichtlichen Ereignissen der Shoah und Fragen zur NS-Geschichte. „Der Geschichtsunterricht hat auch seine Beschränkungen. Das merkt man an der Begeisterung für unser Angebot auf Plattformen wie Instagram.“

Die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main: Ein gelungenes Beispiel von Erinnerungsarbeit auf Social Media. (Quelle: Instagram-Screenshot)

Online-Angebote sind wichtiger denn je, denn der Ausbruch des neuartigen Coronavirus hat den Besuch vor Ort in Gedenkstätten erschwert. Nikolas Lelle lobt vor allem die Online-Arbeit von Gedenkstätten wie dem Auschwitz-Museum und Sandbostel bei Bremen: „Durch die Covid-19-Pandemie hat ein Digitalisierungsschub stattgefunden. Vorher gab es relativ wenige deutsche Gedenkstätten, die man online besuchen konnte. Mittlerweile gibt es einige Virtual-Tour-Guides, teilweise mit Drohnenflügen, wo man die Lager von oben sieht“. Solche Gedenkstätten sind in einer guten Position, Holocaustgedenken auf Social Media zu übertragen, denn sie gehen sensibler mit dem Thema um, so Lelle. „Man braucht historisches Fingerspitzengefühl für diese Sachen.“ Ein wichtiger Punkt, gerade weil Deutschland sich gerne als Erinnerungsweltmeister präsentiert. Denn nicht jede digitale Auseinandersetzung mit der Shoah ist automatisch eine pädagogisch sinnvolle und den Opfern gegenüber respektvolle.

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