Die gute Nachricht zuerst: Schon seit Jahren versuchen die großen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter etwas gegen Hass, Hetze und Desinformation in ihren Netzwerken zu unternehmen. Das funktioniert mal besser und mal schlechter. In Deutschland hat das NetzDG dazu beigetragen, dass Rassismus, Antisemitismus und Fake News seltener sichtbar werden. Und auch Initiativen und Projekte aus der Zivilgesellschaft versuchen Diskriminierungen und Falschinformationen aus den sozialen Medien zu verdrängen. Das gefällt nicht allen. Wenn Desinformation zum eigenen Geschäftsmodell gehört oder antidemokratische, reaktionäre oder diskriminierende Inhalte unverzichtbar sind, dann braucht es Alternativen. Das neueste Rechtsaußen-Netzwerk heißt Gettr. Angeblich trifft sich hier im Namen der Meinungsfreiheit alles, was Rechtsaußen Rang und Namen hat.
Bei Gettr (abgekürzt von „get together“) handelt es sich um eine sogenannte „Alt Tech“-Plattform, also eine der Alt-Right zugeordnete Webseite, oft mit Social-Media-Funktion, die als Ersatz für Mainstream-Plattformen dienen soll. Ende 2021 hatte die Plattform drei Millionen Nutzer:innen, 400.000 davon nutzten den Service täglich. Mittlerweile dürften es allerdings mehr sein, nachdem sich mehrere reichweitenstarke amerikanische Twitternutzer:innen angemeldet haben. Gettr ist nicht der erste Versuch der Szene, von den großen Anbietern unabhängig zu werden: Schon seit 2017 gibt es Gab, ein Twitter-Klon, auf dem sich Rechtsextreme, Neonazis und Reichsbürger:innen tummeln. Im Mainstream angekommen ist dieses Netzwerk allerdings nie.
Mit dem unschönen Ende der unschönen Präsidentschaft von Donald Trump schien sich 2021 eine neue Möglichkeit für eine alternative Plattform zu bieten. Nach den Unruhen in Washington D.C. am 6. Januar 2021 griffen die Social-Media-Riesen durch. Donald Trump wurde von Twitter gesperrt, der Plattform über die er jahrelang Unwahrheiten und Hetze versprühen konnte. Dazu verlor er seine Konten auf Facebook und Instagram. Aber nicht nur den damaligen Präsidenten traf der Bann, sondern auch einige wichtige Unterstützer:innen.
Trump kündigte damals ein eigenes Social Network an, um den Tech-Giganten auszuweichen – das ausgerechnet „Truth Social“ heißen soll. Ein Blog, das er später startete, hatte allerdings nur wenig Erfolg und wurde nach wenigen Wochen wegen minimaler Zugriffszahlen wieder eingestellt. „Truth Social“ ist aber offenbar noch in Planung und soll im Februar 2022 gelauncht werden. Jason Miller, einer von Trumps Sprechern und Beratern, verkündete im Juni 2021 noch die Einstellung des präsidialen Blogs. Nur kurze Zeit später wurde bekannt, dass Miller Trumps Team verlassen würde, um CEO eines Startups namens Gettr zu werden. Symbolträchtig wurden die App und die Website am 4. Juli 2021, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, veröffentlicht. In der Selbstdarstellung der Plattform geht es um „freie Meinungsäußerung“ und gegen „Cancel Culture“ – in der deutschen Version als „Löschkultur“ übersetzt – es wird explizit ein konservatives bis reaktionäres Publikum angesprochen.
Außer Miller ist auch Tim Murtaugh mit an Bord, ebenfalls ein ehemaliger Trump-Wahlkampfsprecher. Angeblich in beratender Funktion ist Guo Wengui dabei, ein chinesischer Milliardär und Dissident, der 2014 aus der Volksrepublik geflohen ist. Wengui ist ein Geschäftspartner von Steve Bannon und steht laut Washington Post im Zentrum eines breit gefächerten Desinformations-Netzwerks über das Verschwörungsnarrative zu Covid-19 und QAnon verbreitet werden. Obwohl Miller den Einfluss des chinesischen Beraters herunterspielt, belegen Recherchen der amerikanischen Website The Daily Beast, dass Gettr tatsächlich eine neue Version einer chinesischen App namens Getome ist, die von Guo entwickelt wurde. Chinesische Accounts, die bereits existierten, wurden kurzerhand gelöscht, die App umbenannt und als Patrioten-Plattform neugestartet.
Obwohl Donald Trump bis heute keinen Account auf Gettr betreibt, sind viele seiner Unterstützer:innen oder ehemaligen Mitarbeiter:innen auf der Plattform vertreten. Dazu andere Influencer:innen und Politiker:innen aus dem Spektrum ziemlich weit rechts der Mitte, von denen viele keine Accounts bei den großen Plattformen mehr haben: Unter anderem Steve Bannon (718.000 Follower:innen), Joe Rogan, ein Podcaster aus dem Alt-Light-Spektrum (9 Millionen Follower:innen), Jordan Peterson, Lieblingsphilosoph von Männerrechtler:innen und Trump-Fans (2,5 Millionen Follower:innen), Jair Bolsonaro, der rechtsextreme Präsident Brasiliens (544.000 Follower:innen), Tommy Robinson, ehemaliger Hooligan, jetzt rechtsextremer Aktivist und „Brand Ambassador“ für Gettr in UK (135.000 Follower:innen) oder auch Marjorie Taylor-Greene, QAnon-Abgeordnete aus den USA, die erst im Januar 2022 ihren Twitter-Account verloren hat (635.000 Follower:innen).
