
Die Bundestagswahl 2025 hat eine politische Realität bestätigt, die sich seit Jahren abzeichnet: Die AfD ist keine Randpartei mehr – sie ist im Osten Deutschlands zur dominierenden Kraft geworden. In Thüringen erzielte sie 38,6 Prozent, in Sachsen 37,3, in Mecklenburg-Vorpommern lag sie bei 35. Insgesamt gewann die Partei 45 von 48 ostdeutschen Wahlkreisen. Für diese hohen Wahlergebnisse im Osten gibt es historische und politische Gründe, aber auch der Westen ist vor solchen Ergebnissen nicht sicher …
Dennoch werfen diese Zahlen die Frage auf, wie weit die AfD noch steigen kann. Liegt die Grenze um die 20 Prozent, wie lange angenommen? Oder ist, wie in anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland ein stabiles rechtsautoritäres bis rechtsextremes Lager von 25 – 30 Prozent möglich?
Merz und die ausgebliebene „Politikwende“
Im Bundestagswahlkampf hatte Friedrich Merz eine politische Wende versprochen: Eine CDU, die konservative Wähler*innen zurückholen und sich deutlich von der AfD abgrenzen würde – ohne Themen und Sprache zu übernehmen.
Doch diese Linie ist spätestens kurz vor der Wahl diffus geworden. Statt einer echten strategischen Erneuerung erleben wir eine Taktik der Beliebigkeit: Mal Abgrenzung, mal Andeutungen zur strategischen Zusammenarbeit, häufig eine Migrationspolitik, die teilweise nicht von der AfD zu unterscheiden ist.
Wer der AfD ähnelt, stärkt sie
Wo sich demokratische Parteien im Ton und inhaltlich Rechtsextremen annähern, stärken sie nicht ihre eigene Position, sondern das Original. Die FPÖ in Österreich zeigt, wie dieses Spiel endet: als stärkste Partei, sogar mit der Regierungsbildung beauftragt – und die nur Dank kleinteiliger Streitigkeiten nicht den „Volkskanzler“ stellt. Die AfD hat längst verstanden, dass sie weniger durch Sacharbeit als durch eine Dauerprovokation in den Köpfen wirkt. Wenn die Union keine klare strategische Linie findet, könnte sie noch erheblich mehr Zustimmung in den Umfragen verlieren.
Ein Blick nach Europa – und nach Osten
In vielen europäischen Ländern haben sich rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien längst dauerhaft etabliert. Die FPÖ in Österreich liegt bei über 30 Prozent und ist auf dem Weg zurück in die Regierung. In Frankreich wurde der Rassemblement National bei der Europawahl stärkste Kraft. In Italien regiert Giorgia Meloni, in den Niederlanden liegt Geert Wilders’ PVV vorn. Auch in Schweden und Belgien sitzen Rechtspopulisten und Rechtsextreme in Regierungen oder üben starken Einfluss aus.
Auffällig ist: Die Erfolge der AfD in Ostdeutschland ähneln den Entwicklungen in anderen postsozialistischen Ländern wie Ungarn oder Polen. Auch dort haben sich autoritär-nationalistische Parteien wie Fidesz oder die – 2023 knapp abgewählte – PiS als dominante politische Kräfte etabliert.
Die gemeinsamen Themen reichen von strukturellen Problemen bis zu migrationsfeindlichen und nationalistischen Deutungskämpfen: wirtschaftliche Unsicherheit, ein Gefühl von Abgehängtsein, Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Enttäuschung über die Demokratieentwicklung nach der Wende – all das sind Nährböden für rechtspopulistische und rechtsextreme Erzählungen.
Während in Ostdeutschland die Transformation nach 1989 mit existenziellen Umbrüchen, Deindustrialisierung und Identitätsverlusten einherging, führte sie in Ländern wie Ungarn und Polen zu ähnlichen gesellschaftlichen Erfahrungen. Parteien wie Fidesz und PiS haben diese erfolgreich kanalisiert – mit nationalistischen, EU-kritischen und autoritären Botschaften wie die Einführung der Todesstrafe in Polen und die Erfindung der „illiberalen Demokratie“ in Ungarn. Die AfD setzt auf ein ähnliches Narrativ: Anti-Eliten-Rhetorik, völkische Identitätspolitik, autoritäre Ordnungsvorstellungen. Und sie trifft damit auf Resonanz – gerade dort, wo sich viele Menschen nicht repräsentiert fühlen.
Warum Deutschland (noch) anders ist
Doch warum ist die AfD bundesweit noch nicht auf dem Niveau der FPÖ in Österreich? Es gibt Unterschiede: Zum einen spielt die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland noch eine größere Rolle – das politische Bewusstsein ist daher sensibler, der öffentliche Umgang mit Rechtsextremismus bewusster.
Zum anderen wird die AfD vom Verfassungsschutz als „rechtsextremer Verdachtsfall“ eingestuft – ein Faktor, der, trotz aller Skepsis gegenüber der Behörde, ihre Anschlussfähigkeit bremst. Während die FPÖ mit der ÖVP mehrfach regierte, lehnen CDU, SPD, FDP, Linke und Grüne in Deutschland bisher eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ab. Hinzu kommt: Die Zivilgesellschaft ist auch in Deutschland widerständig. Hunderttausende gingen gegen die Zusammenarbeit mit der AfD vor den Bundestagswahlen 2025 auf die Straße.
Eine Demokratie im Stresstest
Aber all diese Faktoren sind keine Garantie. Sie können bröckeln – vor allem, wenn konservative und liberale Parteien wie CDU/CSU und FDP keine klare Haltung einnehmen. Die Normalisierung der AfD und ihrer Positionen schreitet voran – in Talkshows, in Kommunalparlamenten, in weiten Teilen der Bevölkerung. Wenn Teile der Union beginnen, eine Zusammenarbeit einzufordern, wie gerade im Harz geschehen, oder migrationsfeindliche Narrative übernehmen, ohne klare rote Linie, dann verändert sich das demokratische Parteiensystem langfristig – zugunsten autoritärer Kräfte.
Deutschland steht an einem Kipppunkt. Die AfD ist längst mehr als ein Protestphänomen. Sie ist politisch erfolgreich, strategisch lernfähig und gesellschaftlich verankert – vor allem im Osten. Ob sich daraus österreichische oder gar ungarische Verhältnisse entwickeln, hängt nicht nur von der AfD selbst ab, sondern von der Antwort der demokratischen Kräfte.
Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, ob die demokratische Brandmauer hält – oder ob sie von innen aufgeweicht wird. Entscheidend wird sein, ob die demokratische Mitte aufhört, sich über steigende Umfragewerte der AfD zu empören – und beginnt, strategisch und geschlossen auf eine Realität zu reagieren, in der 25 bis 30 Prozent AfD zur Normalität gehören.