Bei der 73. Verleihung des Deutschen Filmpreises im Mai in Berlin räumte Das Lehrerzimmer in fünf verschiedenen Kategorien ab. Das Werk des Filmemachers İlker Çatak erhielt die Goldene Lola als bester Spielfilm. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist ein Gymnasium, an dem etliche Eigentumsdelikte begangen werden. Die Schule rühmt sich damit, eine Null-Toleranz-Politik zu haben, koste es, was es wolle. Aber zuerst geraten Unschuldige ins Visier.
Eine idealistische Lehrerin, von Lola-Preisträgerin Leonie Benesch hervorragend dargestellt, schreibt sich auf die Fahne, der Person, die tatsächlich für die Diebstähle verantwortlich ist, auf die Spur zu kommen. Das gelingt ihr auch. Aber die Konsequenzen verlangen ihr, beruflich und nicht zuletzt seelisch, sehr viel ab. Ohne zu spoilern, kann man schon sagen, die Dynamik im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Ausgrenzung sorgt für 98 fesselnde Minuten. Das Lehrerzimmer sollte also gleichsam Schule machen.
Hier geht es allerdings nicht um Spielfilmrezensionen. Und doch eignet sich Das Lehrerzimmer als thematischer Trailer zu unserem primären Sujet: Sexismus im Kinogeschäft. Zum Glück tangieren die kursierenden Vorwürfe weder Das Lehrerzimmer noch dessen Schöpfer Çatak. Wiederum entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Streifen, der wenige Monaten zuvor auf der Berlinale aus dem Nichts aufgetaucht war und gefeiert wurde, nun bei der Vergabe der Lolas so viel Resonanz bekam und so viel Relevanz besitzt. Der Film demonstriert tatsächlich, dass manchmal nur ein schmaler, rasiermesserscharfer Grat Diskretion und Denunziantentum voneinander trennt. Dabei zeigt er jedoch auch, dass Zivilcourage und Solidarität alternativlos sind – und von diesen Tugenden spürt man an Filmsets nicht nur in Hollywood, sondern auch hierzulande zuwenig.
Ruhe, bitte! Ton läuft!
Aufblende: Außendreh Deutscher Filmpreis. Ein Panoramaschwenk am Potsdamer Platz. Wo ist Til Schweiger? Unter den rund 1.600 eleganten, ja teils extravaganten Eingeladenen, die frühabends eintreffen, ist der Schauspieler, Actionheld und Regisseur noch nicht zu sehen. Komisch.
Schnitt! Kulissenwechsel: Drinnen im Berlinale-Palast wird die Kamera Til Schweiger sicherlich erwischen können, oder? Nein, auch nicht. Während der wichtigsten Auszeichnung des Jahres für Kinofilme aus Deutschland glänzt der 59-jährige Bursche aus dem Breisgau durch Abwesenheit. Anstatt ein Bad in der Menge zu nehmen, anstatt das bisschen Blitzlichtgewitter zu ertragen, zog er einen Aufenthalt in seiner Finca auf Mallorca vor.
Schon mehr als anderthalb Jahrzehnten ist Schweiger dafür bekannt, seine Regiearbeiten nur einem kleinen, handverlesenen Publikum vorab vorzuführen. Aber den Deutschen Filmpreis zu schwänzen? 2008 war er als Mitglied der Deutschen Filmakademie ausgetreten, weil sie seinen Kassenschlager Keinohrhasen (2007) nicht bei den Lolas ins Rennen geschickt hatte. Trotzdem wäre 2023 eine ideale Gelegenheit dafür gewesen, auf seine neue Hit-Komödie Manta, Manta – Zwoter Teil aufmerksam zu machen.
Doch Schweiger ist in den letzten Wochen das Lächeln vergangen. Sein letzter medienträchtiger Auftritt war Ende April 2023 bei den Jupiter Awards in Hamburg. Da wirkte er in seinem grauen Mantel noch frohen Mutes. Ein paar Stunden später schlug aber dann die Bombe ein. Der Spiegel berichtete über Schweigers Umgang mit mehr als 50 Kolleg*innen an Filmsets. Sein Verhalten habe regelmäßig für ein „Klima der Angst“ gesorgt, das von wüsten Beschimpfungen, Schikanen, Sexismus und Handgreiflichkeiten im alkoholisierten Zustand geprägt worden sei, heißt es im Artikel. Schweiger bestreitet die Vorwürfe über seine Anwältin.
Im Wesentlichen nichts Neues?
„Ich bin ein großer Verdränger“, offenbarte er 2022 in einem Interview zu seinem Film Lieber Kurt. In der Verfilmung des Romans Kurt von Sarah Kuttner spielt Schweiger überzeugend einen sensiblen Vater, der den Tod seines kleinen Sohnes betrauert.
Gleichwohl soll er am Set desselben Filmes Menschen eingeschüchtert und sogar Panikattacken und Burn-out-Fälle verursacht haben.
