Experten wie Jan Rathje von der Amadeu Antonio Stiftung verneinen das deutlich: „Reichsbürger gibt es, auch in großer Zahl, schon deutlich länger. Allerdings wurden sie von der Öffentlichkeit kaum beachtet – bis Wolfgang P. Mitte Oktober 2016 in Georgensgmünd bei einer Waffenrazzia einen Polizisten erschoss. Neu ist also vor allem die Sichtbarkeit.“
Erst mit dem Mord von Georgensgmünd trat ins öffentliche Bewusstsein, was vorher nur Expert_innen bewusst war: „Reichsbürger_innen“ , die die legitime Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen oder ablehnen, und ähnliche „Selbstverwalter_innen“, die in ihren Häusern eigene „Reiche“ mit Fantasiedokumenten errichten, sind keine mehr oder weniger harmlosen „Spinner_innen“. Inhaltlich sind viele von Ihnen rechtsextrem und antisemitisch eingestellt, und sie leben in einer Welt der Verschwörungserzählungen – besonders der antisemitisch konnotierten „anti-deutschen Weltverschwörung“. Deshalb erleben sie permanent Bedrohungsszenarien – und beantworten dies mit großer Affinität für Waffen. Viele Reichsbürger_innen besitzen deshalb legale oder illegale Waffen, und dies auch in größeren Mengen (vgl. allein die Meldungen zu „Reichsbürger_innen“ im Nov. und Dez 2017).
Seit dem Mord von Georgensgmünd ist die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden in Bezug auf das Reichsbürger-Millieu gewachsen. Dies vor allem erklärt den Anstieg von rund 10.000 von den Behörden erfassten „Reichsbürger_innen“ Anfang 2017 auf 15.600 erfasste „Reichsbürger_innen“ Anfang 2018 – wobei bisher auch jegliche Erklärungen fehlen, wie diese Zahlen von den Sicherheitsbehörden überhaupt erhoben werden und wer genau erfasst wird. Denn unter „Reichsbürger_innen“ werden nicht nur diejenigen erfasst, die von der Fortexistenz irgendeines Deutschen Reiches überzeugt sind. Unter den Sammelbegriff fallen auch „Selbstverwaltende“, die glauben, aus dem Staat austreten zu können und eigene Staaten gründen. Souveränistinnen und Souveränisten fordern eine Wiederherstellung staatlicher Souveränität und verbreiten dabei das Bild der Fremdherrschaft über die Deutschen (vgl. BTN)
Der „Focus“ berichtet mit Bezug auf Sicherheitsbehörden, dass „in Ostdeutschland“ innerhalb der „Reichsbürger“-Szene der Aufbau einer eigenen Armee geplant werde. Dazu meint Experte Jan Rathje: „Das beinhaltet einen Kern des Richtigen. Allerdings geht es dabei weniger um eine „Armee“, sondern es muss davon ausgegangen werden, dass sich das Milieu, dem US-amerikanischen Vorbild des Militia Movements und der Souvereign Citizens folgend, eher in einem Netzwerk bewaffneter Milizen organisiert. Solche Gruppen könnten dann etwa bei Zwangsvollstreckungen bewaffneten Polizeieinheiten gegenüber stehen. In Reuden wurde bereits im August 2016 beim Fall Adrian Ursache demonstriert, dass eine Vernetzung von Einzelpersonen bereits existiert und diese mobilisierbar sind.“
Der Fall Adrian Ursache
Der Fall Adrian Ursache könnte für die Radikalisierung des Milieus auch in Zukunft bedeutungsvoll sein – und ebenso der Umgang des Staates damit.
Adrian Ursache, 43, ehemaliger Mister Germany und heute Handyverkäufer und Solar-Unternehmer, gehört zum Milieu der „Selbstverwalter“. Auf seinem Grundstück in Reuden in Sachsen-Anhalt hatte er den Fantasie-Staat „Ur“ ausgerufen. Weil Ursache Schulden hatte, wollte ein Gerichtsvollzieher das Haus im August 2016 zwangsräumen – und traf auf dem Grundstück auf Anhänger, die die Räumung verhindern wollten (was Ursache verneint). Am folgenden Tag kam es zum Einsatz von rund 200 Polizist_innen, um die Zwangsräumung durchzusetzen. Sie stürmten teilweise mit erhobenen Waffen das Grundstück, auf dem auch Ursache mit einer Waffe auf die Polizisten waret. Die Situation eskalierte. Ursache wird angeschossen und schwer verletzt, auch er soll auf Polizisten geschossen haben. Zwei Polizisten werden verletzt. Für die Legendenbildung innerhalb der rechten und staatsfeindlichen Verschwörungscommunity sind das bereits gute Voraussetzungen. Doch im Prozess wird den „Reichsbürgern“ noch mehr Verschwörungsstoff geliefert.
Der Fall wird aktuell vor dem Landgericht Halle verhandelt. Adrian Ursache ist wegen versuchten Mordes, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Verstoßes gegen das Waffengesetz angeklagt. Er soll beim Polizeieinsatz am 25. August 2016 gezielt auf den Kopf eines SEK-Beamten geschossen und ihn dadurch verletzt haben. Er bestritt dies von Prozessbeginn an. Allerdings stellte er auch diverse Befangenheitsanträge gegen die Richter und beschimpfte das Gericht, dass er nicht anerkenne – teilweise so heftig, dass der Richter ihn des Gerichtssaales verweist und ohne den Angeklagten weiterverhandelt.
