Frau Radvan, wie sieht das rechtsextreme Erziehungsideal aus?
Von einem einheitlichen Erziehungsideal kann man nicht sprechen. Vieles, was wir wissen, basiert auf Beobachtungen von Erzieherinnen, Lehrern und Pädagogen. Eine wichtige Quelle sind Aussteigerinnen mit Kindern. Sie berichten über Erziehungsmethoden, die so vielfältig sind wie die Szene. Alle verfolgen das Ziel, ihren Nachwuchs ideologisch zu prägen. Die Kinder bekommen das rassistische Weltbild von klein auf beigebracht.
Gibt es rechtsextreme Erziehungsratgeber?
Ja, das sind zumeist Bücher aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sie empfehlen eine strenge, autoritäre Erziehung, raten dazu, Kinder nicht zu „verzärteln“. Insbesondere die Jungen sollen „hart wie Kruppstahl“ werden.
Die Rollenbilder für Männer und Frauen sind im Rechtsextremismus sehr traditionell. In den völkischen – das heißt natur- und kultorientierten – Familien tragen die Mädchen oft ausschließlich Kleider und Zöpfe. Jungen wie Mädchen müssen frühzeitig Mutproben in Jugendlagern bestehen, etwa ungesichert über steile Abhänge klettern. Aber diese Erziehungsmethoden sind nicht in der ganzen Szene verbreitet.
Es gibt Foren, in denen Neonazi-Eltern über Erziehung diskutieren. Einigkeit herrscht fast durchweg darüber, dass Kinder frühzeitig Gehorsam und Pflichtbewusstsein lernen sollen. Sie lernen außerdem, dass nicht alle Menschen gleich viel wert sind, dass Jungen und Mädchen verschiedene Rollen haben.
Wie sieht so eine Kindheit in braun aus?
Bis zu ihrem Verbot 2009 gab es die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ), die Kinder von Neonazis ausbildete. In den HDJ-Lagern wurden Kinder ideologisch geschult, aber auch körperlicher Drill – Morgenappelle, Frühsport und Mutproben – gehörten dazu. Solche Lager gibt es auch heute noch.
Und wie prägt die Ideologie den Alltag?
Es gibt bestimmtes Spielzeug – antisemitische Brettspiele, rassistische Kinderbücher und Filme, viel Militärisches. Die Kinder werden „kleine Kameraden“ genannt. Rechtsextreme Zeitungen bieten Kinderseiten, auf denen die Kinder lernen, dass die Grenzen der BRD nicht richtig seien, sondern die deutschen Grenzen vielmehr im heutigen Polen liegen würden.
Oft dürfen die Kinder und Jugendlichen auch keine englischen Begriffe verwenden. Das Internet heißt Weltnetz, T-Shirts werden T-Hemden genannt und statt Pizza essen diese Kinder Gemüsetorte. Fastfood ist verpönt, sie dürfen auch nur bestimmte Musik hören. Und oft werden auch Handys und MP3-Player abgelehnt.
Und natürlich dürfen diese Kinder auch nur mit sogenannten deutschen Kindern spielen. Oft machen die Kinder ja in Kita und Schule Erfahrungen, die im Widerspruch zur Ideologie der Eltern steht. Das ist ein enormer Druck und bringt die Kinder in Loyalitätskonflikte.
Gehört Gewalt zur Erziehung dazu?
Wenn man sich anschaut, was in den Lagern der HDJ geschehen ist – ja. Eine Erziehung, die darauf aus ist, Kinder abzuhärten und die ihnen einen politischen Kampf abfordert, ist gewalttätig. Auch wenn natürlich auch rechtsextreme Eltern ihre Kinder lieben.
Wie verhalten sich die Kinder, wenn in der Schule der Nationalsozialismus durchgenommen wird?
Ihnen wird von klein auf beigebracht, dass sie sich im Widerstand befinden und ihr Wissen über den Nationalsozialismus das Richtige sei. Sie lernen, dass Erzieher und Lehrer Feinde sind und die historische Unwahrheit vermitteln. Die Eltern erwarten oft, dass die Kinder das ab einem gewissen Alter auch offen vertreten.