Ähnlich sei es bei der von Constantin Film jüngsten Manta-Auflage zugegangen heißt es im Spiegel. Das Münchener Unternehmen gab sich loyal, was sein großes Zugpferd betraf. Die Vorwürfe gegen Schweiger seien „überwiegend unvollständig und verzerrend, teilweise auch wiederum schlicht falsch“, konterte Constantin auf Nachfrage der Journalistinnen. Seine Anwaltskanzlei erklärte, einige der behaupteten Sachverhalte seien ihm „nicht bekannt“, andere habe es gar nicht gegeben.
Fans des „Imperators“ – wie er laut Spiegel von der Crew genannt wurde – nahmen ihn reflexhaft in Schutz. Er sei ja Wohltäter. Seine 2015 in Hamburg gegründete „Till Schweiger Foundation“ hat den erklärten Zweck, Kinderarmut zu bekämpfen. Bei der Kampagne #EsIstZeit sprach er sich für die gleichgeschlechtliche Ehe aus, und er engagierte sich nachweislich für Geflüchtete. Und er wolle die Frauen schützen. Bereits 2011 bei Markus Lanz, als es ihm gelungen war, den Talkmeister zu unterbrechen, hatte er eine „Meldepflicht für Sexualstraftäter“ gefordert. Gleichwohl aber geiferte er noch vor wenigen Monaten voller Macho-Süffisanz, als sei er Sylvester Stallone auf Steroiden: „Wir wollten […] keinen Woke-Film machen.“ Zudem streitet er seit Jahren unerbittlich mit der Drehbuchautorin Anika Decker, die vor Gericht für höhere Anteile für ihre Arbeit bei Keinohrhasen und Zweiohrküken kämpft. Bislang bekam sie dafür 50.000 Euro bzw. 157.000 Euro Gage, beide Filme zusammen haben um die 113 Millionen Euro eingespielt.
Niemand Geringeres als Volker Schlöndorff, der zugegen war, um seinen Ehrenpreis abzuholen, verteidigte in seiner Dankesrede, Zustände an den Filmsets.
„An einem Filmset wird nicht mehr geflucht oder geschrien als auf jeder Baustelle auch“, erklärte der Regisseur. „Außerdem arbeiten wir nicht mit Holz oder Metall, sondern mit Gefühlen, mit Emotionen. Da muss man auch welche haben, und da muss man sich auch mal gehen lassen. Das erwarten wir ja auch von den Schauspielern, dass sie sich gehen lassen. Und wir bringen das unter uns immer wieder in Ordnung. Und ich mag das überhaupt nicht, dass das jetzt so hochgespielt hat. Ausnahmen gibt es überall.“
Bei dem 84-jährigen Marathonläufer Schlöndorff handelt es sich nicht lediglich um einen Greis vom Griebnitzsee, sondern vielmehr um den Grand Monsieur des deutschen Kinos. Seine Verfilmung von Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel brachte ihm1979 die Palme d’Or und 1980 den Oscar. Heute aber redet er Blech, während er die Trommel rührt und für eine Fortsetzung der Regieführung nach Altherrenmanier wirbt. Eine Baustelle? Wohl wahr. Man(n) bringe alles unter sich ins Lot? Das ist das Problem. Und Ausnahmen, die es überall gibt? Ja, diese werden eigentlich „Regeln“ genannt, und das sind de facto die Spielbedingungen einer patriarchalisch geprägten Industrie. Bei aller Liebe, aber Schlöndorffs nächster Film könnte Im Wesentlichen nichts Neues heißen.
It’s a man’s wor(l)d
Auf derselben Gala fragte die ARD-Fernsehsendung Zapp ausdrücklich auch Frauen nach ihrer Meinung zum Skandal. Palina Rojinski reagierte, als spräche sie für eine Stummfilmrolle vor. Untertitel mit drei Auslassungspunkten waren zu sehen. Schauspielerinnen Leonie Benesch und Svenja Jung dahingegen nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie forderten institutionelle Änderungen bzw. einen verschärften Arbeitsschutz in der Branche. Moderatorin Jasmin Shakeri teilte zudem gehörig angriffslustig aus: „Das Problem ist nicht nur der Schweiger, sondern auch die Schweiger.
Allerdings erst dann, als Nora Tschirner auf Instagram ihre Erfahrungen ansprach, erhielt diese neue Welle von #MeToo-Anschuldigungen in Deutschland ein prägendes Gesicht. Es sei längst ein „offenes Geheimnis, dass diese Zustände herrschen“, so die 41-Jährige. Ihre Solidarität mit den Betroffenen wurde mit einem Shitstorm quittiert.
Die Angst vor Repressalien seitens mächtiger, populärer Männer ist sehr groß. Frau will sich nicht mit teuren Verleumdungsklagen und zermürbenden Strafanzeigen wegen Falschverdächtigung herumschlagen. Polizei und Justiz winken ohne handfeste Beweise sowieso ab und weisen auf die losen Sitten und Gepflogenheiten der Filmindustrie hin.