… und wie der zur Radikalisierung des Milieus beiträgt
Im Verlauf des Verfahrens gewinnt Ursache allerdings zunehmend Boden – weil sich Verfahrensfehler häufen und die Hilflosigkeit der Behörden im Umgang belegen. So sei etwa beim Polizeieinsatz kein psychologisch geschulter Beamter der Polizei vor Ort gewesen – dies sei aber vorgeschrieben. Ursaches Anwälte argumentieren außerdem, Videos würden beweisen, dass Ursache das Gespräch mit dem Beamten gesucht habe – allerdings mit gezogener Waffe. Auch sei Ursache kein Haftbefehl eröffnet worden – was Gruppenführer der Bereitschaftspolizei bestätigten. Und der Gerichtsvollzieher sei auch nicht bei der Erstürmung des Grundstückes anwesend gewesen – und damit die Zwangsvollstreckung rechtswidrig.
Mehr noch: Es lässt sich nicht erhärten, dass Adrian Ursache zuerst auf die Beamten geschossen hätte. Es ist noch nicht einmal klar, ob er überhaupt geschossen hat. Im Prozess häufen sich Ungereimtheiten: Beamte, die sich nicht erinnern, Gutachter, die Dienst nach Vorschrift machen, und Ermittlungsakten, in denen Lücken klaffen – je genauer der Polizeieinsatz untersucht wird, desto mehr riecht es nach Korpsgeist. Nach zwei Monaten wurde klar: Nicht Ursache, sondern die SEK-Männer schossen zuerst. Dies legen Videos des Einsatzes nahe, dass illegalerweise inzwischen auch im Netz kursiert. Ein Beamter bestätigte mit seiner Aussage vor Gericht: „Herr Ursache war eine permanente Bedrohung“, schildert der Beamte, „ich musste mit meinem Schuss nicht warten, bis er mich penetriert.“ Zuvor hatten beide vier lange Minuten geredet, nicht geschossen. Der Ermittlungsführer M. gab zu, dass seine Aufklärungsbemühungen unter dem Druck standen, alles besonders korrekt abzuwickeln, „weil es hier auch die politische Schiene gab“.
Dies gelang offenkundig nicht. Der medizinische Gutachter hat die Verbände des schwerverletzten Ursache nur von außen betrachtet. Der Ballistiker kann nicht sagen, aus welcher Richtung eine Kugel einen Arm durchschlagen hat, weil eine „Geschehensrekonstruktion nicht meine Aufgabe war“. Testschüsse gab es nicht, weil sie nicht angefordert wurden. Und der Schmauchspurenspezialist fand dort, wo nach der Anklageschrift eine Kugel am Helm eines Beamten abgeprallt sein soll, weder Schmauch- noch Bleireste. Augenzeugen wurden falsch geladen, Grundstücke durchsucht, die nicht hätten durchsucht werden dürfen, auf diesem Menschen in Gewahrsam genommen, ohne den Grund zu erfahren (ausführlich bei MZ-Web).
Wenn etwas zur Radikalisierung des „Reichsbürger“-Milieus beiträgt, dann staatliches Fehlverhalten wie dieses. Durch unüberlegte und schlecht vorbereitete Polizeiarbeit werden die kühnsten Vorstellungen von staatsfeindlichen Verschwörungsideologen bestätigt, wenn im Prozess offensichtlich wird, dass die Sicherheitsbehörden hier aufgrund des Wunsch eines Ermittlungserfolges gegen „Reichsbürger“ jenseits von Gesetz und sogar realem Geschehen handeln und aussagen.
Video-Leak: PR für Verschwörungserzählungen gegen den Staat
Andererseits zeigen die kursierenden Videos auch die Angespanntheit der Situation und die Stimmung unter den Ursache-Anhänger_innen, die sich dem Polizeieinsatz entgegenstellen- oder vielmehr aggressiv auf die Beamten losgehen. Ein Anhänger versucht, SEK-Mitgliedern die Sicht und das Schussfeld auf Ursache zu versperren, der mit gezogener Waffe vor dem Haus steht. Der Anhänger ruft: „Knall mich doch ab!“ Ursaches Schwiegereltern, die nebenan wohnen, beschimpfen die Beamten: “Ihr seid Drecksäcke, wie es im Buche steht”, so Detlef H. Seine Frau Heidi meint: “Ihr Hackfressen haben wir alle drauf (sic!). Ihr hängt eines Tages!” und “Polizei? Ihr seid doch Arschlöcher!”
In einer Version eines YouTube-Kanals mit 1.600 Abonennt_innen, der Ursachses „Wappen“ als Profilbild trägt, gibt es auch eine kommentierende Version der Polizeivideos. Die Erzählung im Video ist hier deutlich: „Unliebsame Personen mundtot machen, koste was wolle“ (so ein Zwischentitel). Das Haupt-Einsatzvideo von 15 Minuten Länge haben bisher (12.01.2018, 17 Uhr) 149.000 Menschen angesehen. Wer kann sagen, wie viele davon „Reichsbürger“ sind, die sich nun umso mehr bestätigt fühlen, dem Staat und seinem Handeln feindlich gegenüber zu stehen?