Die Kinder und Jugendlichen werden frühzeitig rhetorisch geschult, Fragen zu stellen oder Behauptungen zu formulieren, die den Lehrer verunsichern sollen. Manche Lehrer haben es mittlerweile in einer Klasse nicht mit einem, sondern mehreren Kindern aus dem rechtsextremen Milieu zu tun. Das ist eine enorme pädagogische Herausforderung, nicht zuletzt weil diese Jugendlichen ihre Meinung als Überzeugung vertreten.
Ist da nicht irgendwann ein Konflikt mit den Eltern und der Ausstieg programmiert? Aus den Kindern der Hippies sind ja größtenteils auch keine Hippies geworden.
Hippie-Kinder wurden weniger stark ideologisch erzogen und waren auch kaum von einem Liebesentzug durch die Eltern bedroht. In vielen rechtsextremen Foren diskutieren Eltern darüber, wie sie reagieren, wenn die Kinder die Ideologie irgendwann doch ablehnen. Da schreibt beispielsweise ein Vater, dass er seine Tochter verstoßen würde, wenn die einen ausländischen Freund hätte. So ein Verhalten schafft Abhängigkeiten.
Ein Ausstieg ist für sich schon schwierig genug. Wenn neben den Freunden auch die ganze Familie der Szene angehört, verlieren Aussteiger ihr gesamtes Umfeld. Mittlerweile gibt es rechtsextreme Sippen in vierter Generation.
Wie fallen Kinder aus rechtsextremen Familien auf?
Im Kindergartenalter ist die Unauffälligkeit noch das Auffälligste. Oft lernen sie von ihren Eltern, nichts von zu Hause zu erzählen. Sie sollen verheimlichen, dass sie das Wochenende in einem Lager mit Schulungen, Appellen und Mutproben verbracht haben. Sie müssen schon von klein auf lügen.
Auch die Eltern sind häufig nicht sofort als rechtsextrem zu erkennen, weil sie unauffällig erscheinen und eher wie Ökos wirken. Die Mütter tragen nicht selten lange Röcke, legen Wert auf Bio-Nahrung und machen Yoga. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass diese Familien auch Anhänger des Germanenkults sind. Einige verehren „Odin statt Jesus“ und verwenden germanische Begriffe anstatt der römischen Monatsbezeichnungen. Es gibt ein Kind, das im Kindergarten ein Hakenkreuz gemalt hat und der Erzieherin dann erklärte, das Zeichen sei doch nur eine Rune.
Wie viele Kinder werden in rechtsextremen Familien groß?
Das ist sehr schwierig. Rechtsextreme gibt es überall und nicht alle bekennen sich offen dazu. Seit den neunziger Jahren aber steigt ihre Anzahl. Das hängt auch mit dem wachsenden Frauenanteil in der Szene zusammen. Skingirls heiraten Neonazis und gründen mit ihnen Familien. Meist bekommen diese Paare nicht nur ein Kind – die Großfamilie gilt als natürliches Ideal.
Viele Paare wenden sich dann eher dem Völkischen zu. Manche haben Siedlungsprojekte in den ländlichen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg unternommen. In solchen Siedlungen können Kinder aus rechtsextremen Familien in der Überzahl sein, das sind aber Einzelfälle.
Wie verändern die Familien die Szene?
Viele Neonazis versuchen, im Alltag nicht aufzufallen. Das ist über die Familie natürlich einfach. Man engagiert sich in Krabbelgruppen, Kitas, Grundschulen, Sportvereinen und versucht erst einmal, nicht anzuecken. Erst wenn der erste Kontakt und Vertrauen hergestellt wurden, versuchen rechtsextreme Mütter und Väter, andere in Diskussionen zu verwickeln.
Was können Pädagogen tun?
Sie sollten den Kontakt zu diesen Kindern nicht verlieren. Von Aussteigern wissen wir, dass oft ein Mensch für sie entscheidend war, der sie akzeptierte, aber in ideologische Widersprüche verwickelt hat. Ausgrenzung ist jedenfalls keine Lösung.
Ein Problem ist, dass die Kinderbetreuung immer stärker in der Szene selbst organisiert wird. Es gibt rechtsextreme Hebammen und Tagesmütter. Manche Kinder kommen erst mit der Einschulung in Kontakt mit demokratischen Strukturen.
Heike Radvan ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und Rechtsextremismusexpertin. Sie leitet bei der Amadeu Antonio Stiftung die Fachstelle Gender und Rechtsextremismusprävention.
Dieser Text erschien am 10.04.2012 auf ZEIT online. Mit freundlicher Genehmigung.
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