Dieter Wedel, der sich seinerzeit zahlreichen Vorwürfen sexueller Übergriffe ausgesetzt sah, blickte ihnen meist gelassen entgegen. Einige Fälle reichten mehrere Dekaden bis 1975 zurück, lange bevor Schauspielerin Jany Tempel ihn beispielsweise 2018 bezichtigte, sie 1996 vergewaltigt zu haben. Schauspielerin Esther Gemesch sprach überdies von einem Übergriff 1980 im Hotel, bei dem er sie an der Halswirbelsäule verletzt und traumatisiert habe. Demzufolge habe man ihre Rolle mit Ute Christensen neu besetzt, von der Wedel aber gleichfalls der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde. Und der Regisseur nahm gerne die Opferrolle an. It’s a man’s wor(l)d. Vieles war eh verjährt, anderes zog sich in die Länge. Erst Mai 2022 erhob die Münchener Staatsanwaltschaft Anklage gegen Wedel, aber mit dem Tode des 82-Jährigen weniger Monate später wurde das Verfahren eingestellt.
Nicht unter den roten Teppich kehren
„Wir sind auch hier, um Probleme deutlich zu benennen: Abhängigkeitsverhältnisse, Machtmissbrauch, tätliche Übergriffe, sexualisierte Gewalt am Set“, mahnte Kulturstaatsministerin Claudia Roth an, und zwar während der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Die Akademiepräsident*innen Alexandra Maria Lara und Florian Gallenberger betonten, das Filmset müsse zum „Ort des Respekts und des Teamgeists“ werden. Die Filmakademie arbeitet tatsächlich mit der Vertrauensstelle THEMIS gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e.V. zusammen. Diese Einrichtung, die sich aus Verbänden der Arbeitnehmenden, Sendern und weiteren Institutionen der Kultur- und Medienbranchen zusammensetzt, berät Opfer und steht ihnen zur Seite. Das Präsidium der Deutschen Filmakademie verspricht auch, sich für die Ausweitung der Zuständigkeit von THEMIS einzusetzen, damit Machtmissbrauch auch jenseits sexueller Übergriffe berücksichtigt werden kann.
Parallellaufend muss der Staat besser darauf achten, wem er subventioniert und ihm bei Bedarf den Geldhahn zudrehen. Diesbezüglich sei fürsorglich erwähnt: Aus dem öffentlichen Topf der Filmstiftung NRW erhielten Til Schweiger und Constantin Film für Manta, Manta – Zwoter Teil eine Förderung in Höhe von insgesamt 1,2 Millionen Euro. Steuergelder für Sexismus am Set? Ungeachtet dessen hat Constantin mittlerweile eine Art Kehrtwendung gemacht. Martin Moszkowicz, Chef der Produktionsfirma, entschuldigt sich bei Betroffenen für das Stillschweigen und stellt sogar Schadensersatzforderungen gegenüber Schweiger in Aussicht. Darüber hinaus gab er ausdrücklich zu: „Nora Tschirner hat Recht.“
Fakt ist, der Kampf für Gerechtigkeit in der Filmindustrie muss als Mehrfrontenkrieg geführt werden. Drehen, hindrehen, aber nicht länger wegdrehen. Und die Breite und die Tiefe des sich rüstenden Widerstandes gegen den Missbrauch machen Hoffnung. Und wenn man das Haus aufräumt, dann bitte ganz. Die Initiative Pro Quota Film zielt auf mehr Sichtbarkeit für Frauen, Stichwort 50 Prozent, und das Ende stereotyper Darstellungen. Zu den zu beseitigenden Missständen zählt auch die Diskriminierung, die Frauen ab ab Mitte 40 in der Branche schon auf Grund ihres „fortgeschrittenen“ Alters bislang über sich ergehen lassen mussten. Omas Spielen oder ansonsten in Rente gehen. Die Kampagne #LetsChangeThe Picture, von der Berliner Schauspielerin Gesine Cukrowski (54 J.) und Palais F*luxx ins Leben gerufen, will das ändern und überhaupt für mehr soziale und sexuelle Vielfalt im Film sorgen. Mit stolzen 61 Jahren zähle ich auch zur Kampagne. Die Arbeit, die Belinde Ruth Stieve (55 J.) als „Königin der Zahlen“ leistet, ist zudem sehr grundlegend, da sie akribisch Buch führt, was die Präsenz von Frauen in der Branche betrifft.
In Kürze erscheint der Spielfilm Geschlechterkampf – Das Ende des Patriarchats (Regie: Bodo Swobodnik) mit Hauptdarstellerin Margarita Breitkreiz, und es ehrt mich dabei zu sein. Der Name ist Programm, und es handelt sich um eine Schauspielerin 40+, die der Diskriminierung in Film und Theater trotzt. Darin haben Dr. Reyhan Şahin, alias Lady Bitch Ray, und ich Cameoauftritte. Bei den Dreharbeiten zu meiner Szene an der Volksbühne wurde ich vorbildlich behandelt und fürstlich belohnt. Es geht doch, und schließlich habe alle etwas davon.