Diese Aufzählung lässt es schon vermuten: Gettr spielt vor allem in den USA eine größere Rolle. Trotzdem gibt es mittlerweile auch eine deutsche Community auf der Plattform. Auch hier sind es hauptsächlich Accounts aus dem Verschwörungsmilieu und weit rechts der Mitte, die auf Gettr aktiv sind. Viele davon mittlerweile von den großen Plattformen gelöscht: etwa Martin Sellner, Chef der rechtsextremen „Identitären Bewegung“. Schon 2018 verbannten Facebook und Instagram den Österreicher von ihren Plattformen, im Juli 2020 zog Twitter nach und löschte sein Konto, genau wie YouTube. Damit verlor der rechtsextreme Aktivist massiv an Reichweite. Auf YouTube hatte Sellner noch 100.000 Abonnent:innen, 40.000 Menschen folgten ihm auf Twitter. Bei Gettr sind es jetzt nur noch 4.200.
Auch die „Vulgäre Analyse“ um den nur unter Pseudonym auftretenden Aktivisten „Shlomo Finkelstein“, ein (ehemaliges) YouTube-Format, das mittlerweile nur noch auf alternativen Plattformen zu finden ist, ist auf Gettr mit knapp 4.000 Follower:innen aktiv. „Finkelstein“ ist in der Vergangenheit vor allem durch extremen antimuslimischen Rassismus und Beleidigungen aufgefallen. Schon seit längerem ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn, der Betreiber ist in den Untergrund abgetaucht. Gettr toleriert den Account nicht nur auf der Plattform, sondern verordnet den rassistischen Aktivisten hinter dem Format sogar VIP-Status: Das Konto ist verifiziert und sticht allein deswegen heraus. Plattform-Chef Jason Miller persönlich lässt sich von den Rechtsextremen interviewen. Im Gegenzug läuft vor den Videos Werbung für Gettr.
Auch wenn die deutsche Community auf der Plattform noch klein ist, so scheint sich das Unternehmen doch um sie zu bemühen. Etwa um Boris Reitschuster. Der ehemalige Focus-Russland-Korrespondent, der mittlerweile zum Lieblingsjournalisten der „Querdenken“-Szene avanciert ist, wurde etwa allen Ernstes als „Freedom Fighter of the Year“ bei den „Gettie Awards“ ausgezeichnet, einer Award-Feier von Gettr.
Gettr-Chef Miller ist ebenfalls Fan des Journalisten, der immer wieder knapp an der Desinformation vorbeischrammt (mehr dazu lesen Sie hier). Über 151.000 Follower:innen hat Reitschuster mittlerweile auf Gettr.
Dabei deuten gerade diese hohen Zahlen, auf die Reitschuster stolz immer wieder verweist, auf eine fragwürdige Geschäftspraktik des Unternehmens hin. Denn ein Twitter-Konto kann mit Gettr verbunden werden. Das bedeutet, dass Twitter-Follower:innen automatisch zu Gettr-Follower:innen werden.
Bei Reitschuster sind also laut der Website 91.800 Follower:innen überhaupt nicht auf Gettr angemeldet, sondern werden kurzerhand von Twitter übernommen. Mehr als die Hälfte der Gettr-Follower:innen, auf die Reitschuster so stolz ist, sind also wenig mehr als ein Zahlentrick.
Aber nicht nur die Follower:innen werden von Twitter übernommen, sondern auch die Inhalte. Die Plattform erlaubt es, Tweets direkt zu übertragen. Und auch die User:innen, die keine Twitter-Accounts mehr haben, scheinen Gettr eher als Backup zu nutzen. Neue oder innovative Inhalte sind kaum zu finden. Vielmehr handelt es sich in der Regel um Content, der zuvor bereits auf Telegram, YouTube oder alternativen Plattformen gepostet wurde.
Vor allem die deutsche Community setzt sich aus mehreren größeren, aber vor allem zahlreichen kleineren Accounts zusammen, die selbst keinerlei Beiträge oder Interaktion mit anderen kleineren Accounts haben: Gettr ist eine weit weniger interaktive Plattform als Twitter. Auch unter den Postings reichweitenstarker Accounts gibt es kaum Diskussionen der Kommentierenden untereinander, höchstens allgemeine Zustimmung. Gettr funktioniert als Echokammer für die radikale und extrem Rechte. Praktisch alle Accounts der Plattform sind dem rechtspopulistischen bis rechtsextremen Spektrum zuzuordnen (so viel zum viel beschworenen „Meinungsaustausch“).
Die Plattform ist aber nicht nur Echokammer, sondern womöglich auch Sicherheitsrisiko. Schon am Tag des Launches wurden die Server gehackt. Tage später wurden 90.000 Email-Adressen von User:innen geleakt. Und auch von der eigenen Seite hagelt es immer mehr Kritik. Die Rechtaußen-User:innen sind alles andere als begeistert von Guo Wengui, dem chinesischen Investor. Aktuell machen sie ihn für das Verschwinden von Nick Fuentes von der Plattform verantwortlich. Der Account des rechtsextremen Holocaustleugners wurde offenbar mehrfach gelöscht.